Die russische Industrie verspürt einen deutlichen Mangel an Arbeitskräften, und der Mangel an Spezialisten nimmt zu. Zu solch einem Fazit gelangen Experten aus dem Zentrum für Konjunktur-Forschungen der in Moskau ansässigen Hochschule für Wirtschaftswissenschaften. Ungeachtet dessen, dass viele Unternehmen Pläne für eine Personalaufstockung haben, gelingt es bei Weitem nicht allen, sie umzusetzen. In der ersten Hälfte dieses Jahres haben die Industrieunternehmen lediglich 60 Prozent ihrer offenen Stellen besetzt. Im verarbeitenden Sektor vermochten die Unternehmen nur 20 Prozent der ausgeschriebenen Ausschreibungen mit Arbeitskräften besetzen.
Wie in der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften mitgeteilt wird, würden die Triebkräfte für die die Nachfrage nach Arbeitskräften in den nächsten Monaten die Industrie, der Einzelhandel und die Dienstleistungsbereiche bleiben. Die Absichten der Führungskräfte der ausgewiesenen Unternehmen und Organisationen befinden sich auf einem Spitzenwert des gewünschten Wachstums der Belegschaftszahl.
Ihre Schlussfolgerungen über die Probleme des Personalmangels begründen die Wirtschaftsexperten mit einer Analyse von Konjunkturbefragungen von Spitzenvertretern von mehr als 20.000 Organisationen unterschiedlicher Arten der Wirtschaftstätigkeit (von Industrie-, Bau- und Einzelhandelsunternehmen sowie des Dienstleistungssektors), die durch das russische Statistikamt Rosstat vorgenommen werden.
Betont wird, dass im II. Quartal dieses Jahres die Pläne für eine Personalerweiterung praktisch hinsichtlich aller Branchen der verarbeitenden Industrie beibehalten wurden. Innerhalb eines Jahres hat die Nachfrage nach Beschäftigten in den Betrieben zur Herstellung von Tabakwaren, elektrischen Anlagen, Transportmitteln, Anhängern und Sattelschleppern sowie anderer Ausrüstungen wesentlich zugenommen. Gleiches gilt für die Betriebe zur Herstellung von Papier und Papiererzeugnissen, Erdölprodukten, Computern sowie elektronischer und optischer Erzeugnisse.
Ein Autor der Studie, die stellvertretende Direktorin des Zentrums für Konjunktur-Forschungen der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, Inna Lola, betont, dass eine Reihe von Branchen der verarbeitenden Industrie beabsichtigen würden, die Einstellung von Arbeitskräften auch in den nächsten drei Monaten zu erweitern. In größerem Maße berichten über solche Absichten Unternehmen zur Herstellung von Elektroanlagen und -ausrüstungen, von Transportmitteln und Anlagen, aber auch der Metallurgie. Der Bausektor nimmt nach der Industrie den 2. Rang hinsichtlich des Optimismus ein, betonte die Expertin. Zum Vergleich: Im Jahr vor der COVID-Pandemie, im Jahr 2019, war in der Branche keine Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften zu beobachten. Der Einzelhandel signalisiert nach Angaben der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften gleichfalls Pläne für eine Personalaufstockung.
Doch ungeachtet aller Pläne der Unternehmen gelingt es meistens nicht, diese zu realisieren. Die Wirtschaftswissenschaftler konstatieren, dass es seit Jahresbeginn den meisten Unternehmen gelungen sei, ihre Pläne zur Personalaufstockung zu nicht mehr als 60 Prozent zu verwirklichen. Im Juli dieses Jahres hat sich die Situation noch verschlechtert. Die Einstellungspläne setzten lediglich 20 Prozent der Unternehmen der verarbeitenden Industrie um. Das heißt, wenn die Unternehmen planten, die Belegschaft um 100 Personen zu erweitern, so haben sie faktisch nur 20 neue Mitarbeiter eingestellt. In den Betrieben der Förder-Industrie (Bergbau) vermochten die Unternehmen ihrerseits nur 30 Prozent der erforderlichen Arbeitskräfte einzustellen. Die Forscher unterstreichen: Solch eine Nichtübereinstimmung von Einstellungsplänen und deren faktischen Umsetzung belege das Problem zum Erreichen der erwarteten Personalerweiterung sowohl unter den Bergbau- als auch den verarbeitenden Unternehmen.
Am besten ist es in den Unternehmen zur Förderung von Rohöl und Erdgas um die Personalfragen bestellt. Hier haben es die Unternehmen vermocht, die Hälfte des Bedarfs an Fachkräften abzudecken. Eine ähnliche Situation hat sich in den Unternehmen für die Förderung von Metallerzen ergeben. Hier konnten die Unternehmen ihre Pläne zur Personalaufstockung zu 44 Prozent umsetzen. Im verarbeitenden Sektor fühlen sich heute die Metallurgie-Unternehmen am besten, ebenso die Betriebe zur Herstellung von Erdölprodukten, Gummi-Erzeugnissen und Erzeugnissen aus Plast. In all diesen Sektoren vermochten die Firmen ihre Anforderungen zur Erweiterung des Personalbestands um mehr als 50 Prozent realisieren.
Zur gleichen Zeit sei die Situation in den mittleren und Hochtechnologie-Branchen hinsichtlich der Einstellung von Personal angespannter, betonte Inna Lola. Die Unternehmen zur Herstellung von Elektroanlagen konnten nur ein Viertel der offenen Stellen im Juli besetzen. Nach Meinung von Inna Lola verweise dies gleichfalls indirekt auf die aktuellen Beschäftigungsprobleme in dieser Branche. Ein Outsider hinsichtlich des Grades der Realisierung der Erwartungen bezüglich des Personals waren im Juli die Betriebe zur Fertigung von Maschinen sowie Anlagen und Ausrüstungen. Sie konnten nur ein Zehntel der ausgeschriebenen offenen Arbeitsstellen besetzen.
Dabei vermochten in solchen Sektoren wie die Herstellung von Möbeln, der Holzverarbeitung, der Instandsetzung und Montage von Anlagen und Ausrüstungen, die Herstellung von Nahrungsmitteln, die Fertigung von Straßenfahrzeugen, Anhängern und Sattelschleppern die Unternehmen überhaupt nicht ihre Einstellungspläne umsetzen, das heißt: Sie vermochten überhaupt keine Arbeitskräfte einzustellen.
Laut Berechnungen der Wirtschaftswissenschaftler aus der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften demonstrieren praktisch alle Unterbereiche der verarbeitenden Industrie und der Unternehmen, die sich auf die Förderung von Bodenschätzen spezialisiert haben, im Verlauf des ersten Halbjahres nach ihren Worten eine „große“ und „kritische“ Anfälligkeit bezüglich des Vorhandenseins hochqualifizierter Arbeitnehmer. Sie betonen, dass der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in der Industrie weiter zunehmen würde, wobei dieser Prozess im März dieses Jahres einsetzte.
Die Forscher gelangen gleichfalls zu dem Fazit, dass die maximale Anfälligkeit vor allem mittlere und hochtechnologische Produktionsstätten an den Tag legen würden. „Ein kritischer Versorgungsgrad mit hochqualifizierten Spezialisten wurde bei den Herstellern von Straßenfahrzeugen, Anhängern und Sattelschleppern, anderen Transportmitteln sowie Anlagen und Ausrüstungen, elektrischen Anlagen, aber auch bei Herstellern von Computern, elektronischen und optischen Erzeugnissen ermittelt“, berichtete Inna Lola. Eine kritische Anfälligkeit wurde gleichfalls im zweiten Quartal dieses Jahres bei den Herstellern von Koks und Erdölprodukten, Tabakerzeugnissen und Getränken beobachtet, zählt sie auf.
Das zweite Jahr in Folge leidet das Land unter einem wahren Personalmangel, sagt Dmitrij Porotschkin, Ombudsmann für Fragen der Einhaltung der Rechte von Unternehmern und Generaldirektor des Arbeitsschutzzentrums „NSS Consult“. „In einer Reihe von Wirtschaftszweigen besteht ein totaler Mangel an qualifizierten Spezialisten. Besonders, wenn dies ein Arbeitnehmer mit einer sehr begrenzten Spezialisierung ist. Das Auftreten des Personalmangel haben viele Faktoren beeinflusst – die Sanktionen, die Mobilmachung, die Ausreise von Spezialisten ins Ausland, das berufliche Altern der Beschäftigten“, zählt er auf.
Porotschkin bestätigt, dass es für die Unternehmen heute schwierig sei, Mitarbeiter einzustellen. Dennoch sei es nach seinen Worten bisher verfrüht, von einer starken Verschlimmerung des Personalmangels als eine totale Erscheinung zu sprechen. „Ja, mehrere Wirtschaftsbereiche leiden bereits unter einem Personalmangel, solche wie der Maschinenbau, das Bauwesen, die Industrieproduktion usw. Dennoch hält sich vorerst eine mittlere Parität hinsichtlich des Arbeitsmarkts in einem relativen Normbereich“, meint er.
Der Generaldirektor der Firma „Engineering+“, Pawel Jewdokimow, pflichtet dem bei, dass es vielen Branchen an Fachleuten mangele. Er nimmt an, dass der Mangel auch durch geringe Löhne und Gehälter ausgelöst worden sei. „Es gibt in Russland Regionen, wo das Kaderproblem besonders akut steht, wo es praktisch in jeder Branche einen Mangel gibt. In einigen Wirtschaftssektoren kann man den Personalmangel für einen „katastrophalen“ halten. Der Mangel an Arbeitskräften ist gleichfalls ein Hemmfaktor für das weitere Wachstum unserer Wirtschaft“, unterstreicht Ruslan Nigmatulin, Generaldirektor des Unternehmens „Dalini“.
Einen Personalmangel gebe es derzeit in vielen Branchen, und er nehme nur zu, da das Angebot nicht zunehme und es keine Reserven gebe, fuhr Dozentin Ludmilla Iwanowa-Schwez von der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität fort. „Natürlich konnte keiner voraussagen, dass aufgrund der Sanktionen und der Umorientierung der Wirtschaft der Bedarf in der verarbeitenden Industrie, im Maschinenbau drastisch ansteigen wird. Einen Mangel hatte es auch bis dahin gegeben, er war aber kein kritischer. Und die meisten Unternehmen hatten keine Personalstrategie, nahmen keine Berufsorientierung vor, keine Schulung und zielgerichtete Einstellung. Unzureichend wurde mit den Ausbildungseinrichtungen zusammengearbeitet. Es macht auch Sinn, dem die keinen Wettbewerb standhaltenden Arbeitsplätze sowie geringen Löhne und Gehälter hinzuzufügen“, zählte die Expertin die Probleme auf. Sie ist der Annahme, dass eine durchdachte Personalpolitik den Mangel reduzieren, ihn aber nicht liquidieren könne. „In Russland sind nicht so viele Arbeitskräfte geblieben“, resümiert sie.
Das Bestehen eines akuten Personalmangels in der russischen Wirtschaft sei bereits vor Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine fixiert worden. Und in den letzten anderthalb Jahren habe sich die Situation nur zugespitzt, konstatiert Artjom Schachurin, Experte der Investitionsfirma „IVA Partners“. „Ausgelöst wurde dies durch eine ganze Reihe von Ursachen. Ein Teil der Bevölkerung ist durch die Teilnahme an der militärischen Sonderoperation auf der Basis der Teil-Mobilmachung oder aufgrund abgeschlossener Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium aus dem Wirtschaftsleben herausgefallen. Mehrere hunderttausende Menschen haben das Land verlassen. Zu einer gewissen Zeit wurde gleichfalls ein Rückgang des Zuflusses von Arbeitsmigranten fixiert. Obgleich letztere in der Regel gering qualifizierte Arbeitskräfte darstellen. Und sie konnten ja doch nicht den Mangel auf jenen Positionen, in denen er am akutesten ist, decken“.