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Russland braucht eine titan(ische) Importsubstitution


Das aus Russland gelieferte Titan, das im Flugzeugbau sehr gefragt ist, ist bisher nicht in die Sanktionspakete der Europäischen Union aufgenommen worden. Die EU bereitet aber eine neue Erweiterung der Sanktionen vor. Vor diesem Hintergrund hat der europäische Konzern AIRBUS beschlossen sich abzusichern und aufgerufen, kein Embargo zu verhängen. Denn ein endgültiger Verzicht auf russisches Titan wird die Branche schmerzhaft treffen. Derweil muss Russland, um seine Titan-Trumpfkarte zu verstärken, operativ sein Problem lösen – mit der Entwicklung einer eigenen Rohstoffbasis. Wie sich aus Mitteilungen des Ministeriums für Naturressourcen, des Rechnungshofs und stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates Dmitrij Medwedjew ergibt, ist der Rohstoff, aus dem reines Titan gewonnen wird, in Russland „praktisch vollkommen“ importierter. Und er kam vor allem aus der Ukraine. Und dies ungeachtet dessen, dass auf die Russische Föderation 15 Prozent der weltweiten Titan-Vorräte entfallen. Und auf die Ukraine lediglich drei Prozent.

Der europäische Flugzeugbauer AIRBUS beobachtet, wie sich herausstellte, mit Furcht die Verstärkung des Sanktionsdrucks auf Russland. So kann man zumindest die Erklärung von Konzernchef Guillaume Faury verstehen, die die Nachrichtenagentur Bloomberg verbreitete und russische Agenturen zitieren.

„Wir denken nicht, dass Sanktionen gegen den Import aus der Russischen Föderation angebracht sein werden. Dies wird auf Russland einen geringen Einfluss ausüben und wird größere Konsequenzen für die übrigen Länder und die Branche haben“, sagte er. Nach seiner Präzisierung habe man bereits seit vielen Jahren die Lagerhaltung erweitert, „damit wir, falls nötig, die Zeit überbrücken können, bis wir andere (Titan-) Bezugsquellen nutzen können“.

Zuvor hatte die Agentur Bloomberg bereits gemeldet, dass AIRBUS begonnen habe, nach alternativen Quellen für den Erhalt von Titan für den Fall einer Einstellung der Lieferungen aus Russland zu suchen. Der Leiter des AIRBUS-Europavertriebs Wouter Van Wersch hatte erläutert, dass etwa die Hälfte der gesamten Titan-Mengen der Konzern gerade aus der Russischen Föderation erhalte.

Die Europäische Union arbeitet bereits, wie man aus einer Erklärung des litauischen Außenministers Gabrielius Landsbergis schlussfolgern kann, an einem sechsten Paket antirussischer Sanktionen. Und bis in die jüngste Vergangenheit waren keine Restriktionen gegen russische Titan-Lieferungen durch die Europäische Union verhängt worden. Obgleich die Rhetorik einzelner westlicher Hersteller bereits Anlass zu Annahme gab, dass solche Einschränkungen durchaus möglich sind.

So waren Ende Februar Meldungen aufgetaucht, dass die britische Holding Rolls-Royce, die Titan bei der Fertigung von Triebwerken einsetzt, zeitweilig aufhört, dieses Leichtmetall in Russland zu kaufen. Und Anfang März ist bekannt geworden, dass der US-amerikanische Flugzeugbauer Boeing den Erwerb russischen Titans gestoppt hat. Dies hatte die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf den Pressedienst des Konzerns gemeldet.

Ein endgültiger Verzicht auf Lieferungen aus Russland kann dem internationalen Flugzeugbau einen schmerzhaften Schlag versetzen.

Die Russische Föderation verfügt über eine „Reihe konkreter Vorteile bei der Herstellung von Titan und Produkten seiner Verarbeitung – von Halbfabrikaten -, die nicht nur durch russische, sondern auch durch internationale Hersteller von hochtechnologischen Luft- und Raumfahrt- sowie Maschinenbauerzeugnissen sowie durch Unternehmen der medizinischen Industrie verwendet werden“, teilte man der „NG“ im Pressedienst des Ministeriums für Industrie und Handel mit. Und in dem unterstrich man besonders, dass „Russlands Industrie- und Handelsministerium bei der Bestimmung von Antwortmaßnahmen, die den Export unserer Industrieerzeugnisse einschränken, sich darauf orientiert, negative Wirkungen für die Finanz- und Wirtschaftstätigkeit der russischen Industrieunternehmen, die aktiv auf den ausländischen Märkten arbeiten, zu vermeiden“.

„Wir haben einen recht weiten Kreis internationaler Kontakte. Soweit wir beobachten können, sind die Industriellen keine Verfechter von Sanktionen“, kommentierte Andrej Alexandrow, Generaldirektor der Internationalen Vereinigung „Titan“, für die „NG“ die aktuelle Situation. „Die Sanktionen bringen zu viele Unsicherheiten in die Geschäftspraxis. Ich denke, aus diesem Grunde haben alle zuvor verhängten Sanktionen der letzten Jahre die Lieferungen von Titan-Erzeugnissen nicht tangiert“.

„Russland konnte auf der Grundlage des herausragenden sowjetischen Potenzials auf dem Gebiet der Titan-Erzeugung und -Wissenschaft einen wichtigen Platz in der weltweiten Kooperation für den zivilen Flugzeugbau einnehmen. Dies ist ein prämialer, der angesehenste Markt für Titan-Erzeugnisse“, erläuterte Alexandrow. „Wir bleiben ein zuverlässiger Lieferant technologisch komplizierter Erzeugnisse höchster Qualität. Solch eine Lage der Dinge ist sowohl für die Lieferanten als auch die Verbraucher von Titan-Erzeugnissen von Vorteil“.

Wie der Experte betonte, bestehe die Hauptspezialisierung der Titanindustrie Russlands auf dem internationalen Titan-Markt in der „Herstellung von Walzerzeugnissen aus Qualitätslegierungen für verantwortungsvolle Einsatzzwecke. … „Über 90 Prozent aller im Land hergestellten Titanerzeugnisse sind Legierungen. Mindestens 85 Prozent der hergestellten Erzeugnisse sind für die Luft- und Raumfahrtindustrie bestimmt. Es muss betont werden, dass dies eine recht ehrenvolle Position auf dem Titan-Markt ist“, sagte Alexandrow. „Für die Lieferungen für den zivilen Flugzeugbau sind nur die zuverlässigsten Hersteller zugelassen worden, die über das höchste Niveau der Technologien und ein effizientes Qualitätssystem verfügen“.

Und laut seiner Präzisierung sei es schwierig, einen konservativeren Markt aufgrund seines hohen Verantwortungsgrades und folglich aufgrund der Kompliziertheit der Zertifizierung neuer Lieferanten und deren Erzeugnisse zu finden. Obgleich es genug Interessenten gebe, die den Platz Russlands auf dem prämialen Titan-Markt einnehmen möchten. „Solche Unternehmen gibt es in den USA, in Westeuropa und China. Bei Bestehen eines Interesses seitens der führenden internationalen Flugzeugbauunternehmen können die Konkurrenten mit der Zeit die Produktion erhöhen“, räumt Alexandrow ein. Dieser Prozess sei aber kein schneller. „Am wahrscheinlichsten sind eine Ersetzung eines Teils des russischen Sortiments durch bestätigte westliche Hersteller und eine Nutzung von Lagerbeständen, die in Zeit der Pandemie angelegt wurden“, fügte der Experte hinzu. Nach seinen Worten „ist die wichtigste Aufgabe die Entwicklung des Inlandsverbrauchs von Titan, darunter durch eine Wiedergeburt des einheimischen Flugzeugbaus“.

Hinzugefügt sei aber, nicht nur dies. Eine äußerst wichtige Aufgabe ist, das Problem mit der Entwicklung einer eigenen Rohstoffbasis zu lösen. Wie im Bericht „Über den Zustand und die Nutzung der mineralischen und Rohstoffressourcen der Russischen Föderation im Jahr 2020“ (den das Ministerium für Naturressourcen und die Staatliche Agentur für Naturressourcen Ende vergangenen Jahres vorbereitet hatten) mitgeteilt wurde, „gehört Titan zur Gruppe der knappen Bodenschätze, deren Inlandsverbrauch in erheblichem Maße durch einen erzwungenen Import abgesichert wird“.

Russland verfügt über eine große Rohstoffbasis an Titan, die „für eine Absicherung der inneren Bedürfnisse des Landes an Titanrohstoffen ausreichend ist. Zu einem Faktor, der die Erschließung behindere, werde aber das Fehlen der erforderlichen Technologien. Aber auch das, dass nicht alle gewonnenen Produkte ihre Abnehmer finden würden. Und dies wirke sich bereits negativ auf die Rentabilität der Projekte aus.

Im Endergebnis „importieren praktisch alle russischen Unternehmen, die Titan-Rohstoffe verwenden, diese“, wie in dem erwähnten Bericht erklärt wird, was jedoch „das Land nicht daran hindert, zur Top 3 der Hauptproduzenten von Titanschwamm (Titanpulver) zu gehören und der größte Hersteller von Pigment-Titandioxid in Osteuropa zu sein“.

„Die für Ende 2021 geplante Inbetriebnahme der Tuganskoje-Seifenlagerstätte (eine Seifenlagerstätte ist ein Vorkommen mit abbauwürdigen Konzentrationen von Edelmetallen, Schwermineralen oder Edelsteinen – Anmerkung der Redaktion) im Verwaltungsgebiet Tomsk wird die Nutzung einheimischer Titan-Rohstoffe durch die russische Industrie erhöhen“, wurde gleichfalls in dem Bericht betont. Dabei werden den ausgewiesenen Daten nach zu urteilen in Russland insgesamt sechs Titan-Lagerstätten für eine Ausbeutung vorbereitet: eine, die bereits erwähnte Seifenlagerstätte und fünf Primärlagerstätten.

Man kann auch auf ein anderes Dokument verweisen. Im Frühjahr letzten Jahres veröffentlichte der Rechnungshof einen Report über die Ergebnisse einer Kontrollmaßnahme, die der Beurteilung der Effektivität der Verwaltung des staatlichen Fonds der Bodenschätze in den Jahren 2018-2019 und im zu Ende gehenden Zeitraum des Jahres 2020 galt. In diesem Bericht wurde mitgeteilt, dass „im Zeitraum von 2018 bis einschließlich 2020 die Bedürfnisse der Wirtschaftszweige an Mangan, Chrom, Titan und Lithium vollkommen durch Importe befriedigt wurden“. Wobei – dem Bericht nach zu urteilen – die Ukraine in den Jahren 2018 bis einschließlich 2020 im Durchschnitt die Lieferungen an die Russische Föderation von fast 83 Prozent an Titan-Rohstoffen sicherte. (Obgleich im ausgewiesenen Zeitraum der Anteil der Ukraine zurückgegangen ist. Ein anderer wichtiger Lieferant war im Jahr 2020 Vietnam gewesen.)

In den Materialien des Ministeriums für Naturressourcen wurde gleichfalls betont, dass „Russland über eine der weltweit größten Rohstoffgrundlagen an Titan verfügt. Auf seinen Anteil entfalle 15 Prozent der Vorräte in der Welt aus. Dabei macht der Beitrag des Landes an der weltweiten Erzeugung von Titan-Konzentraten ganze 0,03 Prozent aus“. Und der Anteil der Ukraine an den weltweiten Vorräten beläuft sich laut Angaben des Berichts auf lediglich drei Prozent. Dabei ist entsprechend den Angaben des Ministeriums für Naturressourcen der Erschließungs- und Ausbeutungsgrad der russischen Titan-Rohstoffbasis ein geringer. „Im Jahr 2020 sind nur sechs Prozent der Vorräte ausgebeutet worden. Wobei mit einer Anreicherung des Titans zu Konzentraten – ganze 0,1 Prozent“.

„Dabei ist in den letzten zehn Jahren in Russland die Gewinnung von Titan-Dioxid aus den Lagerstätten um das 4,7fache angestiegen und überstieg 400.000 Tonnen TiO2. Seine Warenförderung (mit einer anschließenden Anreicherung zu Konzentraten) übersteigt seit 2017 keine 4.000 Tonnen Titandioxid. Im Jahr 2020 sind 439.000 Tonnen TiO2 gefördert worden, was zwei Prozent weniger als im Jahr zuvor gewesen ist. Praktisch ist es ein verlorenes Jahr gewesen, da nur ganze 3.000 Tonnen TiO2 gewonnen wurden“, wiesen die Daten des Ministeriums für Naturressourcen aus.

Und schließlich hat im Februar dieses Jahres auch der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates und russische Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew auf das Problem der Importabhängigkeit hingewiesen. Nach seinen Worten bestehe eine häufige Situation: „Wir haben große Lagerstätten eines strategisch wichtigen mineralischen Rohstoffs. Aber ihr Abbau ist vor allem aufgrund wirtschaftlicher Ursachen nicht rentabel. Entweder aufgrund der geringen Qualität der Rohstoffe oder aufgrund von Problemen mit den vorhandenen Technologien oder mit der Logistik, mit dem Transport der Rohstoffe“.

„Wir haben Probleme mit dem Import einer großen Anzahl von Arten strategisch wichtiger mineralischer Rohstoffe. Importiert werden sowohl Mangan als auch Chrom, Lithium, Beryllium, Rhenium fast vollkommen, Titan praktisch komplett, Zirkonium und viele, viele andere Arten solcher strategischen Rohstoffe“, zählte er auf. „Die größten Lieferanten sind allen bekannt. Dies ist eine Reihe von Nachbarländern“. Einige von ihnen „befinden sich nicht in den einfachsten Beziehungen mit unserem Staat“, konstatierte Medwedjew. Und solche Risiken für die nationale Sicherheit des Staates würden wie nie zuvor die Frage nach einer Importsubstitution – darunter strategisch wichtiger Arten von Rohstoffen – auf den ersten Platz rücken.