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Russland-Deutschland: ein Scherbenhaufen und abgebrochene Brücken


Ganz zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatten Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Wladimir Putin das erste Forum der neuen Diskussionsplattform Petersburger Dialog im thüringischen Weimar eröffnet. Beide Staatsmänner hatten erklärt, dass die bilateralen Beziehungen das höchste und beste Niveau der letzten einhundert Jahre erreicht hätten. Berlin und Moskau hatten sich überraschenderweise als Verbündete erwiesen. Die Deutschen dankten Russland für die Unterstützung für die Vereinigung Deutschlands. Deutschland und Russland gingen (zusammen mit Paris) im Schulterschluss in Opposition zum amerikanisch-britischen Krieg im Irak. Beide Länder verstärkten die Energieallianz für die Versorgung der europäischen Industrie mit einer bisher nicht dagewesenen Menge an russischem Erdgas. Die Deutschen und Russen vertieften den friedlichen Dialog und den der Zivilgesellschaften und sagten, dass jetzt nicht nur das Fenster von Peter dem Großen nach Europa weit geöffnet sein werde, sondern auch alle übrigen Türen aufgemacht werden würden. Es entstand eine Vielzahl qualitativ wertvoller Brücken für eine Zusammenarbeit. Deutschland wurde zum Hauptanwalt für ein Propagieren der Positionen Russlands im Westen.

Zwei Dezennien später befinden sich Deutschland und Russland an einem Scherbenhaufen. Die Länder haben sich völlig zerstritten. Die Beziehungen sind zu genau so schlechten wie während des 1. und des 2. Weltkriegs geworden. Deutschland ist zu einem Hauptlieferanten von Waffen für die Ukraine geworden. Russlands Bürger sind verwirrt: Wo ist das deutsche Schuldgefühl aufgrund des Überfalls von Hitler, aufgrund der während des Großen Vaterländischen Krieges ums Leben gekommenen 27 Millionen sowjetischen Bürger geblieben? Wo ist die Dankbarkeit der Deutschen für die Wiedervereinigung Deutschland, für den Abzug der sowjetischen Truppen aus der einstigen DDR und generell aus Osteuropa sowie für die privilegierte Haltung gegenüber dem deutschen Business geblieben?

In Deutschland ist die Kluft zu Russland nicht geringer. Für die Deutschen ist das Geschehen in der Ukraine mit einem Angriff auf den Westen an sich, auf das liberale System des Westens, auf die freie westliche Lebensweise vergleichbar. Die Ukraine begreifen die Deutschen als ein „Jahrhundertopfer“ des imperialen Russlands, die einer Verteidigung würdig ist. Es darf und kann nicht vergessen werden, dass Deutschland und Russland in den beiden Weltkriegen die Hauptgegner gewesen waren. Dies hat Spuren in der Geschichte zurückgelassen. Die Schuld für die Teilung Deutschlands und Unterwerfung der DDR während des Kalten Krieges sehen die Deutschen ausschließlich in der Politik der UdSSR.

Deutschland möchte auch weiterhin die Führungsrolle in Europa behalten. Es bewahrt die Führungsrolle nicht auf militärischem Wege und nicht einmal mit wirtschaftlichen Instrumenten, sondern über eine neue Ideologie – über eine auf Moral und Werten basierende Vorgehensweise. Auf der Seite Russlands bleibend, würde es mit einem Schlag seinen Status verlieren. Für die strategischen Interessen der USA in Europa stellt eine Achse Moskau-Berlin die größte Gefahr dar. Der Konflikt in der Ukraine wurde zu einem Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland. Künftig sind „Deals“ à la Nord Stream mit Moskau für die Deutschen ein und für allemal verboten.

Buchstäblich alle Länder Osteuropas haben begonnen, von den Deutschen Buße für die verkehrte „Ostpolitik“ zu verlangen, auf die die Deutschen bis zum Jahr 2022 stolz gewesen waren und die als Grundlage für die (bundesdeutsche) Außenpolitik in Bezug auf Russland seit den Zeiten von Willy Brandt gedient hatte. Im Endergebnis hat Deutschland Russland lauter als alle anderen verurteilt, harte Sanktionen verhängt und faktisch die Führung der europäischen antirussischen Koalition übernommen.

Der sehnlichste Traum Russlands, Deutschland aus der Abhängigkeit von den USA herauszulösen und damit die Bundesrepublik in eine unabhängige Mittelmacht zu verwandeln sowie sie zum Hauptverbündeten Russlands in Europa zu machen, hat einen Flopp erlebt, wobei für lange. Die alten Anhänger und Vertreter der Ostpolitik haben fast alle das Zeitliche gesegnet, und die jungen Politiker, die im Geiste des Primats der liberalen Werte und eines bedingungslosen Transatlantizismus erzogen worden sind, sehen in Russland ihren Hauptfeind. Die politischen Kräfte, die es wagen, heute für eine Aussöhnung mit Deutschland aufzutreten, sind die rechte Partei „Alternative für Deutschland“ und die Überreste der einstigen Friedensbewegung.

Der Wechsel Deutschlands aus dem prorussischen ins transatlantische Lager erfolgte jedoch nicht erst vor kurzem. Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ veröffentlichte in der vergangenen Woche eine interessante Untersuchung der politischen Auseinandersetzungen beim Bukarester NATO-Gipfel im Sommer des Jahres 2008, als die Amerikaner überraschend von ihren Verbündeten eine Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO forderten, wobei die Ukrainer selbst in dieser Frage zu jener Zeit unentschlossen gewesen waren. In dem Beitrag wird detailliert beschrieben, wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vehement gegen eine Erweiterung der NATO kämpfte, womit sie US-Außenministerin Condoleezza Rice zum Weinen brachte. Alle Länder Osteuropas hatte sich damals gegen Deutschland gewehrt. Der polnische Premier hatte Merkel gedroht. Sie aber hatte auf ihrem Veto bestanden. Merkel hatte damals direkt erklärt: „Ich kenne Wladimir Putin. Er wird eine weitere Ausdehnung der NATO nicht ohne eine entsprechende Antwort belassen“.

In der Folgezeit unternahmen Merkel und andere Spitzenvertreter des Westens den Versuch, auf den als liberaler geltenden Dmitrij Medwedjew zu setzen. Putins Rückkehr in den Kreml im Jahr 2012 nahmen Deutschland und die anderen westlichen Länder geharnischt auf. Zu jener Zeit war Deutschland immer mehr zu einem ideologisierten Land und zu solch einer Nation geworden. Eine „richtige“ Moral, die liberalen Werte und die Menschenrechte begannen, gegenüber den Prinzipien der traditionellen „Realpolitik“ zu dominieren. Es stimmt nicht, dass die auf Werten beruhende Vorgehensweise aus Amerika nach Deutschland gelangte. Nein, die deutsche Elite hatte sie selbst entwickelt – unter dem zunehmenden Einfluss der Grünen.

Pragmatismus begann in der Politik zu verschwinden – sowohl in Deutschland als auch in Russland. An die Macht gelangten immer mehr leidenschaftliche Verfechter eines Liberalismus, solche wie Annalena Baerbock. Sie bleibt im Übrigen auch heute in den Augen der deutschen Wähler eine der populärsten Politikerinnen, freilich nicht unter den Bürgern mit rechten Anschauungen. Man kann kühn behaupten, dass sich unter dem Einfluss der neuen Ideologie auch die eigentliche Gesellschaft in Deutschland drastisch veränderte, was ebenfalls in Russland nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Was Russland angeht, so hat dort den Pragmatismus ein vehementes Antiwestlertum ersetzt. Man kann sagen, dass dies eine Reaktion auf den zunehmenden Druck Deutschlands auf Russland in Menschenrechtsfragen war. Der Abbruch der Beziehungen an sich erfolgte während der Ereignisse auf dem Maidan im Jahr 2014, als Deutschland als die Nummer 1 der EU versuchte, eine gewisse „europäische Geopolitik“ umzusetzen, zu deren Opfer sofort die Beziehungen mit der Russischen Föderation wurden. Berlin verurteilte scharf die „imperiale Politik Russlands“, und während der folgenden Gespräche im „Minsker Format“ spielte Merkel bereit auf der Seite des Westens und der Ukraine, wobei sie vollkommen die Rolle eines ehrlichen Schiedsrichters vergessen hatte.

Was wird weiter geschehen? Solange in der Ukraine die Kampfhandlungen erfolgen, werden sich die Differenzen zwischen Berlin und Moskau vertiefen. Man möchte ungern glauben, dass sich Russland zu einem Zuschlagen des „Fensters nach Europa“ entscheidet. Deutschland sorgt sich dennoch darum, damit dieses „Fenster“ ein wenig geöffnet bleibt. Ungeachtet dessen, dass sich Deutschland den unversöhnlichen Positionen Polens und der Länder des Baltikums in Bezug auf Russland angeschlossen hat, bleibt die Losung „Wir gestalten das künftige Europa nicht gemeinsam, sondern gegen Russland“ eine vage. Schließlich muss man früher oder später, in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Beendigung des Ukraine-Konflikts an einem Verhandlungstisch kommen und eine Konzeption für eine friedliche Koexistenz ausarbeiten.

In Deutschland beginnt man allmählich zu begreifen, dass zum entscheidenden Moment die Wahlen des Präsidenten der USA im Herbst des kommenden Jahres werden (ein halbes Jahr nach den Präsidentschaftswahlen in Russland). Deutschland muss entweder zu einem Unteroffizier im von Joseph Biden verkündeten „Kreuzzug“ gen Osten werden und somit möglicherweise die Beziehungen auch noch mit China abbrechen oder die Politik mit dem künftigen Republikaner-Präsidenten abstimmen, der die Losung „America First“ (in erster Linie Amerika) ausgibt, Europa in den Hintergrund verdrängt und das Interesse für die Ukraine verliert, sich aber auch auf eine Politik der „Zügelung“ Chinas konzentrieren wird.