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Russland droht schlimmster Rückgang der Geburtenrate


Die Folgen der Februar- und besonders der September-Ereignisse werden für Russland möglicherweise zur ernsthaftesten demografischen Herausforderung in der neuesten Geschichte des Landes. Das Gesundheitsministerium empfiehlt daher den Ärzten, von den Freuden einer Mutterschaft zu erzählen. Dies ist aber unzureichend. Die kremlnahe Stiftung „Öffentliche Meinung“ fixierte, dass der Grad der Besorgtheit und Beunruhigung jetzt stärker als zu Beginn der militärischen Sonderoperation sowie zur Hochzeit der COVID-19-Pandemie in die Höhe geschnellt sei. Eine der Prognosen – sie wurde im Gaidar-Institut formuliert – nimmt Folgendes an: Der Koeffizient für die gesamte Geburtenrate könne im nächsten Jahr bis auf 1,3-1,39 Kinder je Frau zurückgehen, was den Ländern mit der geringsten Geburtenrate in der Welt nahekommt. Und die Anzahl der Geburten könne weniger als 1,2 Millionen ausmachen – der schlechteste Wert in der Geschichte des heutigen Russlands. Auf dem Internetportal der Mitarbeiter von Russlands Zentralbank wird die Wichtigkeit einer zusätzlichen Unterstützung der Bevölkerungseinkommen diskutiert. Andernfalls werde die Geburtenrat erneut zu solch einer werden wie vor der Einführung des sogenannten Mutter- bzw. Mutterschaftskapitals.

Im Land müsse das reproduktive Potenzial erhöht werden. Folglich mache es auch für die Gynäkologen in erster Linie Sinn, den Patientinnen nicht von Schwangerschaftsverhütungsmitteln zu erzählen, sondern von den Freuden einer Mutterschaft. Dies meinte der Gesundheitsminister Russlands, Michail Muraschko, dessen Auftritt beim Forum „Mutter und Kind-2022“ die offizielle Internetseite des Ministeriums auszugsweise wiedergab. Folglich müsse — den Worten des Ministers nach zu urteilen – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Spezialisten nicht nur einer Verringerung der Baby- bzw. Kinder- und Muttersterblichkeit stehen, sondern auch die Ausprägung von Einstellungen für die Bildung einer Familie und für einen Kinderreichtum.

Freilich, unter den Bedingungen, unter denen die Unbestimmtheit bis zu einem Extremen zunimmt, und der Grad der Besorgnis in der Gesellschaft bis zu maximalen Werten in die Höhe schnellt, wird für die Lösung der demografischen Probleme allein ein Gerede offensichtlich unzureichend sein. So sei gegenwärtig laut Angaben der Stiftung „Öffentliche Meinung“ der Anteil der Bürger im Land drastisch angestiegen, die darauf verwiesen, dass unter ihren Verwandten, Freunden, Bekannten und Kollegen eine besorgte Stimmung dominiere.

Mit Stand vom 25. September hatten 69 Prozent von 1500 Befragten von Sorgen in ihrer Umgebung gesprochen. Eine Woche zuvor hatten nur 35 Prozent darüber gesprochen. Eine Zunahme um fast das 2fache.

Gegenwärtig ist der Grad der Besorgtheit und Beunruhigung nicht nur größer als er zu Beginn der militärischen Sonderoperation war (Ende Februar dieses Jahres waren 55 Prozent zu einem Spitzenwert geworden), sondern auch in der Hochzeit der COVID-19-Pandemie. Im April des Jahres 2020 hatte der Spitzenwert 66 Prozent erreicht.

Ergo haben wir einerseits eine Verstärkung der wirtschaftlichen Unbestimmtheit, einen Rückgang der Einkommen der Bevölkerung (wobei die Einkommen ohnehin schon acht Jahre lang stagnieren), die Einberufung und augenscheinlich einen geringen – möglicherweise zeitweiligen – Exodus des männlichen Teils der Bevölkerung unter den Bedingungen der auch so verschobenen Proportionen: Insgesamt gibt es im Land mehr Frauen als Männer.

Präzisiert sei, dass laut Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat für den Beginn dieses Jahres (bisher ohne Berücksichtigung der Bevölkerungszählung) auf 1000 Männer in Russland 1151 Frauen kamen. Obgleich sich die Situation in Abhängigkeit von der Alterskategorie unterscheidet. Wenn man so beispielsweise die Altersgruppen bis einschließlich 34 Jahre nimmt, so kamen in ihnen auf 1000 Männer etwas weniger als 1000 Frauen. Beginnend ab dem 35. Lebensjahr verringert sich die Anzahl der Männer. Und ihre Anzahl wird geringer als die der Frauen.

Andererseits sind neue Territorien Russland angegliedert worden. Und dies sind schätzungsweise fünf bis sechs Millionen Einwohner, für die der Beitritt zu Russland zu einem positiven Faktor wird, der erlaubt, die Geburt von Kindern und insgesamt das Leben zu planen. Was für demografische Ergebnisse sind unter Berücksichtigung all dieser Tendenzen zu erwarten? Diesbezüglich gibt es mehrere Meinungen.

Die erste Meinung ist der Standpunkt einer Soziologin. Laut Schätzungen, von denen die Projekt-Direktorin der Stiftung „Öffentliche Meinung“, Ludmilla Presnjakowa, der „NG“ berichtete, werde der Einfluss des gesamten Komplexes von Faktoren auf die Pläne zur Geburt von Kindern vor allem ein negativer sein. Unter anderem müsse man berücksichtigen, wenn es angebracht sein werde, von einem Emigrationsexodus zu sprechen, dass dies wahrscheinlich junge, gebildete und materiell abgesicherte Menschen sein werden. „Gerade jene, mit denen die Frauen träumen, Kinder zu bekommen“. Dem seien auch bestimmte Verluste hinzugefügt.

Außerdem erwähnte Presnjakowa die „anhaltende Unbestimmtheit, darunter die wirtschaftliche“, und die Auswirkungen der Pandemie. In derartigen Situationen würden sich die Familien bemühen, solche ernsthaften Entscheidungen wie die Geburt von Kindern aufzuschieben. „Ein Baby-Boom erfolgte überall vor dem Hintergrund von Stabilität und der Zunahme des finanziellen Wohlstands“, erinnerte Presnjakowa.

Schließlich dürfe man auch nicht den Zustand vergessen, wie die Soziologin präzisierte, in dem sich sowohl die Menschen als auch die gesamte Infrastruktur auf den angegliederten Territorien derzeit befinden. Dort „muss man sich zuerst irgendwie einrichten“.

Die zweite Meinung ist der Standpunkt eines Demografie-Spezialisten. „Die Ereignisse der letzten sieben Monate in Russland haben sich zweifellos bereits auf die künftige Geburtenrate ausgewirkt“, meinte gegenüber der „NG“ Igor Jefremow, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Labors für Demografie und menschliches Kapital am Gaidar-Institut, der auch über seine Einschätzungen sprach. „Die ersten negativen Folgen werden wir bereits im Dezember dieses Jahres zu sehen bekommen. Und dann werden sie nur zunehmen“.

Nach seinen Schätzungen werde die Anzahl der Geburten in diesem Jahr im Vergleich zum vergangenen Jahr um sechs bis acht Prozent bis etwa auf etwa 1,3 Millionen zurückgehen, und der Koeffizient der summarischen Geburtenrate werde von 1,51 im Jahr 2021 bis auf ungefähr 1,45 Kinder je Frau im Jahr 2022 sinken. Und dies, obwohl für eine natürliche Reproduktion der Generationen Russlands eine Geburtenrate erforderlich ist, die 2,1 Kinder je Frau nahekommt.

Der jetzige Schlag gegen die Geburtenrate werde, wie der Experte meint, das „Echo“ des demografischen Einbruchs der 1990er und des Beginns der 2000er Jahre ergänzen. „Im Ergebnis dessen kann angenommen werden, dass der Koeffizient der summarischen Geburtenrate im nächsten Jahr noch stärker einbricht und im besten Fall im Bereich von 1,3-1,39 Kinder je Frau schwanken wird. Das heißt, er wird nahe dem Niveau der Länder mit der geringsten Geburtenrate in der Welt liegen. Und die Anzahl der Geburten wird unter 1,2 Millionen liegen, das heißt, sie wird zur geringsten in der modernen Geschichte Russlands“, prognostiziert Jefremow.

Er erläutert: Die direkte Auswirkung der Teilmobilmachung für die Geburtenrate wird von der Anzahl der einberufenen Reservisten und der Dauer ihrer Mobilmachung abhängen. „Wenn die Dimensionen die öffentlichen Zusagen der Offiziellen nicht überschreiten und die eingezogenen Reservisten bis zum Jahresende heimkehren, wird die direkte Auswirkung für die Geburtenrate eine geringe sein“, sagt Jefremow. Er lenkte gleichfalls das Augenmerk darauf, dass die diskutierten „angeblich gewaltigen Dimensionen des Exodus von Männern ins Ausland“ oft einen spekulativen und gar panischen Charakter hätten.

Die September-Ereignisse hätten jedoch auch eine mittelbare Auswirkung, die sich, wie Jefremow erläuterte, in einer Zerstörung des gewohnten Lebens der Familien und ihrer Zukunftspläne zeigen würde. Laut Experten-Einschätzungen hat dieser Effekt „der künftigen Geburtenrate bereits einen riesigen Schaden zugefügt. Und er wird größer werden, je länger die Mobilmachung andauert“.

Die dritte Auffassung ist die Meinung eines Technologen für soziales Management. „Die Angliederung der neuen Territorien und der Bevölkerung wird in der langfristigen Perspektive unbedingt einen positiven Synergie-Effekt bringen. Er wird sich in verschiedensten Lebensbereichen offenbaren – vom wirtschaftlichen und politischen bis zum Kulturbereich sowie des Bereichs der Motivation und der Orientierungen entsprechend den Werten“, sagte der „NG“ Michail Tschurakow, Direktor des Zentrums für humanitäre Technologien und Studien „Soziale Mechanik“. „Zusammen damit nimmt aber auch die Belastung für den Staat zu“.

Die vierte Meinung ist die Ansicht von Wirtschaftsexperten: Auf dem Internetportal Econs, das Mitarbeiter der Zentralbank und eingeladene Experten befüllen (wobei präzisiert wird, dass die Materialien dort nicht mit der offiziellen Position der Zentralbank gleichgesetzt werden könnten), wurde eine Übersicht veröffentlicht, die der demografischen Situation – aufgeschlüsselt für die Regionen – gewidmet war.

Und in ihm sind solche entscheidenden Schlussfolgerungen gezogen worden: Erstens, die Dynamik der Geburtenrate in Russland korreliert stark mit der Dynamik der Bevölkerungseinkommen. Zweitens, in den Subjekten der Russischen Föderation mit einer höheren Geburtenrate ist der Anteil der Männer ein größerer. Und drittens, „der Rückgang der zur Verfügung stehenden Einkommen wird bei einem Ausbleiben zusätzlicher Maßnahmen zu ihrer Stützung (solcher wie die Aufhebung der Einkommenssteuer für Einkommen, die einen oder bis zu anderthalb Mindestlohn ausmachen, eine Absenkung der Höhe der Sozialbeiträge, die Einführung eines steuerlichen Abzugs für die Arbeitseinkommen in Abhängigkeit von der Struktur der Haushalte) den summarischen Koeffizient der Geburtenrate auf einen Wert von 1,3 bis 1,4 im Jahr 2024 zurückbringen, das heißt bis zu dem Stand vor dem Programm des Mutterschaftskapitals“.

Jefremow erläuterte dabei der „NG“, dass die oft verwendete Wortverbindung „Stimulierung der Geburtenrate“ falsch die demografische Realität reflektiere. Nach seinen Worten würden in Russland die meisten Familien sich für die Geburt von Kindern entscheiden. Und die Wunschzahl von Kindern befinde sich in den russischen Familien stabil auf einem Niveau, das eine natürliche Reproduktion der Bevölkerung sichere – mehr als zwei Kinder je Familie.

Das Problem bestehe aber darin, dass „sich die Familien nicht erlauben können, aufgrund unterschiedlicher Hindernisse die gewünschte Anzahl von Kindern zur Welt zu bringen“. Und selbst die erfolgreichen Initiativen seien, wie der Experte denkt, jüngst einer fehlerhaften Korrektur unterzogen worden. Jefremow meint „die Verlagerung des größeren Teils des Mutterschaftskapitals vom zweiten auf das erste Kind“. Nach seiner Auffassung „verringert dies stark die Wahrscheinlichkeit der Geburt zweiter und weiterer Kinder in der Zukunft“ und verwandelt die effektive Maßnahme der Demografie-Politik in eine übliche Maßnahme zur sozialen Unterstützung.

Wie in der letzten Septemberdekade das Arbeitsministerium mitteilte, werde im Jahr 2023 die Höhe des Mutterkapitals für das erste Kind 589.500 Rubel ausmachen, für das zweite – 779.000 Rubel. Wenn jedoch eine Familie bereits das Mutterschaftskapital für das erste Kind beantragte, so werde die Höhe der Beihilfe für das zweite Kind nur 189.500 Rubel ausmachen.

Hier macht es Sinn, daran zu erinnern, dass bis zum Jahr 2020 den Familien bei der Geburt eines zweiten und weiterer Kinder erhebliche Summen angeboten wurden. Jetzt aber ist der Hauptteil der Unterstützung auf die Geburt gerade des ersten Kindes verlagert worden. Und wenn in eben dieser Familie ein zweites Kind zur Welt gebracht wird, so erhält die Familie schon keine so beeindruckende Summe, sondern einen relativ kleinen Zuschlag zur ersten Beihilfe.

„Unter den Bedingungen bis zur Bekanntgabe der Teilmobilmachung war für eine Behebung der letzten Fehler der demografischen Politik erforderlich gewesen, den gesamten Umfang des Mutterschaftskapitals für das zweite Kind wiederherzustellen, aber auch zumindest eine vom Maßstab her vergleichbare Maßnahme zur Unterstützung bei der Geburt eines dritten Kindes zu implementieren“, meint Jefremow. Unter den neuen Realitäten würden aber schon keine punktuellen Maßnahmen gebraucht, sondern solche Handlungen des Staates, die den Familien einen stabilen, für viele Jahre im Voraus reichenden Horizont für die Planung des Lebens und eine Zunahme der realen Einkommen sichern werden.