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Russland hat bis zu 20 Prozent seines europäischen Gasexports verloren


Die Verbraucher von sechs europäischen Ländern werden ab Juni dieses Jahres kein russisches Gas kaufen. Polen, Bulgarien, Finnland, die Niederlande, Dänemark und teilweise die Bundesrepublik Deutschland verzichten auf den Energieträger aus der Russischen Föderation. Der Gesamtrückgang des Gasexports wird wahrscheinlich 20 Milliarden Kubikmeter im Jahr übersteigen. Und in der Perspektive wird sich der russische Gasexport nach Europa nur verringern. Die Möglichkeit eines Wettmachens der Exportverluste durch den Binnenmarkt ist nicht auszumachen. Der Einbruch des Exports wird von Experten mit zwölf bis zwanzig Prozent geschätzt. Und der Rückgang der gesamten Gasförderung in der Russischen Föderation wird in diesem Jahr rund sechs Prozent ausmachen.

Eine Reihe europäischer Länder haben es abgelehnt, zum Rubelschema für die Bezahlung des russischen Gases, die durch einen Erlass von Präsident Wladimir Putin angeordnet wurde. Daher werden die Verbraucher aus Polen, Bulgarien, Finnland, den Niederlanden, Dänemark und teilweise aus der BRD bereits kein russisches Erdgas erhalten werden.

Seit dem 1. Juni haben den Zugang zu russischen Gaslieferungen auch der britische Konzern Shell und das dänische Unternehmen Orsted verloren, teilte „Gazprom Export“ mit. Wie in dem russischen Konzern ausgewiesen wurde, hätte Shell Energy Europe Limited „Gazprom Export“ darüber in Kenntnis gesetzt, dass er nicht beabsichtige, die Zahlungen gemäß dem Vertrag für Gaslieferungen nach Deutschland in Rubel vorzunehmen. Dabei beläuft sich der maximale Jahresumfang der Lieferungen entsprechend diesem ursprünglich auf Euro-Basis abgeschlossenen Vertrag auf 1,2 Milliarden Kubikmeter.

Im Branchenverband Gas Infrastructure Europe teilte man dabei mit, dass sich seit Beginn der Ablehnungen europäischer Länder, für das Gas entsprechend dem von Russland diktierten Schema zu zahlen, das Auffüllen der europäischen Untergrundgasspeicher (UGS) verlangsame. Im Juni dieses Jahres liege das Tempo für das Einspeichern von Gas in die UGS in Europa bisher um neun Prozent unterhalb des durchschnittlichen für die vergangenen fünf Jahre. Dabei sah im Mai die Situation anders aus, das Einspeichern sei um 31 Prozent aktiver vorgenommen worden.

Zur gleichen Zeit sind die Lieferungen über die Pipeline „Nord Stream 1“ nach einem kurzzeitigen Absacken aufgrund der Einstellung der Lieferungen an eine Reihe von Verbrauchern wiederhergestellt worden und erfolgen wieder im Durchschnitt auf einem Niveau von beinahe 170 Millionen Kubikmeter am Tag, belegen Angaben des Pipeline-Betreibers Nord Stream AG.

Die Situation für „Gazprom“ wird sich in Europa wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit der faktischen Wegnahme der UGS, die die russische Holding in der EU besitzt, verschlechtern. Die österreichischen Behörden arbeiten beispielsweise juristische Grundlagen für eine Übergabe des UGS in Haidach (bei Salzburg), den „Gazprom“ besitzt, an einen anderen Lieferanten/Versorger aus. „Haidach besitze eine besondere strategische Bedeutung. Er versorgt die Bundesrepublik, aber auch Tirol und Vorarlberg“, erklärte Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) in der ersten Mai-Hälfte.

Er fügte hinzu, dass die hauptsächliche Grundlage für eine Wegnahme des UGS, damit andere Versorger auf ihn zugreifen können, dessen faktische Nichtnutzung durch „Gazprom“ sei. „Für jene Speicher, die nicht genutzt werden, wie die Speicheranlage in Haidach, die „Gazprom“ gehört und sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf einem Füllstand von 0 Prozent befindet (bereits eine Woche nach der Nehammer-Empörung lag der Füllstand des UGS Haidach bereits bei rund 26 Prozent – Anmerkung der Redaktion), haben wir jetzt juristische Voraussetzungen für seine Übergabe auf dem privatrechtlichen Wege geschaffen, wenn „Gazprom“ diesen Speicher nicht nutzt. Gemäß dem Prinzip „use it or lose it“ haben wir Rahmenbedingungen geschaffen, um das Thema der Energiesicherheit bis zum Winter zu forcieren“.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass Österreich im Fall des UGS Haidach die Erfahrungen von Deutschland nachnutzen wird, das sich bereits der Speicheranlage in Rehden – des größten UGS in Westeuropa – bemächtigte. Rehden gehörte früher einem Tochterunternehmen von „Gazprom“ in Europa. Entsprechend einem im April verabschiedeten Gesetz der BRD über die Speicherung von Gas hat jedoch die Regierung das Recht erhalten, von den Betreibern von Speicheranlagen eine Einspeicherung von Erdgas in die UGS bis zu einem Stand von 90 Prozent bis zum 1. November zu fordern. Im Endergebnis wurde der UGS Rehden unter die Verwaltung der Bundesnetzagentur Deutschlands gestellt. Außerdem annullierten die bundesdeutschen Behörden die Rechte auf Lager- bzw. Speicherkapazitäten für „Gazprom Export“.

Der hauptsächliche Grund für die Übernahme bzw. den Entzug des UGS Rehden ist sein geringer Füllstand. So war laut Angaben von Gas Infrastructure Europe der UGS in Rehden mit Stand vom 2. Juni zu etwa zwei Prozent gefüllt gewesen, wobei er Speicherkapazität von fast vier Milliarden Kubikmeter besitzt. Dabei sind die Gasspeicher der BRD insgesamt zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu 50,8 Prozent laut aktuellen Angaben der Bundesnetzagentur mit Stand vom 4. Juni gefüllt (https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/ElektrizitaetundGas/Versorgungssicherheit/aktuelle_gasversorgung/_downloads/06_Juni_22/220606_gaslage.pdf;jsessionid=86084988CE17B71FFFB1FF8571404C07?__blob=publicationFile&v=3). Deutsche Medien haben gleichfalls berichtet, dass die Behörden der BRD eine weitere Nationalisierung von Vermögen der „Gazprom“-Tochter „Gazprom Germania“ nicht ausschließen würden.

Wie „Gazprom“ selbst mitteilte, habe das Unternehmen Zugang zu den aktiven Speicheranalagen UGS Jemgum, Katharina (bei Bernburg/Saale), Rehden, Etzel (bei Wilhelmshaven) in Deutschland, Haidach in Österreich, Banatski Dvor in Serbien, Dambořice in Tschechien und Bergermeer in den Niederlanden. Insgesamt beliefen sich die eigenen Kapazitäten von 2Gazprom“ zur Gasspeicherung in Europa im vergangenen Jahr auf rund 8,6 Milliarden Kubikmeter. Und die abgeschlossenen zusätzlichen Verträge zur Gasspeicherung hatten eine Reserve von weiteren 2,5 Milliarden Kubikmeter in UGS Österreichs, Ungarns und der Slowakei geschaffen.

Dabei entfällt auf die Länder, die bereits entschieden haben, auf russische Lieferungen zu verzichten, der sechste Teil der „Gazprom“-Lieferungen nach Europa. Insgesamt verbrauchten Polen, Bulgarien, Finnland, die Niederlande und Dänemark fast 25 Milliarden Kubikmeter russischen Erdgases im Jahr. Die gesamten Gaslieferungen aus der Russischen Föderation in die EU-Zone beliefen sich auf beinahe 155 Milliarden Kubikmeter im Jahr. Dabei entfiel ein großer Teil der Lieferungen für die Länder, die nun auf russisches Gas verzichten wollen und werden, gerade auf Polen. Das Land verbrauchte zehn Milliarden Kubikmeter russischen Erdgases im Jahr, was genau die Hälfte des eigenen Bedarfs ausmachte. Am wenigsten – Dänemark. Auf die russischen Lieferungen entfielen rund zwei Milliarden Kubikmeter im Jahr.

Derweil liegt der Füllstand der europäischen Untergrundgasspeicher nach wie vor hinter den langjährigen Werten zurück. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt machen die Reserven 48,41 Prozent aus, belegen Daten des Branchenverbands Gas Infrastructure Europe. Der aktuelle Stand der Vorräte in den UGS Europas liegt um 2,3 Prozentpunkte hinter den Durchschnittswerten für die vergangenen fünf Jahre zurück.

Es sei betont, dass Europa ab diesem Jahr eine strenge Regulierung der Nutzung der Untergrundspeicher eingeführt hat. Bis zum Beginn der Ausspeicherungssaison im Jahr 2022 sollen die Reserven mindestens 80 Prozent der UGS-Kapazitäten ausmachen, in den weiteren – 90 Prozenten.

In einzelnen Staaten ist die Situation hinsichtlich der Füllstände besser. So heißt es im am Montag veröffentlichten Report der Bundesnetzagentur Deutschlands, dass die UGS in der BRD zu 50,8 Prozent gefüllt seien. Dies sei mehr als im Juni 2015, 2017, 2018 und 2021. Die Gasversorgung in Deutschland sei stabil. Die Energiesicherheit bleibe eine gesicherte, folgt aus dem Dokument. Die Entscheidung von „Gazprom“, die Gaslieferungen für eine Reihe von europäischen Kunden aufgrund des Unwillens einzustellen, in Rubeln das russische Gas zu bezahlen, habe sich nicht auf die Situation hinsichtlich der Gasversorgung der BRD ausgewirkt, betonte man in der Agentur.

Entsprechend den Ergebnissen der ersten fünf Monate dieses Jahres ist der Export von „Gazprom“ in die Länder des sogenannten fernen Auslands um 27,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen und machte rund 61 Milliarden Kubikmeter Gas aus. Der Gasverbrauch im Landesinnern hat sich aber in dem gleichen Zeitraum um 17,7 Prozent vergrößert. Bei Realisierung des besten Szenarios werden die weggefallenen Mengen der Gaslieferungen nach Europa nur teilweise auf dem Binnenmarkt kompensiert. Die Offiziellen hatten unter anderem zugesagt, im Rahmen des Programms zum weiteren Anschluss an die zentrale Gasversorgung bis zu zwei Millionen Haushalte zu erfassen. Wenn angenommen wird, dass alle zwei Millionen Privathäuser mit einem durchschnittlichen Monatsverbrauch von rund 420 Kubikmetern Gas sind, so könnten all diese zwei Millionen über zehn Milliarden Gas im Jahr verbrauchen. Der Leiter von „Gazprom Meshregiongaz“, Sergej Gustow, schätzte, dass das Programm zum weiteren Anschluss an die zentrale Gasversorgung die Nachfrage nach Gas in Russland um 18,6 Milliarden Kubikmeter oder um 7,5 Prozent erhöhen werde.

Dmitrij Schurawljow, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für regionale Probleme, stimmt zu, dass man das nicht nach Europa fließende Erdgas auf den Binnenmarkt bringen und damit den Anschluss an eine zentrale Gasversorgung im eigenen Land fortsetzen müsse. Dabei ist sich ein Teil der Experten der „NG“ sicher, dass sich die wegfallenden Liefermengen für „Gazprom“ wenig zu Buche schlagen würden. „Aus der Liste der europäischen Länder mit einem Gesamtumfang der jährlichen Lieferungen von 155 Milliarden Kubikmeter haben sich nur ganze fünf Länder – Polen, Bulgarien, Finnland, die Niederlande und Dänemark – geweigert, in Rubeln zu zahlen. Das heißt: Die „verlorene“ Menge an Lieferungen machte 19,1 Milliarden Kubikmeter im Jahr oder zwölf Prozent aus“, berichtet Alexej Fjodorow, Analytiker des Investitionsunternehmens TeleTrade. Dabei bezweifelt er die Möglichkeit Polens, vollkommen auf den Kauf russischen Erdgases bis zum Oktober des Jahres 2022 zu verzichten, wenn der Bau der Gaspipeline „Baltic Pipe“ für norwegische Gaslieferungen abgeschlossen wird. „Daher ist nicht auszuschließen, dass unter den Bedingungen eines Mangels von Gasmengen in der Welt die übrigen Länder, die sich weigerten, doch russisches Gas entweder direkt oder über dritte Länder kaufen werden“, erklärte er. „Was die Gaseinnahmen angeht, so werden alle Versuche, die Logistik der Lieferungen zu erschweren, zu einem Ansteigen der Preise führen. Und daher kann Russland durch diese ganze Situation in einem guten Plus bleiben“, ist sich der Analytiker gewiss.

„In Europa ändert sich die Produktivität bzw. Leistung im Jahresverlauf – genauso wie auch in Russland – in Abhängigkeit von der Jahreszeit. Gegenwärtig herrscht eine Hochsaison im Bauwesen, es erfolgen Feldarbeiten. Der Bedarf an Elektroenergie und Gas ist geringer als in kalten Zeiten. Und es gibt vorerst einen Zeitraum für ein Handeln und für die Empörungen aufgrund der Bezahlung des russischen Erdgases in Rubeln gemäß dem neuen Schema“, meint Dozent Alexander Timofejew von der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität. „Solch eine langanhaltende Verschleppung des Einspeicherns von Gas in die Untergrundgasspeicher in einem Umfang von 0,5 bis 0,7 Prozent am Tag wird zu dem Risiko einer unzureichenden Auffüllung der UGS bis zur Heizperiode und zu einer hektischen Zunahme der Preise für Gas nicht einmal von Russland führen. Und dies nicht nur in Bezug auf kurzfristige Verträge“, urteilt der Experte.