Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Russland: Lilia Tschanyschewa erwartet Schauprozess


Die strafrechtliche Verfolgung der Ex-Koordinatorin der Nawalny-Anhänger in Ufa, Lilia Tschanyschewa, der eine extremistische Tätigkeit vorgeworfen wird, werten die Vertreter der außerparlamentarischen Opposition als einen belehrenden Prozess gegen all ihre Anhänger in Russland, die noch nicht im Ausland untergetaucht sind oder keine Reue gezeigt haben. Und die sich in der Emigration befindliche Opposition hat gerade eine neue Saison des virtuellen Kampfes gegen das Regime begonnen. Eben jene Nawalny-Anhänger haben beispielsweise Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung im Stil des VTsIOM veröffentlicht. Das heißt mit spektakulären Schlussfolgerungen aus einer minimalen Datenmenge. Zum Leben zurückgekehrt ist auch das Forum für ein freies Russland, das ebenfalls den Offiziellen der Russischen Föderation mit Druck von außen droht.

In den sozialen Netzwerken der Nawalny-Vertreter, deren Führung außerhalb des Landes untergetaucht ist, sind Aufrufe an die Aktivisten aufgetaucht, die noch in Russland geblieben sind. Man redet auf sie ein, die Ängste zu überwinden und doch die Oppositionstätigkeit zumindest im Internet fortzusetzen. Dies ist eine Reaktion auf die am Vorabend getroffene Entscheidung des Obersten Gerichts der russischen Teilrepublik Baschkirien, die schwangere Lilia Tschanyschewa zwecks Fortsetzung des Strafverfahrens aufgrund angeblicher extremistischer Aktivitäten in der U-Haft zu belassen. Die Vertreter der Nichtsystem-, der außerparlamentarischen Opposition erläutern richtig, dass der künftige Prozess zu einer gewissen erzieherischen Maßnahme hinsichtlich jener werde, die noch nicht alles begriffen hätten.

Nach der Zerschlagung der Strukturen von Alexej Nawalny in Russland und ihrer anschließenden Selbstliquidierung im vergangenen Frühjahr waren die Hauptfiguren der Bewegung gezwungen gewesen, das Land zu verlassen. Und wenn noch im Verlauf der Wahlkampagne das „Smart Voting“ („Kluges Abstimmen“) der Nawalny-Vertreter zumindest irgendwie einem realen Kampf gegen die Herrschenden ähnelte, so sehen die nunmehrigen Versuche, „das Regime zu kippen“ bereits wie reine Politemigranten-Scherze aus. Sie zeichnen bekanntlich ein maximaler Grad an Lautstärke aus, freilich in einem begrenzten Raum, aber auch ein leichtes Verhältnis zu jenen Zahlen und Tatsachen, die einen unweigerlichen Fall der herrschenden Offiziellen behaupten. Gerade dies erklärten die Nawalny-Vertreter auch zu den Ergebnissen einer von ihnen auf irgendeine Weise angeblich durchgeführten gesamtrussischen soziologischen Umfrage.

Die Technologien, die üblicherweise die machttreuen Soziologen anwenden, seien im vollen Umfang auch durch die Oppositionellen genutzt worden. Wobei es ihnen in dem einen oder anderen gar gelungen ist, eben jenes staatliche Allrussische Meinungsforschungszentrum VTsIOM zu übertrumpfen. Dort stellt man üblicherweise die einen oder anderen Antworten der Befragten als Meinung nicht der Befragten, sondern gleich der Bürger Russlands dar. Dies ist aber das einfachste Verfahren. Die Nawalny-Vertreter sind jedoch weiter gegangen. Beispielsweise ziehen sie die Schlussfolgerung, wonach am 19. September das „Smart Voting“ „einen großen politischen Sieg errungen hat“, auf der Grundlage von ein paar Werten, die Annahmen sind, die stupide zu eigenen Gunsten getroffen worden sind.

Zum Beispiel habe man bei einer Telefonbefragung von 1000 Menschen, die – wie mitgeteilt wird – entsprechend einer repräsentativen Skala ausgewählt wurden, von den Befragten, die in die Wahllokale gegangen waren (51 Prozent), erfahren, für welche Partei sie doch gestimmten hätten. Zu einer Unterstützung der Kremlpartei „Einiges Russland“ hätten sich 31 Prozent bekannt, 19 Prozent hätten mitgeteilt, dass sie die KPRF gewählt hätten. Die Newcomer-Partei „Neue Leute“ hätte mit 8 Prozent die LDPR mit sechs Prozent übertroffen. Die Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ hat entsprechend dieser Umfrage ebenfalls sechs Prozent bekommen. Und weitere fünf Prozent seien an andere Parteien gegangen. Auf dem zweiten Platz lag angeblich die Antwort „ich möchte nicht sagen, wie ich abgestimmt habe“ mit 22 Prozent. Etwa genau solch eine ablehnende Reaktion erhielten die Nawalny-Vertreter auch bei der Klärung des Abstimmungsverhaltens hinsichtlich der Direktwahlbezirke.

Und dies alles wurde als ein hoher Wert für das Protest-Abstimmen interpretiert, was die Menschen einfach aufgrund der Angst vor den Herrschenden nicht eingestehen wollen. Aus irgendeinem Grunde ist den Nawalny-Vertreter angeblich überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass diese Angst auch ihnen gegenüber existieren könne, der Politstruktur, die in der Russischen Föderation als eine extremistische eingestuft und verboten wurde und aus der mehrfach Personendaten von Bürgern publik geworden sind. Es ist offensichtlich, dass dies eine offenkundige Manipulation ist. Solch eine ist auch die Behauptung, dass, wenn 39 Prozent aller Befragten die offiziellen Wahlergebnisse nicht für eine Widerspiegelung der realen Meinung der Bürger Russlands halten, so man dies nur als eine Unterstützung für die Opposition interpretieren könne. Obgleich man sich durchaus vorstellen kann, dass die Wähler sowohl der Kremlpartei „Einiges Russland“ als auch der anderen Duma-Parteien und der Neulinge der (Wahl-) Kampagne zusammen mit ihren Außenseitern gern einen größeren Erfolg gehabt hätten.

Da die Hauptaufgabe eines Politemigranten — besonders eines neuen – darin besteht, unbedingt die Behauptung zu äußern, dass die Legitimität der gegenwärtigen Herrschenden gen Null tendiere, so kann man solch eine These auf unterschiedliche Art und Weise belegen. Man kann sie aber auch überhaupt nicht beweisen. Und während die Nawalny-Vertreter versuchen, VTsIOM auf dem Feld der soziologischen Umfragen zu übertrumpfen, so weiß beispielsweise das Forum für ein freies Russland, das in diesem Jahr erneut in Litauen dank der Anstrengungen von Schach-Ex-Weltmeister Garri Kasparow zusammenkommen wird, einfach davon, dass der Kreml angeblich nicht mehr lange leben werde. Im Programm der Anfang Dezember anstehenden Sitzungsrunden in Vilnius gibt es praktisch keine Diskussionen über die politische Arbeit im Land. Dafür gibt es aber beispielsweise solch eine Podiumsdiskussion „Die Opposition in der Emigration: von Worten zu Taten“. Freilich sind die Handlungen auch vor allem verbale. In erster Linie ist dies ein Agitieren in Bezug auf die westlichen Gesellschaften und Regierungen zwecks weiterer Verschärfung der Sanktionen gegen Vertreter der russischen Herrschenden im weiten Sinne dieses Begriffs.