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Russische Rentner leben von der Hand in den Mund


Die Finanzstrategien der Bürger Russlands unterscheiden sich spürbar in Abhängigkeit von der Altersgruppe. Junge Menschen ziehen es vor, auf die eigenen Kräfte zu setzen, ihr Leben zu planen und eine Familie zu gründen. Dabei haben sie noch nicht ausreichend Möglichkeiten für Ersparnisse. Über das Anlegen langfristiger Ersparnisse machen sich Russlands Bürger erstmals erst nach dem 40. Lebensjahr Gedanken. Und sie vergessen erneut die langfristigen Finanzpläne bereits nach dem Erreichen des Rentenalters.

Die Haltung von Russlands Bürgern zu Spareinlagen verändert sich radikal im Verlauf des Lebens. Bis zum 40. Lebensjahr sind die Einwohner der Russischen Föderation vor allem mit der Gründung einer Familie, mit dem Karriere-Wachstum oder der Ausgestaltung des eigenen Wohnraums beschäftigt. Dabei schicken sie sich nicht an, laufende Ausgaben im Interesse künftiger Ersparnisse auf die hohe Kante zu legen. Über die Bewahrung des Verdienten beginnen unsere Landsleute, sich erst mit dem Erreichen des fünften Lebensjahrzehnts Gedanken zu machen.

Für Russlands Bürger ist ein Glaube an sich selbst charakteristisch, an die eigene Kräfte sowie an die eigene Unabhängigkeit und Selbständigkeit. In der Altersgruppe bis 25 Jahre setzen fast 70 Prozent der Bürger Russlands nur auf die eigenen Kräfte, informierte das staatliche Allrussische Meinungsforschungszentrum (VTsIOM). In eben dieser Altersgruppe ist auch der Anteil derjenigen am größten, die detailliert ihre Zukunft planen. Solche jungen Bürger Russlands machen 73 Prozent aus. Wobei etwa 29 Prozent von ihnen ihr Leben gleich für viele Jahre im Voraus planen, wobei sie unter anderem berufliche Pläne schmieden. So folgt aus einer gemeinsamen Befragung von „SberLebensversicherung“ (ein Versicherungsunternehmen der größten Bank Russlands, der Sberbank – Anmerkung der Redaktion) und dem Internetportal www.rabota.ru, dass Menschen im Alter von 18 bis 29 Jahren am stärksten auf eine Karriere aus sind. Über das Bestreben, eine erfolgreiche Karriere zu gestalten, sprechen hier 41 Prozent. Neben der Karriere ist die Gründung einer Familie eine Hauptpriorität für die jungen Befragten. Diese Antwort wählten 64 Prozent der Befragten im Alter von 30 bis 40 Jahren und 57 Prozent im Alter von 18 bis 29 Jahren aus.

Eine völlig andere Strategie verfolgen die betagten Bürger Russlands. So leben die russischen Pensionäre (die Altersgruppe ab 60 Jahre und älter) faktisch von der Hand in den Mund. Mehr als die Hälfte der in dieser Altersgruppe Befragten haben keinerlei langfristige Pläne. Und nur jeder zehnte Rentner erklärte, dass er sein Leben für einige Jahre im Voraus planen würde, ergibt sich aus der VTsIOM-Umfrage. Dabei verlagern sich gerade nach Erreichen des 50. Lebensjahres die Lebensprioritäten immer mehr in Richtung Erholung, folgt aus den Ergebnissen der Umfrage von www.rabota.ru. So erklärte jeder dritte Befragte in dieser Gruppe, dass für ihn auch Reisen bedeutsam werden würden.

Die verschiedenen Altersgruppen haben auch eine völlig unterschiedliche Auffassung darüber, was für eine Summe man als Ersparnisse bezeichnen kann. Zum Beispiel hat sich für jeden vierten Befragten in der Altersgruppe bis zu 24 Jahren jegliche mögliche Summe als Ersparnis erwiesen. Und für 28 Prozent der Befragten – eine Summe ab 10.000 Rubel, zeigte eine jüngste Befragung des Analytischen Zentrums NAFI. Dabei bezeichnet jeder dritte Bürger Russlands im Alter ab 55 Jahren und älter Spareinlagen ab mindestens 300.000 Rubel als Ersparnisse. In der Gruppe der 25- bis 34jährigen sind für die Mehrheit Ersparnisse 50.000 und mehr Rubel, und in der Gruppe der 35- bis 44jährigen – bereits ab 100.000 Rubel.

Gerade in den höheren Altersgruppen ist der Anteil derjenigen am größten, die sich durch ihre Ersparnisse im Falle eines plötzlichen Verlustes aller Einkommensquellen über Wasser halten können, zeigen Umfrageergebnisse des Internetportals Superjob. Jeder vierte in der Altersgruppe ab 45 Jahren und älter würde sich mindestens einige Monate über Wasser halten, und jeder siebente – bis zu einem Jahr. „Die Menschen im Alter von 40 bis 50 Jahren interessieren sich am aktivsten für die Nutzung von Sparkonten als ein Instrument zur Erhöhung der persönlichen Einkünfte“, konstatierte man in der staatlichen Bank VTB. Gerade das finanzielle Wohlergehen ist eine Hauptpriorität im Leben der Menschen im Alter von 40 bis 49 Jahren, folgte auch aus den Ergebnissen der gemeinsamen Umfrage von „SberLebensversicherung“ und dem Internetportal www.rabota.ru. Dies erklärten über 60 Prozent der in dieser Altersgruppe Befragten.

Experten sehen in solchen Prioritäten keine besonderen Widersprüche. „In der Tat, heute orientieren sich die jungen Menschen in größerem Maße auf die Gründung einer Familie, ihre ständigen Ausgaben und die Notwendigkeit des Erwerbs von Wohnraum und nicht darauf, um einen finanziellen Wohlstand zu gewährleisten. Bereits bis zum Alter von 40 Jahren kann man davon sprechen, dass Aktiva erworben worden sind, möglicherweise ist die Hypothek getilgt worden, und es ist Zeit da, um für eine komfortable Renten zu sparen, da auch der Status bereits erlaubt, mehr zu verdienen. Mit einem Alter von über 50 Jahren akkumuliert der Mensch gerade ein gewisses Kapital und ist bereit, zum Vergnügen zu leben“, meint Dozentin Maria Jermilowa von der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität.

Ihr pflichtet der Finanzexperte Michail Spektor bei. „In Russland besteht ein extrem geringes Niveau an finanziellem Wissen. Und die sowjetische Vergangenheit hat ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Im Ergebnis dessen sind die meisten Bürger Russlands in der Jugend mit der Gründung einer Familie und nicht mit der Schaffung eines finanziellen Fundaments für die Zukunft beschäftigt. Erst nach 40 fangen die Menschen an, die Lebenserfahrungen zu analysieren und zu begreifen, dass man das Geld hätte vermehren müssen. Leider haben aber bis zu diesem Alter die meisten nicht einmal Ersparnisse im Umfang eines Monatseinkommens. Im Ergebnis dessen kommt gerade in diesem Alter bei vielen die Neigung zum Sparen auf, und sie beginnen, sich finanziell klüger zu verhalten“, sagt er.

„Nach 40 Jahren ein finanzielles Wohlergehen, dies ist solch ein Alter der Reife, wenn die Prioritäten und die Herangehensweise an das Leben bereits klar sind. Und die Menschen beginnen daher, einfach über ein „Kissen“ für das Alter zu denken und eine Bilanz der Karriere zu ziehen. Mit 40 Jahren besteht ebenfalls die Möglichkeit, einen ernsthaften Schritt zu gehen“, fügt Pawel Sigal, 1. Vizepräsident der Mittelstandsvereinigung „Stütze Russlands“, hinzu.

Bei den Experten löst die Schlussfolgerung Unverständnis aus, dass unter Russlands Bürgern nach 50 die Neigung zum Reisen groß sei. „Es ist nicht sehr klar, von woher bei den Menschen über 50 auf einmal „Reisen“ zu den Prioritäten gehören, da gerade in unserem Land historisch auf den Menschen über 50 sehr oft die hauptsächliche familiäre und finanzielle Last ruht“, konstatiert Anna Gondusowa, Direktorin für die Kundenarbeit des Investitionsunternehmens „Alfa-Kapital“.

Es dürfe keine Verwunderung auslösen, dass „Reisen“ in der Gruppe bis 50 dominieren. Dies sei gerade jene Gruppe, die zusammen mit der Marktwirtschaft Russlands aufgewachsen ist, hält der Politologe Alexander Chasaridi entgegen. „Die Vertreter der Gruppe von 40 bis 50 Jahren haben in ihrer Mehrheit die Basisbedürfnisse befriedigt (sie kauften eine Wohnung, ein Auto und haben Kinder erzogen). Und jetzt möchten sie sich die Welt anschauen und sich mit einer Selbstentwicklung befassen, soweit dies ihre aktuellen Einkünfte zu tun erlauben“, nimmt er an.

Die am meisten zu Ersparnissen neigenden Bürger Russlands würden nur auf sich setzen, meint Wladimir Tschernow, Analytiker des Investitionsunternehmens Freedom Finance Global. „Die jungen Menschen sind auch zu Ersparnissen geneigt. Sie haben einfach weniger solcher Möglichkeiten angesichts der größeren Ausgaben-Posten, zum Beispiel für minderjährige Kinder“, urteilt er.