In den Morgenstunden des 29. Juli ist die Waffenruhe an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze im Verwaltungsgebiet Gegharkunik von Armenien verletzt worden. Eine Verwundung erlitt ein Angehöriger der armenischen Streitkräfte. Durch Antworthandlungen wurde die Aktivität des Gegners unterdrückt. Zur Verringerung der Spannungen prüft Jerewan die Möglichkeit einer Stationierung russischer Grenztruppen an der ganzen Grenze zu Aserbaidschan. Washington hat die Konfliktparteien aufgerufen, alle Maßnahmen für eine Normalisierung der Lage zu ergreifen.
„Wir erinnern Baku und Jerewan an die Notwendigkeit, die Pflichten zur Feuereinstellung zu erfüllen“, heißt es in einer Erklärung des US-Außenministeriums. Das State Department rief auf, die Verhandlungen im Format der Minsker OSZE-Gruppe wiederaufzunehmen. Und das Repräsentantenhaus des US-Kongresses stimmte für eine Reduzierung der Militärhilfe für Aserbaidschan.
In der Änderung zum Gesetz über ausländische Hilfe für das Finanzjahr 2022, die durch den Kongressabgeordneten Frank Pallone (Demokratische Partei) vorgeschlagen wurde, wird betont, dass die US-Militärhilfe über eine Summe von mehr als 120 Millionen Dollar, die Aserbaidschan bereitgestellt wurde, dieses zur Vornahme einer ethnischen Säuberung in Bergkarabach und zu einer Okkupierung armenischer Gebiete veranlasst hätte.
Der Politologe und Abgeordnete des aserbaidschanischen Parlaments Rasim Musabekow (Musawat — Gleichheitspartei) ist der Auffassung, dass nichts Besonderes geschehen sei. „Hinsichtlich des Programms für militärische Hilfe, dass der USA-Kongress blockierte, sind Baku rund 1,5 Millionen Dollar im Jahr … für Reisen von Militärs, Seminare u. a. bereitgestellt worden. Lieferungen militärischer Ausrüstungen über 120 Millionen Dollar wurden über das Pentagon aus dessen Etat vorgenommen. Auf diese Mittel erstrecken sich nicht die verhängten Restriktionen, was in der Gesetzesänderung des Kongresses betont worden ist“, schreibt Musabekow auf Facebook.
Die Lage an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze hat nicht nur die Besorgnis der Vereinigten Staaten ausgelöst. Laut einer Mitteilung des Pressesekretärs des russischen Präsidenten Dmitrij Peskow sei die Situation bei einer operativen Beratung erörtert worden, die Präsident Wladimir Putin mit den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der Russischen Föderation durchgeführt hatte.
Ihre Besorgnis bekundete die UNO. Der Stellvertreter des offiziellen Sprechers des UN-Generalsekretärs Farhan Haq erklärte auf einem Briefing: „Obgleich auch die Vereinten Nationen nicht die eingehenden Meldungen überprüfen können, rufen wir beide Seiten zu Zurückhaltung und zum Verzicht auf die Handlungen, die zu einer Zunahme der Spannungen führen, aber auch die Probleme durch einen Dialog zu lösen, auf“.
Derweil haben neun gesellschaftliche Organisationen Armeniens, die durch westliche Institute finanziert werden, eine gemeinsame Erklärung angenommen, in der sie die Offiziellen des Landes aufrufen, sich an den UN-Sicherheitsrat zwecks Reaktion auf die „Verletzung der territorialen Integrität des Landes durch Aserbaidschan“ zu wenden. „Gleichzeitig rufen wir die Offiziellen Armeniens auf, sich an die OSZE zwecks Entsendung einer nichtmilitärischen, speziellen Monitoring-Mission nach Armenien für eine langfristige und objektive Untersuchung der Situation in den Grenzgebieten zu wenden, was die Sicherheit der Einwohner gewährleisten wird“, heißt es in der Erklärung.
Bisher ist unklar, ob Jerewan an die OSZE „telegrafieren“ wird, jedoch ist der amtierende Premierminister Nikol Paschinjan bereit, sich schon jetzt an die Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages (OKSV) zu wenden. Bei der am Donnerstag erfolgten Regierungssitzung betonte er, dass sich die Streitkräfte Aserbaidschans weiter widerrechtlich auf armenischem Boden befinden würden. Mehr noch, sie würden provokatorische Handlungen unternehmen, womit sie auch noch das System der OKSV diskreditieren würden. „Armenien, das ab September in der OKSV den Vorsitz führen wird, begreift die ganze Verantwortung … hinsichtlich eines Nichthineinziehens der Verbündeten in Kampfhandlungen“, sagte Paschinjan. Nach seinen Worten würde es für eine Ermittlung des realen Bildes des Geschehens Sinn machen, eine Monitoringmission der OKSV entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu stationieren. „Dies wird durch die rechtlichen Regularien der Organisation vorgesehen. Sollte es nicht möglich sein, eine derartige Mission im Format der OKSV zu realisieren, sind auch andere anerkannte Formate, darunter die Minsker OSZE-Gruppe akzeptabel“.
Die Schaffung von Beobachtungsmissionen – ob nun von der OKSV oder von der OSZE – ist jedoch mit einem bestimmten bürokratischen Aufwand verbunden. Die Situation an der Grenze diktiert scheinbar aber die Notwendigkeit schneller Handlungen. Daher hat Paschinjan bei der gleichen Regierungssitzung nicht zufällig aufgerufen, die Frage nach der Einrichtung von Stützpunkten russischer Grenzer entlang der gesamten Grenze zu Aserbaidschan zu behandeln. „Dies wird erlauben, die Arbeiten zur Delimitation und Demarkation ohne das Risiko von kriegerischen Auseinandersetzungen vorzunehmen“. Nach seinen Worten werde dieses Thema in der nächsten Zeit mit der russischen Seite erörtert werden.
Es ist offensichtlich, dass Jerewan vollkommen dazu bereit ist und die Sache nur einer Klärung der Formalitäten bedarf. Bereits am 27. Mai hatte die Regierung Armeniens beschlossen, der Grenzverwaltung des FSB der Russischen Föderation eine Reihe von Grundstücken im Verwaltungsgebiet Sjunik, das an Bergkarabach angrenzt, zur kostenlosen Nutzung zur Verfügung zu stellen.
„Aserbaidschan hat nicht auf den Appell reagiert, einen Verhandlungsprozess zu beginnen, während Armenien mehrfach die Bereitschaft dazu unterstrichen hat“, erklärte Paschinjan bei der Sitzung, wobei er daran erinnerte, dass man in Baku die inszenierten Gerichtsprozesse gegen armenische Kriegsgefangene fortsetze und sie zu langen Haftstrafen verurteilen würde. Er unterstrich, dass alle in der letzten Zeit Verurteilten nach dem 9. November (vergangenen Jahres) in den Verantwortungsbereichen der russischen Friedenstruppen gefangengenommen worden waren. „Wenn man dies der Propaganda gegenüberstellt, die in Aserbaidschan gegen die Friedenstruppen geführt wird, mit dem in einen Zusammenhang bring, dass Baku nach wie vor das Mandat für die Friedenstruppen nicht unterschrieben hat, so wird offensichtlich, dass (die aserbaidschanische Seite – „NG“) Handlungen gegen die Friedenstruppen verübt, das heißt gegen den Frieden und die Stabilität in Bergkarabach“, sagte der amtierende Regierungschef Armeniens.
Nach Aussagen Paschinjans kompromittiere die aserbaidschanische Seite gleichfalls die Frage nach der Eröffnung regionaler Kommunikationswege, indem sie den Begriff „Korridor“ verwende, während nicht in einer der trilateralen Erklärungen solch ein Begriff verwendet werde. Er selbst skizzierte einfach die Haltung bezüglich einer Deblockierung der Transportarterien: Armenien müsse eine Verbindung mit Russland, dem Iran und den Ländern Zentralasiens über das Territorium Aserbaidschans haben, das wiederum eine Verbindung mit Nachitschewan, dem Iran und Georgien via Armenien haben müsse. „Man muss Zollpunkte einrichten, deren Passieren auf der Grundlage internationaler Regeln im Rahmen der GUS erfolgen wird“, meint Paschinjan.
Der Politologe Armen Chanbabjan betonte bei der Kommentierung der Ereignisse der letzten Tage, dass die Zunahme der militärischen Aktivitäten die Meinung über eine Wiederaufnahme des Krieges ausgelöst hätte. „Dies fördern auch die Erklärungen von Präsident (Ilham) Alijew hinsichtlich der Unausweichlichkeit einer Rückkehr der Aserbaidschaner in „ihre“ Gebiete, als die er Sangesur, das Gebiet des Sewan-Sees und selbst Jerewan bezeichnet. Dabei nimmt die Intensität des Beschusses von aserbaidschanischer Seite aus zu. Es ist offensichtlich, dass Baku versucht, Jerewan zu zwingen, sich auf prinzipielle Zugeständnisse in den Fragen der Delimitation der Grenze einzulassen. Gleichzeitig besteht Aserbaidschan auf die Eröffnung eines Transportkorridors für eine direkte Verbindung mit der Autonomie Nachitschewan. Dabei ist vorgesehen, dass der Korridor ein exterritorialer sein kann“, sagte Chanbabjan der „NG“. Die armenischen Offiziellen seien nach seinen Worten nicht geneigt, sich auf Zugeständnisse einzulassen. Eine Delimitation der Grenze sei möglich, aber nur im Ergebnis einer akribischen Expertenarbeit. Dabei könne der Prozess nur nach einem Abzug der aserbaidschanischen Truppen von den besetzten Abschnitten auf dem Territorium Armeniens beginnen.
Nach Meinung des Politologen müsse die Deblockierung der Transportwege komplex geklärt werden. So wie Baku an einer Verbindung mit Nachitschewan via Armenien interessiert sei, so brauche auch Jerewan eine Verbindung zum Iran über die Autonomie Nachitschewan, aber auch einen Zugang zu Russland über das Bahnnetz Aserbaidschans. „Leider verbreiten bestimmte Kräfte in Armenien hartnäckig die Meinung, dass alle Vereinbarungen, die durch Jerewan, Baku und Moskau nach dem Krieg in Karabach unterzeichnet wurden, ausschließlich für die aserbaidschanische zum Vorteil gereichen würden. Es geht dabei nicht nur um die zahlenmäßig wenigen Anhänger einer westlichen Orientierung, sondern auch um jene Kräfte, die man üblicherweise als prorussische bezeichnet. Sie haben bei den jüngsten Parlamentswahlen eine Niederlage erlitten und träumen heute von einer Revanche, für deren Erreichen sie jegliche Mittel für geeignete halten“, sagte der „NG“ Armen Chanbabjan.