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Russland soll Reue bekunden


Der am 15. und 16. Mai erfolgte Summit der Demokratien in Kopenhagen (Copenhagen Democracy Summit) hat in Russland keine große Publizität erfahren. Dennoch aber macht es Sinn, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Im Verlauf des Summits hatte Estlands Regierungschefin Kaja Kallas eine wichtige Erklärung abgegeben: „Um eine Zukunft zu haben, muss das russische Volk die nationale Schuld eingestehen und die Verantwortung für die vergangenen und heutigen Straftaten übernehmen. Dies ist nicht bloß ein Krieg Putins. Das Volk trägt gleichfalls Verantwortung…“.

Vorsichtiger war der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (aber nicht bei dem Forum in Kopenhagen – Anmerkung der Redaktion), der erklärt hatte, dass er auf ein Entstehen von Demokratie in Russland nach der Niederlage von Präsident Wladimir Putin hoffe.

Dies sind nicht einfach erneute Wortmeldungen westlicher Politiker gegen Russland. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat nicht Russland, sondern haben andere Länder eine nationale Schuld eingestanden und Reue für vergangene und heutige Verbrechen bekundet. Der Zweite Weltkrieg war juristisch mit der Unterzeichnung der Pariser Friedensverträge am 10. Februar 1947 mit den Verbündeten Deutschlands – Bulgarien, Ungarn, Italien, Rumänien und Finnland – beendet worden. (Mit Deutschland an sich ist nach wie vor formal kein Friedensvertrag abgeschlossen worden. Es gibt nur den Moskauer Vertrag von 1990 über die Bedingungen für dessen Wiedervereinigung.) Gerade diese Länder wurden juristisch als Verlierermächte angesehen, die territoriale Verluste einstecken mussten, Reparationen zahlten und ihre Schuld für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges anerkannten.

Aus rechtlicher Sicht hat sich die Situation in Europa nach wie vor nicht verändert. Auf dem europäischen Kontinent hat es militärische Konflikte und sogar Kriege gegeben, wie beispielsweise die Balkankrieges in den 1990er Jahren oder den georgischen Krieg von 2008. Juristisch aber ist nicht ein einziger von ihnen mit der Unterzeichnung von Friedensverträgen mit einer eindeutigen Bestimmung der Sieger und der Besiegten beendet worden. Juristisch besiegte bleiben bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt Deutschland und dessen Verbündete, ob dies irgendwem in Europa gefallen mag oder nicht. Jetzt wollen die Eliten der NATO-Länder scheinbar die Situation verändern, darunter zu Lasten von Russland.

Es gibt da auch einen anderen interessanten Aspekt: Bulgarien, Ungarn und Rumänien waren nach dem Krieg Mitglieder des „sozialistischen Lagers“ und der Organisation des Warschauer Vertrages. Die UdSSR hatte jedoch in den Beziehungen mit ihnen die Pariser Verträge von 1947 nicht annulliert und nicht erklärt, dass von nun an diese Länder für uns keine Verantwortung für die Handlungen ihrer Regierungen in den Jahren des Zweiten Weltkrieges tragen würden. Analog hatten die USA und Großbritannien die Pariser Friedensverträge mit Italien und Finnland nicht annulliert, womit sie diese nicht von der Schuld für den Krieg entbunden haben. Nicht annulliert haben die westlichen Alliierten auch den Bonner Vertrag (bekannt auch als Deutschlandvertrag – Anmerkung der Redaktion) vom 26. Mai 1952 zwischen der damaligen Bundesrepublik Deutschland und den drei westlichen Besatzungsmächten Frankreich, Großbritannien und USA. Der Kalte Krieg erfolgte entsprechend seinem Szenario. Aber das System der Pariser Verträge als Grundlage der europäischen Beziehungen hatte nicht eine der Supermächte angetastet.

Jetzt verändert sich die Situation. Die Erklärung der Ministerpräsidentin Estlands und des deutschen Bundeskanzlers sind ein gewisser Testballon für den möglichen Appell zur Revision der Pariser Friedensverträge – zumindest hinsichtlich einiger Parameter. Die Konsequenzen dieser Politik können Bedingungen für deren Annullierung und für eine Neuformatierung der europäischen Beziehungen schaffen.

Erstens werden die im Zweiten Weltkrieg besiegten Länder ein Schlupfloch erhalten, um aus dem System der Pariser Restriktionen auszusteigen. Die Logik wird hier eine simple sein: „Jetzt gibt es bereits einen neuen Krieg, neue Verantwortliche und Schuldige. Und die Pariser Verträge von 1947 sind eine Angelegenheit der Vergangenheit, sozusagen des Krim-Krieges“. Moskaus Position wird für die NATO-Länder eine wenig interessante sein. Das Wichtigste ist: Man schafft mit den besiegten Ländern einen Vorlauf für die Aufhebung der Restriktionen im Rahmen seines NATO-EU-Systems.

Zweitens werden die besiegten Länder die Möglichkeit erhalten, die Bestimmung über ihre Schuld für den Zweiten Weltkrieg zu nivellieren. Wenn in Bezug auf Russland eine „nationale Schuld“ anerkannt wird, so wird ihre Schuld sozusagen der Vergangenheit anheimfallen und zu einem Gut der Geschichte werden.

Drittens können die besiegten Länder gegenüber Russland Gebietsansprüche anmelden. Eine besondere Gefahr stellt hierbei Finnland dar. Entsprechend den Bedingungen des Pariser Friedensvertrages von 1947 hatte es die Übergabe des Hafens Petsamo (Petschenga), von Teilen Kareliens und der Karelischen Landenge an die UdSSR (alles in allem sieben Prozent des damaligen finnischen Territoriums – Anmerkung der Redaktion) anerkannt und einen Sonderstatus für die Alandinseln garantiert. (Die UdSSR hatte auch bei den Finnen den Stützpunkt Porkkala-Udd gepachtet, aber 1956 an Finnland zurückgegeben.) Jetzt kann sich Finnland, nachdem es theoretisch vom Pariser Frieden Abstand nimmt, seiner Gebietsansprüche gegenüber Russland erinnern. Allerdings kann dies Helsinki auch ohne eine Annullierung des Pariser Friedens tun. Im heutigen Europa ist die Haltung gegenüber dem Recht eine selektive.

Viertens darf man auch nicht die Gebietsansprüche der baltischen Länder gegenüber Russland vergessen. Estland bewahrt die ganze Zeit eine mehrdeutige Position hinsichtlich seiner Ansprüche auf russische Territorien – das rechte Narva-Ufer und den Petschora-Kreis. Auf offizieller Ebene signalisiert auch Lettland gegenüber Russland Ansprüche auf den Pytalowo-Kreis. Die Erklärungen über eine gewisse „nationale Schuld und Verantwortung der Russen“ sind im Kontext der halboffiziellen Gebietsansprüche dieser Länder zu sehen. Wenn Russland „Reue bekunden“ und eine gewisse „nationale Schuld“ sühnen soll, so können Estland und Lettland von ihm gewisse Territorien fordern.

Diese Länder begründen ihre Ansprüche gegenüber unserem Land mit den Friedensverträgen mit Sowjetrussland von 1920. Auf den ersten Blick hängt dieses Problem nicht direkt mit den Pariser Verträgen von 1947 zusammen. Aber nur auf den ersten Blick. Die territoriale Aufgliederung Osteuropas basiert auf dem „Pariser System“. Seine Erosion wird diesen Ländern erlauben, die Frage nach einer Rückkehr zum System der früheren Abkommen aufzuwerfen.

Fünftens können die Verliererstaaten, die sich vom Status der Verlierer juristisch gelöst haben, Gebietsansprüche formulieren. Ungarn – in Bezug auf das ukrainische Karpatengebiet, die serbische Vojvodina und möglicherweise einen Teil des rumänischen Transsilvaniens; Rumänien – auf die ukrainische Nördliche Bukowina und Ismail, aber auch auf einen Großteil Moldawiens, das bis 1940 Teil Rumäniens gewesen war. Bulgarien hat seine Ansprüche in Bezug auf mazedonische Gebiete. Denn, wenn die Pariser Friedensverträge über den Haufen geworfen werden, wird auch die heutige territoriale Regulierung in Osteuropa in Frage gestellt.

In den vergangenen 30 Jahren ist in unserem Land viel über ein „Ende der Jalta-Ordnung“ und über den „Tod der UNO“ gesprochen worden. Dabei hatte keiner die normativ-rechtliche Basis der Jalta-Ordnung anzutasten versucht. Aus rechtlicher Sicht leben wir weiterhin entsprechend den Gesetzen, die durch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges festgelegt worden waren. Wir haben den Begriff „Zusammenbruch der Nachkriegsordnung“ so sehr entwertet, dass wir uns selten darüber Gedanken machen, wie sie tatsächlich aussehen wird. Derweil steht ihr wahres Auseinanderbrechen in Form einer Erosion möglicherweise noch bevor, was für Russland weitaus ernsthaftere Schwierigkeiten  verursachen wird.