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Russische IT-Spezialisten schauen gen Westen


Bis zu 80 Prozent der russischen IT-Spezialisten planen, in den nächsten zwei, drei Jahren, den Arbeitsplatz zu wechseln. Wobei 80 Prozent der Mitarbeiter des digitalen Sektors im Homeoffice-Regime für ein Unternehmen arbeiten wollen, dass keine physische Präsenz in Russland hat. Und 60 Prozent sind auch zu einem Umzug in ein anderes Land bereit, zeigte eine Umfrage der internationalen Consultingfirma Boston Consulting Group (BCG). Droht damit Russland ein Mangel an IT-Spezialisten? Experten teilten der „NG“ mit, dass er bereits begonnen habe, und rieten an, den Spezialisten wirklich attraktive Bedingungen zu offerieren – ein Arbeiten nicht im Präsenzformat, ein flexibles Arbeitsregime, ein hohes Einkommen und Möglichkeiten für ein Karrierewachstum. Das Wichtigste sei, dass man nicht beginne, auf die Talente, die mit dem Westen Kontakte haben, mit „der Peitsche“ einzuwirken.

Rund 78 Prozent der Mitarbeiter des Digital-Sektors in Russland, die an der globalen Umfrage des Consultingunternehmens BCG teilgenommen hatten, planen, in zwei, drei Jahren den Job zu wechseln. Und 43 Prozent würden schon aktiv einen neuen Arbeitsplatz suchen.

Die Umfrage wurde gemeinsam mit einer globalen Allianz von Recruiting-Internetseiten unter beinahe 10.000 Befragten aus verschiedenen Ländern, die im digitalen Bereich tätig sind, durchgeführt. In der Russischen Föderation war zum Co-Organisator die Plattform www.headhunter,ru geworden. An der Untersuchung hatten über 800 russische Befragte teilgenommen.

Was gerade veranlasst die russischen IT-Spezialisten zur Suche nach einem neuen Job? Den Wunsch, bessere Möglichkeiten für eine Karriereentwicklung zu bekommen – darauf verwiesen 62 Prozent der Befragten. Andere populäre Gründe sind die negativen Perspektiven am aktuellen Arbeitsplatz (48 Prozent) und die Empfindung, dass man sie am derzeitigen Arbeitsplatz unterschätze (47 Prozent).

„Die meisten Mitarbeiter des digitalen Sektors in Russland sind für eine virtuelle Mobilität offen“, fanden die Forscher heraus. So wollen 80 Prozent der in Russland befragten IT-Spezialisten losgelöst vom Arbeitgeber, der keine physische Präsenz in Russland hat, arbeiten. Zur Top 3 der Länder für die Suche nach einem Job im Homeoffice-Regime gehörten für die russischen IT-Spezialisten die USA, Deutschland und Kanada.

Zum Vergleich: Im Durchschnitt streben weltweit 68 Prozent der Befragten an, für einen Arbeitgeber nicht aus ihrem Land online zu arbeiten.

Die russischen IT-Spezialisten demonstrieren gleichfalls eine große Bereitschaft, physisch ins Ausland für einen Job zu gehen. Dies teilten 60 Prozent der Befragten mit. In diesem Fall sieht die entsprechenden Top 3 der favorisierten Länder etwa genauso aus wie für die Suche nach einem Online-Job. Die Platzverteilung war aber eine andere – Deutschland, die USA und Kanada.

Zum Vergleich: Im Durchschnitt bekundeten weltweit die Bereitschaft, für einen Job in ein anderes Land umzuziehen, 55 Prozent der befragten IT-Spezialisten.

„Die digitalen Talente aus Russland ziehen es ein hybrides Arbeitsmodell vor, wollen ein flexibles Arbeitsregime haben“, betonte die Forscher. So plädierten etwa 93 Prozent der Befragten für ein vollkommenes oder teilweises Arbeiten im Homeoffice-Regime. 78 Prozent sind für ein vollkommen oder teilweise flexibles Arbeitsregime.

In der Liste der Vorlieben und Prioritäten bezüglich des Arbeitens steht bei den digitalen Begabungen in der Russischen Föderation eine finanzielle Kompensierung an der ersten Stelle. Konkret – das Arbeitseinkommen und Bonusse. Weltweit liegt im Durchschnitt an der ersten Stelle „eine gute Balance zwischen der Arbeit und dem Privatleben“. Für die russischen Spezialisten ist es aber auch wichtig, Möglichkeiten für eine Ausbildung und Aneignung neuer Fertigkeiten zu haben. Wichtig ist ebenfalls, dass die Arbeit eine interessante ist.

Droht Russland bei solchen Stimmungen der IT-Spezialisten ein Mangel an Experten für den digitalen Sektor? Die Angaben von Vertretern des Arbeitsmarktes demonstrieren, dass er bereits eingetreten ist. Derzeit übersteigt die Anzahl der auf der Internetseite von Headhunter offenen Stellen für IT-Spezialisten um 72 Prozent die Werte vom Herbst vergangenen Jahres, teilte in den Materialien der Untersuchung Natalia Danina, Direktorin des Departments für analytische Business-Lösungen von Headhunter, mit. Das gesamte Jahr 2021 wurde von einer explosionsartigen Zunahme der IT-Stellen. „Dabei besteht weiterhin ein akuter Mangel an IT-Personal. Die Anzahl der Bewerbungsunterlagen nimmt im Durchschnitt um fünf Prozent zu“.

„Russland wird schon seit langem mit Mangel an IT-Spezialisten konfrontiert. Dies war bereits vor einigen Jahren so“, sagte der „NG“ die Leiterin für Hitech-Praxis des Unternehmens ANCOR, Jelena Iwantschichina. „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird auf dem russischen Markt schon ein Mangel an IT-Spezialisten fixiert. Im Verlauf der letzten paar Jahre haben die Unternehmen aktiv Prozesse zur Automatisierung und Digitalisierung implementiert. Und die Pandemie und der Lockdown haben diese Prozesse noch mehr stimuliert“, bestätigte Jekaterina Patschkowskaja, Praxis-Konsultantin für IT & Telecoms in Sankt Petersburg des internationalen Recruiting-Unternehmens „Hays“.

Experten haben besonders unterstrichen: Interessante Projekte gibt es sowohl bei internationalen als auch russischen Unternehmen. Laut einer Präzisierung von Jelena Iwantschichina würden sich beispielsweise in der Russischen Föderation aktiv Technologien der künstlichen Intelligenz, des Internets of Things sowie viele Startups entwickeln. „Man kann also von keinerlei massenhaftem Exodus russischer Spezialisten zu ausländischen Arbeitgebern sprechen“, meint die Expertin.

„Als ein Argument zugunsten einer Arbeit in einheimischen Unternehmen dient der Faktor der Beschleunigung des Tempos der Digitalisierung und – als eine Folge – das Aufkommen einer großen Anzahl von großen und interessanten Projekten, bei denen es eine reale Möglichkeit für eine rasche Karriere gibt“, betonte Nadeschda Ferdman, Direktorin für Business-Entwicklung der Proto Group. „Anhand der Erfahrungen aus der Arbeit mit ausländischen Software-Entwicklern können wir sagen, dass im Ausland eine rasche Karriere praktisch unmöglich ist“.

Der Mangel an IT-Spezialisten hänge heutzutage nicht so sehr mit dem Abfluss zu ausländischen Unternehmen zusammen, als vielmehr mit dem hohen Entwicklungstempo der Digitalisierung im Land, pflichtete Julia Sanina, Direktorin für Personal und organisatorische Entwicklung des Internet-Service Rabota.ru, bei.

Obgleich sich die Arbeitgeber in der Russischen Föderation wirklich darüber Gedanken machen müssten, wie man perspektivreiche Spezialisten gewinnen und halten kann. „Die russischen Unternehmen müssen entweder auf dem Markt sein oder eigene Kader entwickeln. Die zweite Variante ist aber eine weitaus langsamere. Die Haupttrends des IT-Marktes, das sind ein moderner Stack von Technologien (eine Zusammenstellung von Instrumentendie beim Arbeiten an Projekten angewandt werden – „NG“), ein Arbeiten nicht im Präsenzformat und eine Anhebung der Vergütungen. Ein Ignorieren dieser Realitäten durch die einheimischen Unternehmen führt zu einem Mangel an IT-Kräften bei ihnen“, erläuterte Iwantschichina.

„Wir haben die Untersuchung durchgeführt, um herauszufinden, was für die IT-Spezialisten beim Reagieren auf eine offene Stelle wichtig ist. Zum bedeutsamsten Faktor wurde erwartungsgemäß die Höhe des Arbeitsverdienstes. Die Vergütung nannten 80 Prozent der IT-Spezialisten“, teilte Patschkowskaja mit. „Etwas mehr als die Hälfte – 54 Prozent – nennen Projekte, an denen zu arbeiten bevorsteht“. Weitere 37 Prozent halten das Arbeitsregime für einen relevanten Faktor, 34 Prozent – das Ansehen des Arbeitgebers und die Beurteilungen von Mitarbeitern. 32 Prozent halten die Möglichkeit für eine Karriereentwicklung für wichtig, fügte die Expertin hinzu.

Auf den Personalmangel weisen auch die Vertreter des digitalen Sektors selbst hin. „Die Nachfrage nach IT-Spezialisten übersteigt wirklich das Angebot. Der Personal-Mangel ist sowohl hinsichtlich neuer Richtungen wie Data Science und DevOps als auch hinsichtlich der durchaus „klassischen“, beispielsweise bei der Entwicklung selbst beim IT-Recruitment, zu spüren“, teilte der „NG“ der Leiter des Expertise-Zentrums für Personalmanagement im „Kaspersky-Labor“, Kirill Schirjajew, mit. Der Mangel könne sich aufgrund unterschiedlicher Ursachen in Abhängigkeit von der konkreten Richtung oder des Unternehmens ergeben. „Wenn man aber insgesamt über den Markt spricht, so hat sich hier heute eine interessante Situation ergeben. Während im vergangenen Jahr, während der Pandemie viele Unternehmen das Wachstum verlangsamten, unter anderem aus der Sicht des Einstellens von Mitarbeitern, so beobachten wir im Jahr 2021 eine spürbare Aktivierung auf dem Arbeitsmarkt. Derzeit brauchen buchstäblich alle IT-Spezialisten, nicht nur die Technologie-Unternehmen“, sagt Schirjajew. Dabei würden, so der Experte, heute die russischen Unternehmen wirklich um Talente nicht nur mit anderen Unternehmen auf dem lokalen Markt, sondern auch mit größten ausländischen Giganten und kleinen Startups konkurrieren. Und, wie Schirjajew erläuterte: „Wenn ein Arbeitgeber gute IT-Spezialisten gewinnen will, so darf sein ganzheitliches Angebot aus der Sicht der Aufgaben, der Perspektiven, des Lohns und der Kompensationen nicht unter dem Niveau der ausländischen Unternehmen, die mit ihm um die Talente konkurrieren, liegen“.

„Der Branche mangelt es heute vor allem an Software-Entwicklern – sowohl an qualifizierten mit seltenen Kompetenzen als auch an durchschnittlichen Codierern. Einen Entwickler mit Erfahrungen aus der Arbeit auf einer Plattform für ein Arbeiten auf einer anderen umzuschulen, ist nicht so schwer, wie jenen zu finden, den man umschulen muss“, erläuterte der „NG“ Denis Kuwikow, Direktor des regionalen Engineering-Zentrums SafeNet der Nationalen technologischen Initiative. Nach seiner Meinung sei das Problem mit irgendeiner einzigen Handlung nicht zu lösen, zum Beispiel durch eine Erhöhung der Quote der kostenlosen Studienplätze für IT-Studenten, obgleich dies bereits seine Wirkung erzielte. „Man muss das Niveau des Informatik-Unterrichts in den Schulen anheben sowie das Salär für die Schullehrer und Lehrkräfte in den Hochschulen erhöhen. Daneben muss der Staat Bedingungen schaffen, die das private Business stimulieren, Zeit ihrer Software-Entwickler für eine Weiterbildung von Hochschullehrern und für eine Umschulung von Ingenieuren aus verschiedenen Tätigkeitsbereichen einzusetzen, um ihnen moderne Programmierfertigkeiten zu vermitteln“, zählte der Experte auf.

„Eine Ausreise von insgesamt 10.000 bis 15.000 Programmierern schafft die Gefahr eines Verlusts der Möglichkeit für Russland, zu einem der aktiven Akteure auf den neuen globalen Märkten zu werden“, meint Kuwikow. Daher sei es nach seinen Worten wichtig, ein günstiges normatives und rechtliches Umfeld für die Realisierung eines globalen IT-Business von Russland aus zu schaffen, womit die Entwicklung und Implementierung von Technologien der neuen technologischen Denkweise gefördert und erlaubt werde.

Derweil habe sich, wie der Experte präzisierte, vor dem Hintergrund der Pandemie innerhalb eines Jahres der gesamte Personalbestand an Software-Entwicklern in der Russischen Föderation bereits um die Rekordzahl von 12 Prozent vergrößert und rund 200.000 Menschen erreicht.

Für eine nahtlose digitale Transformation der russischen Wirtschaft seien erhebliche Personalressourcen erforderlich. Dabei würden sich, wie der Generaldirektor der DIS Group Pawel Lichnizkij erläuterte, die Technologien sehr schnell entwickeln. Das Bildungssysteme komme aber nicht hinterher, sich an diese anzupassen. Außerdem würden jetzt mehrere Positionen das Vorhandensein von Kompetenzen aus angrenzenden Bereichen voraussetzen. 2So muss ein Data Scientist vor allem über einen guten mathematischen Apparat verfügen und programmieren können. Auch werden von ihm immer häufiger gute Kenntnisse des Business gefordert, und manchmal auch Fertigkeiten eines Daten-Ingenieurs“, führte der Experte als Beispiel an. „Bisher bringt man dies wenig bei“.

„Die Zukunft der Personalausbildung für die digitale Transformation gehört einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit der Wirtschaft und der Hochschulen sowohl bei der Schaffung von Labors auf der Basis von Universitäten als auch bei der gemeinsamen Durchführung kostenloser Lehrgänge, Praktika, Vorlesungen und anderer Veranstaltungen“, meint Lichnizkij.

Wie groß sind aber die Chancen der russischen IT-Spezialisten, den ausländischen Markt zu erobern? „Die Chancen, den gewünschten Job zu bekommen, sind große. Ausländische Unternehmen versuchen oft selbst, russische IT-Spezialisten zu gewinnen, indem sie Willkommensbonusse von mehreren tausend Dollar, eine Aufenthaltsgenehmigung im neuen Land und hohe Bezüge anbieten“, sagt Julia Sanina. Jedoch wollen nicht alle Spezialisten das Heimatland verlassen. Und einige hindert das unzureichende Niveau der Fremdsprachenkenntnisse.

„Nicht alle Kandidaten beherrschen Englisch auf einem minimalen notwendigen Niveau“, stimmt Patschkowskaja zu. Ja, und der Wettbewerb um einen ausländischen Job im Homeoffice-Regime sei oft schwieriger, wenn ein Arbeitgeber nicht zielgerichtet gerade nach russischen Spezialisten Ausschau halte.

Wie der Geschäftsführer von „Avito Arbeit“, Artjom Kumpel, meint, würden sich der Unterschied der Kulturen, die Sprachbarriere, eine mangelnde Sozialisierung am neuen Ort und die Angst vor einem Scheitern auswirken. Diese Faktoren würden einen großen Prozentsatz von Menschen in ihrem Streben, einen neuen Arbeitsplatz in einem anderen Land zu finden, aufhalten. „Entsprechend dem Standard-Trichter für Einstellungen (Personalmarketing-Trichter) schafft es ein geringer Teil der Interessenten bis zum Ziel“, präzisierte der Experte.

„Übrigens, unter denjenigen, die sich entschlossen hatten und ins Ausland gegangen sind, registrieren wir einen hohen Prozentsatz an Rückkehrern“, fügte Sanina hinzu. „Dies sind jene, die sich nicht an das neue Leben, an die neue Mentalität und Unternehmenskultur gewöhnen konnten“.