Laut vorliegenden statistischen Angaben erfolgt derzeit aus Russland ein Exodus von Gastarbeitern, der mit der am 24. Februar begonnenen militärischen Sonderoperation in der Ukraine und den westlichen Sanktionen zusammenhängt. Die Einwanderung aus den Ländern Mittelasiens für eine Arbeitstätigkeit in Russland bleibe jedoch nach wie vor eine vorteilhafte, meint man beispielsweise im Institut für Studien und Expertise der VEB.RF. Dort hat man einen großen Bericht über die Situation und Vorschläge, wie man Gastarbeiter zurückgewinnen kann, vorbereitet. Neben finanziellen und steuerlichen Vergünstigungen wird vorgeschlagen, ihnen auch einen Zugang zu Funktionen in den Kommunen zu ermöglichen. Andere Experten verweisen auf das Risiko, dass man Migranten auf das Territorium der Europäischen Union als eine der Sanktionen gegen die Russische Föderation locken werde.
Im ersten Quartal dieses Jahres sind über 60.000 Menschen nach Tadschikistan zurückgekehrt, das heißt um das 2,6fache mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Nach Usbekistan seien 133.000 Arbeitsmigranten zurückgekehrt, teilte beispielsweise der stellvertretende Leiter der Agentur für auswärtige Arbeitsmigration dieses Landes, Asisbek Junusow, mit.
„Die Arbeitsmigration ist eine objektive Notwendigkeit für Russland. Man muss die Politik in diesem Bereich vervollkommnen“, heißt es im Bericht des Instituts für Studien und Expertise der VEB.RF. Die Experten sind davon überzeugt, dass die Einheimischen nicht bereit seien, die Arbeitsplätze einzunehmen, die eine schwere Arbeit für wenig Geld vorsehen. Es werde auch weiterhin notwendig sein, den Mangel durch den Zustrom ausländischer Arbeitskräfte – vor allem aus Ländern der GUS – wettzumachen. Derzeit würden beispielsweiseweise, wie im Report ausgewiesen wird, die Arbeitsmigranten rund zwölf Prozent der Arbeitskräfte in Russland ausmachen.
Die Experten des Instituts haben zum Beispiel erläutert, dass die Gastarbeiter die Funktion eines Puffers bei einer Verschlechterung der Wirtschaftssituation erfüllen würden. In einer Krise entlasse man sie in erster Linie. Aus wirtschaftlicher Sicht reduziere die billige Arbeit der Zugereisten wesentlich die Ausgaben der Unternehmen. Folglich „werden deren Erzeugnisse und die Unternehmen an sich wettbewerbsfähiger“. Die Autoren des Berichts sind nicht mit der Meinung einverstanden, dass die Migranten das Lohnniveau in Russland negativ beeinflussen würden. In der Untersuchung heißt es, dass die Migrationsströme einen positiven Einfluss auf die Gehälter von Fachleuten mit einer Grund- und Fachschulausbildung ausüben könnten. „Die Migration stimuliert die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt in den Bereichen mit einer geringen Qualifikation, weshalb die einheimischen Arbeitnehmer zu höher bezahlten Arbeitsplätzen wechseln“. Dabei würden die Gastarbeiter nicht auf hochqualifizierte und hochbezahlte Arbeitsplätze Anspruch erheben. Folglich würden sie die Löhne und Gehälter der hochgebildeten einheimischen Spezialisten in keiner Weise beeinflussen.
Die Experten skizzierten, wie sich in den letzten 15 Jahren das Profil eines zugewanderten Arbeitnehmers verändert hat. Während früher zum Geldverdienen in die Russische Föderation aus Usbekistan Menschen im Alter von mehr als 40 Jahren gekommen waren, so kommen gegenwärtig vor allem junge Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren. Im Jahr 2008 erreichte der Anteil der Zugewanderten, die eine Hochschulausbildung besaßen, 30 Prozent, so waren es im Jahr 2019 nur vier Prozent an solchen. Ähnliche Tendenzen gibt es auch hinsichtlich der anderen Länder Mittelasiens. Dabei stammen die meisten Einwanderer aus armen ländlichen Gebieten.
In dem Bericht wird betont, dass es für die Offiziellen Sinn mache, sich Gedanken über die Schaffung eines Systems zur Berufsausbildung und Anpassung der Zugereisten in der russischen Gesellschaft zu machen. Für sie seien eine eigene Jobbörse, unterschiedliche finanzielle und wirtschaftliche Stimuli nötig, aber augenscheinlich auch das Recht, Funktionen in Organen der örtlichen Selbstverwaltung in den Orten mit der dichtesten Besiedlung durch Gastarbeiter zu bekleiden. Wie Alexej Korschunow, Leiter des Lehrstuhls für Tourismus der Moskauer Staatsuniversität für Sport und Tourismus, der „NG“ sagte, vermittle der Bericht ein Verständnis für „die kritische Bedeutung des Migrationsfaktors für die Entwicklung vieler Branchen“. Und der Experte lenkte das Augenmerk auf eine interessante Tendenz: Das Gerede von einer Veränderung der Migrationspolitik gehe aus dem emotionalen Bereich in den wirtschaftlichen über. „Wir analysieren nüchtern die Situation und versuchen, irgendwelche vernünftigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die offensichtlichsten sind: Wenn die Migration heute so wichtig ist, so muss man normale Bedingungen für das Leben und die Arbeit der Migranten schaffen und deren Integration in unsere Gesellschaft erreichen“. Dabei unterstrich Korschunow, dass im letzten Jahr eine vorsichtige Interessiertheit und ein Ertasten potenzieller Möglichkeiten bei der Gewinnung von Arbeitskräften, insbesondere aus Kirgisien, seitens EU-Länder zu beobachten gewesen seien. „Man muss begreifen, dass in der modernen Wirtschaft Arbeitsressourcen genau solch ein Exportprodukt wie Erdöl und Gas sein können. Und viele Staaten begreifen dies ausgezeichnet“, erläuterte er. Eine andere wichtige Schlussfolgerung, auf die nach Aussagen Korschunows das Studium des Reports hinführe, sei, wie man das, was heute als Importsubstitution bezeichnet werde, hinsichtlich solch einer wichtigen Ressource wie Arbeitskräfte gewährleisten könne. Wenn man morgen den Zustrom billiger Arbeitskräfte nach Russland blockieren würde, wie würde darauf dessen Wirtschaft reagieren?
Der Direktor der Autonomen nichtkommerziellen Organisation „Akademische Allianz“ und Dozent an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst, Michail Burda, ist jedoch davon überzeugt, dass diese Studie von VEB.RF lediglich das demonstriere, „auf was für eine hohe Ebene die Migrationslobbyisten gekommen sind“. „Während sie früher im Rahmen gesellschaftlicher Organisationen agierten, so versuchen sie nunmehr, aktiv „zu den Herrschenden zu gelangen“, wobei sie ihre Interessen auf der Ebene einzelner exekutiver Machtorgane promoten, die in der einen oder anderen Weise mit der äußeren Migration verbunden sind“. Nach seinen Worten werde lediglich andeutungsweise erwähnt, dass die Migrationsströme in die Russische Föderation in ihrer Masse nichtqualifizierte/unausgebildete Arbeitskräfte seien. Aber wo sind da die vorausgesagte Entwicklung, die Anhebung des technologischen Charakters der Arbeit und die anderen schönen Worte, die auf auf unterschiedlichen Wirtschaftsforen deklariert werden? Eine noch größere Frage sei, unterstrich Burda, warum das Überweisen von Geldern durch die Migranten in die Heimat auch als eine positive Tendenz angesehen werde. In der eingangs erwähnten Studie wird betont, dass die Gastarbeiter eine Erhöhung des Fassungsvermögens des Binnenmarktes Russlands fördern würden, da von der Hälfte bis zu zwei Drittel der Löhne für den Erwerb von Lebensmitteln sowie anderen Waren und Leistungen im Aufenthaltsland ausgegeben werden. Obgleich es laut Angaben von Burda selbst um ein Herausbringen von Milliarden Dollar aus dem Land gehe, die „in unserer Wirtschaft arbeiten könnten, wenn sie durch Einheimische verdient worden wären. Natürlich nur, wenn die Arbeitgeber nicht an den Löhnen und Gehältern, sozialen Zahlungen und Arbeitsbedingungen sparen und nicht Migranten einstellen würden, die bereit seien, unter jeglichen Bedingungen zu arbeiten.
In dem Dokument von VEB.RF werden solche Probleme wie die Integration von Migranten anderer Kulturen, Konflikte mit Einheimischen, die Teilnahme von Ankömmlingen und deren Gegner an einer Protesttätigkeit, die Radikalisierung der Migranten-Gemeinschaften, die inoffizielle Beschäftigung sowie die Entstehung kompakter Wohngemeinschaften der Migranten aufgezählt. Aber bei all diesen negativen Momenten würden die Forscher vorschlagen, fuhr der Experte fort, Migranten zu einer örtlichen Selbstverwaltung zuzulassen. Das heißt, praktisch den Weg der Europäer zu gehen, die „bereits voll und ganz die Toleranz seitens der Ankömmlinge und deren aggressives Aufzwingen ihrer Ordnungen und Werte gegenüber den Einheimischen ausgekostet haben“. Nach seinen Worten habe dies bereits für Europa dazu geführt, dass die Feiern und die Symbolik von christlichen Festen und Feiertagen wie Weihnachten, Ostern und andere in einzelnen Kommunen aufgehoben worden und damit zu typischen Fällen geworden seien, da sie angeblich die Ankömmlinge beleidigen würden, wobei der Experte Michail Burda freilich keine konkreten Beispiele nannte.
Der Vorsitzende der Bewegung „Bürgersolidarität“, Georgij Fjodorow, schließt nicht aus, dass der Bericht im Auftrag irgendwelcher Business-Strukturen vorbereitet wurde, die einen Vorteil aus der Gewinnung von Arbeitsmigranten erzielen. Er erläuterte, dass, wenn man den Empfehlungen der Autoren folgen würde, wir bald „nicht bloß Enklaven mit ihrer Religion, Mentalität und Kultur, sondern auch eine direkte Beeinträchtigung der Rechte der alteingesessenen Bevölkerung hinsichtlich aller Parameter bekommen werden“. Gebraucht werde eine wirtschaftliche Stimulierung hinsichtlich der alteingesessenen Bevölkerung und hochqualifizierten ausländischen Fachleute, die imstande seien, einen realen Beitrag zur Entwicklung des Landes zu leisten. „Dabei macht es Sinn zu begreifen, dass, da die hauptsächliche Masse der Arbeitsmigranten Menschen ohne eine Ausbildung sowie ohne Sprachkenntnisse und das Verstehen der Kultur des sie umgebenden Umfeldes sind, solche Enklaven zu einer Brutstätte religiösen Extremismus und ethnisch geprägter Kriminalität werden können“, unterstrich Fjodorow.
Wie der Bürgeraktivist Alexej Jegorkin die „NG“ erinnerte, würden in Russland bereits einige Lockerungen für die Gewinnung einer großen Anzahl ausländischer Arbeitskräfte vorgenommen werden. Das Justizministerium plane beispielsweise, das Limit für die Gewinnung von Arbeitskräften aus Usbekistan aufzuheben. Derzeit mache es 10.000 Menschen aus. Oder zum Beispiel: Während derzeit an einer organisierten Gewinnung nur Firmen aus dem Bauwesen und der Landwirtschaft teilnehmen können, so ist jetzt geplant, auch andere Branchen an dieses System anzukoppeln. Dabei verwies Jegorkin darauf: „Angesichts des Bestrebens, die Migranten aus Mittelasien zu integrieren, vergisst man, dass sie sich selbst nicht beeilen, sich zu integrieren. Und selbst wenn sie nicht in Enklaven leben, wird zumindest ihr Kommunikationskreis vor allem ausschließlich durch Landsleute bestimmt“. Die Zustimmung zu schweren Arbeiten und ein Wohnen unter schlechten Bedingungen für Kopeken ist ganz und gar kein Plus für das Land, wie dies indirekt in dem Report dargestellt wird, sondern ein Hindernis für eine qualitative wirtschaftliche Entwicklung. Dafür muss man einen „Standard für die Lebensqualität“ bestimmen und ihn auf gesetzgeberischer Ebene annehmen, was „den Migranten erlauben würde, mit einem würdigen Leben auf dem Territorium Russlands zu rechnen, und gleichzeitig für unsere Bürger eine Menge freier Arbeitsstellen eröffnen würde, die sich derzeit unter einem korruptionsbedingten Druck befinden“. Noch ein Aspekt, der von den Autoren des Reports politkorrekt ausgeklammert wurde, sei, wie Jegorkin konstatierte, die Ausreise einer Menge wirtschaftlich gestandener und aktiver Bürger aus der Russischen Föderation, die eine Berufsausbildung im Bereich der Hochtechnologien besitzen. Das Land habe beispielsweise schon einen Personalmangel im IT-Bereich zu spüren bekommen. „Und viele unserer Mitbürger mit stark gefragten Berufen sind gerade in Länder Mittelasiens gereist. Im Ergebnis dessen haben wir ein Braindrain aus unserem Land gefördert. Und anstelle dessen öffnen wir die Türen für geringqualifizierte und oft auch marginalisierte Subjekte. Außerdem erörtern wir auch noch die Frage nach deren Involvierung in Machtorgane“. Das heißt: Anstatt systematisch und fundamental zu handeln, gebe es wieder den Versuch, die Fragen entsprechend der Situation zu lösen.
Bezeichnend ist, dass sich die Migranten selbst in den sozialen Netzwerken negativ über die Stimuli für sie, die die Offiziellen der Russischen Föderation verkünden, äußern. „Über 30 Jahre hat man die Rechte verletzt, wie man nur konnte. Jegliche Patente, Gebühren und eine ständige Diskriminierung seitens der Vertreter der Rechtsschutzorgane. Nur jetzt wird schon keiner dorthin fahren, denn Russlands Wirtschaft bricht vor aller Augen zusammen“. Solch einen Post fand die „NG“ auf einem der Gastarbeiter-Foren. Andere Äußerungen sind etwa ähnlich. „Beamte, wir sind für euch keine Sklaven. Die Migranten kommen, um für ihre Familie Geld zu verdienen und nicht um die Russen zu ernähren.“ „Nicht in einem einzigen Land der Welt wohnen Migranten in Kellern oder Waggons. Es ist besser, in der Heimat 100 Dollar zu verdienen als 30.000 Rubel in eurem Russland.“ Einige äußern aber die Befürchtungen, dass man ihre Landsleute „für eine Hilfe für die russische Armee anzuwerben“ beginnen werde. Wozu würden dies aber die Menschen brauchen, die lediglich aufgrund des Geldes in die Russische Föderation kommen?