Das staatliche Meinungsforschungszentrum VTsIOM legte am 23. Februar Zahlen einer Umfrage vor, wonach 73 Prozent der am 22. Februar befragten Bürger Russlands die Anerkennung der Donbass-Republiken durch Präsident Putin billigten. Dagegen waren ca. 16 Prozent. Laut Auffassung von Dmitrij Peskow, Pressesekretär des russischen Staatsoberhauptes, sei die Unterstützung für die am 24. Februar begonnene Sonder-Operation zur „Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ mit Sicherheit eine ähnliche. Doch in Russland gibt es auch Ablehnung, Kritik gegen dieses Abenteuer Putins. Am Donnerstagabend waren tausende Menschen auf die Straßen mehrerer russischer Städte gekommen, um gegen den politischen Kurs des 69jährigen Präsidenten zu protestieren. Er führe in eine weitere Isolation des Landes, bringe neue Sanktionen, unter denen letztlich das russische Volk am stärksten leiden werde. Nachdem die Journalisten-Allianz „Syndikat 100“, zu der unter anderem die Zeitung „Novaya Gazeta“, der Fernsehsender „Rain“ und der hauptstädtische Rundfunksender „Echo Moskaus“ gehören, einen öffentlichen Brief gegen den Ukraine-Krieg veröffentlichten, haben nun bekannte Wissenschaftler (die teilweise auch in der „NG“ publizieren) und Wissenschaftsjournalisten ihren Standpunkt geäußert. Sie veröffentlichten in den Abendstunden des Kriegstages Nr. 1 einen offenen Brief. „NG Deutschland“ veröffentlicht eine Übersetzung dieses Dokuments.
„Wir, russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, erklären einen entschiedenen Protest gegen die Kampfhandlungen, die durch die Streitkräfte unseres Landes auf dem Territorium der Ukraine begonnen wurden. Dieser fatale Schritt führt zu gewaltigen Menschenopfern und untergräbt die Grundlagen des sich herausgebildeten internationalen Sicherheitssystems. Die Verantwortung für die Entfesselung des neuen Kriegs in Europa liegt vollkommen auf Russland.
Für diesen Krieg gibt es keinerlei vernünftige Rechtfertigungen. Die Versuche, die Situation im Donbass als Anlass für die Entfaltung der militärischen Operation auszunutzen, lösen keinerlei Vertrauen aus. Es ist völlig offensichtlich, dass die Ukraine keine Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes darstellt. Der Krieg gegen sie ist ungerecht und offenkundig sinnlos.
Die Ukraine war und bleibt ein für uns nahes Land. Von vielen von uns leben in der Ukraine Verwandte, Freunde und Kollegen hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit. Unsere Väter, Groß- und Urgroßväter haben gemeinsam gegen den Nazismus gekämpft. Das Entfesseln des Krieges im Interesse der geopolitischen Ambitionen der Führung der Russischen Föderation, die sich von zweifelhaften historisch-philosophischen Fantasien leiten lässt, ist ein zynischer Verrat an die Erinnerungen an sie.
Wir achten die ukrainische Staatlichkeit, die auf real funktionierenden demokratischen Instituten beruht. Mit Verständnis stehen wir der europäischen Wahl unserer Nachbarn gegenüber. Wir sind davon überzeugt, dass alle Probleme in den Beziehungen zwischen unseren Ländern auf friedlichem Wege gelöst werden können.
Mit der Entfesselung des Krieges hat sich Russland zu einer internationalen Isolation verdammt, zu einer Stellung als ein aussätziges Land, als Paria. Dies bedeutet, dass wir Wissenschaftler uns jetzt nicht normal mit unserer Sache befassen können. Schließlich ist die Durchführung von Forschungsarbeiten ohne eine vollwertige Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Ländern undenkbar. Die Isolierung Russlands von der Welt bedeutet eine weitere kulturelle und technologische Degradierung unseres Landes bei einem vollkommenen Ausbleiben positiver Perspektiven. Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Schritt ins Nirgendwo.
Für uns ist es bitter zu begreifen, dass unser Land, das einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über den Nazismus geleistet hatte, nunmehr zum Anstifter eines neuen Krieges auf dem europäischen Kontinent geworden ist. Wir fordern eine unverzügliche Beendigung aller Kampfhandlungen, die gegen die Ukraine gerichtet sind. Wir fordern eine Achtung der Souveränität und territorialen Integrität des ukrainischen Staates. Wir fordern Frieden für unsere Länder. Lassen Sie uns, sich mit der Wissenschaft und nicht mit einem Krieg befassen!“