Der Moskau-Besuch von Josep Borrell, des Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, vom 4. bis 6. Februar wurde zu einem Referenzpunkt in den sich rasant verschlechternden Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union. Bemerkenswert ist, dass Borrell ins Zentrum einer harten Kritik sowohl in Moskau als auch in Brüssel mit dem nur einzigen Unterschied geraten war, dass er im ersten Fall als Sprachrohr der „generellen antirussischen Linie der Europäischen Union“ wahrgenommen wurde, während er im zweiten Fall durch europäische Parlamentarier und Politiker eines Scheiterns seiner Mission bezichtigt wurde.
Mission Impossible
Beinahe der Hälfte der Länder der Europäischen Union hatte Einwände hinsichtlich der Zeitgemäßheit des Moskau-Besuchs von Borrell bekundet. Für die Anhänger einer harten Linie hinsichtlich Moskaus war es das Wichtigste, noch einmal die Unversöhnlichkeit der Europäischen Union gegenüber den Menschenrechtsverletzungen durch die russischen Offiziellen im Zusammenhang mit der Festnahme von Alexej Nawalny und der Unterdrückung der Manifestationen zur Unterstützung politischer Gefangener zu markieren. Gerade darin hatten sie den Sinn der Reise des Hauptdiplomaten der EU gesehen. Für Borrell wie auch für die gesamte EU-Führung war es wichtiger gewesen, ein Gleichgewicht zwischen dem Festhalten an den europäischen Normen und der Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Russland hinsichtlich der entscheidenden Fragen der internationalen Politik zu finden. Von dem hatte er sich auch leiten lassen, als er Russland aufgrund des „Nawalny-Falls“, dessen Handlungen im Osten der Ukraine und der Loslösung der Krim kritisierte und gleichzeitig Moskau eine Zusammenarbeit hinsichtlich einer Reihe solcher wichtigen Fragen wie den Klimaschutz und die Rettung des Nuklearabkommens mit dem Iran vorschlug.
Die Verbindung dieser beiden parallele Kurse hat sich jedoch, wie der Borrell-Besuch klar zeigte, sowohl als problematisch vom Prinzip her als auch als konterproduktiv für den europäischen Beamten an sich erwiesen. Seine Moskau-Reise wurde von mehreren Parlamentariern und Politikern als ein „diplomatisches Fiasko“, seine Antworten auf die Beanstandungen der russischen Seite bezüglich der Menschenrechtsverletzungen in der EU an sich als überzogen milde und die Lobpreisungen für das russische COVID-19-Vakzin als zu huldigende bezeichnet.
Es scheint, dass die Hauptpleite der Mission von Borrell darin besteht, dass sie nichts Neues zum bevorstehenden März-Gipfel der EU zu Russland beigesteuert hat. Es löste keine Zweifel aus, dass sich Borrell von den besten Motiven und Erwägungen leiten ließ. Er hat einfach seine Möglichkeiten überschätzt und den Grad der Gereiztheit der empfangenen Seite unterschätzt. Für den Besuch war der ungünstigste Zeitpunkt ausgewählt worden, wenn man die Brisanz der russischen innenpolitischen Situation berücksichtigt.
Bei einer Plenarsitzung des Europaparlaments zu den Ergebnissen seines Moskau-Besuchs war Borrell gezwungen gewesen einzugestehen, dass „Russland nicht die Erwartungen gerechtfertigt hatte und zu keiner modernen Demokratie geworden ist. Anstelle dessen nimmt das Misstrauen zwischen Russland und der EU zu“. Er erklärte gleichfalls, dass er sein Recht in Anspruch nehme und eine Initiative für neue Sanktionen gegen die Russische Föderation unterbreite. Gleichzeitig unterstrich der Chef der europäischen Diplomatie, dass er es für die EU nach wie vor für notwendig erachte, den Dialog mit Russland hinsichtlich jener Fragen zu bewahren, die für Brüssel von Interesse sind, aber auch die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen. Ungeachtet der Kritik erläuterte Borrell, dass er in keiner Weise seine Moskau-reise bedauere, da er denke, dass Gespräche mit Partnern und Opponenten, wie hoffnungslos sie auch erscheinen mögen, gerade das Wesen der Diplomatie ausmachen würden.
Emotionen und Realitäten
Für Moskau war der Besuch des Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik ein wichtiger Anlass, noch einmal den entschiedenen Widerstand gegen jegliche Einmischung von außen in seine inneren Angelegenheiten selbst zum Preis eines Abbruchs der Beziehungen mit solch einem langjährigen und wichtigen Partner wie die Europäische Union zu demonstrieren. Die Ausweisung von drei Diplomaten aus Deutschland, Polen und Schweden, die zu Persona non grata erklärt worden waren, erfolgte während des Besuchs von Borrell und wurde durch Brüssel als eine zielgerichtete Demarche Russlands und eine Bestätigung dessen, dass der Kreml beabsichtige, auch weiter die Kritik der EU zu ignorieren, gewertet. In Brüssel und vielen europäischen Hauptstädten kochen die Emotionen, und es sind die Aufrufe zu hören, der russischen Führung eine adäquate Antwort „auf die erniedrigende Serie von Spott und Verhöhnung gegenüber der Europäischen Union“ zu geben.
Die Erklärung Moskaus über die Bereitschaft, die Beziehungen mit der EU im Fall der Annahme neuer antirussischer Sanktionen abzubrechen, löste in Europa eine Vielzahl von Fragen aus. Was bedeutet ein Abbruch diplomatischer Beziehungen im 21. Jahrhundert und was kann danach folgen? Ein Visa-Boykott? Ein Abbruch der Flug- und Bahnverbindungen? Ein Abbruch der Wirtschaftskooperation inkl. einer Einstellung gemeinsamer Projekte, solcher wie Nord Stream 2? Wie werden die ausländischen Investoren auf die Verschlechterung des politischen Klimas in Russland reagieren? Und schließlich, ist bei einem Abbruch der Beziehungen Russlands mit der Europäischen Union dessen Umorientierung auf eine bilaterale Zusammenarbeit mit EU-Mitgliedsstaaten möglich, zumal alle außenpolitischen Entscheidungen in der EU mit einem Konsens getroffen werden? Letzteres wurde mit aller Deutlichkeit durch die Verabschiedung der vergangenen Sanktionen gegen Moskau demonstriert. Selbst jene EU-Mitgliedsstaaten, die gern eine Verhängung von Sanktionen vermeiden würden, waren verpflichtet sich der Gesamtdisziplin unterzuordnen.
Wider den politischen Wechselspielen und Schlägen der Pandemie ist eine der Realitäten des heutigen Tages die weiter bestehende wirtschaftliche gegenseitige Abhängigkeit von Russland und der EU. Wie der russische Vizeaußenminister Alexander Gruschko betonte, „bleiben die Mitgliedsstaaten der EU traditionelle und wichtige Handels- und Wirtschaftspartner unseres Landes. So entfielen im Zeitraum Januar-Oktober des Jahres 2020 auf sie rund 38,8 Prozent des russischen Außenhandelsumsatzes. Die Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit bleibt ein 2Sicherungsnetz“, dass die Beziehungen Russland-EU bewahrt“.
Bewahrt wird auch die Abhängigkeit der EU-Länder vom Import von Kohlenwasserstoffen aus Russland (rund 40 Prozent des Gasimports). Laut Eurostat-Angaben werden die EU-Staaten ungeachtet des offensichtlichen Trends zur Verringerung des Anteils fossiler Brennstoffe noch lange Kohlenwasserstoffe, vor allem Gas und Erdöl einsetzen. Russland und die EU ziehen jedoch unterschiedliche Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache. Die russische Führung geht davon aus, dass die Europäische Union zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Alternative zu Russland bei der Energieversorgung habe. Die EU sucht aber verstärkt diese Alternative, unter anderem im Import verflüssigten Erdgases (LNG), darunter aus den USA. Nach Meinung einer Reihe europäischer Experten auf dem Gebiet der Energiewirtschaft sei es ein sehr schwieriges Ziel, eine Verringerung der Abhängigkeit Europas von den russischen Energieträgerlieferungen zu erreichen, aber kein unmögliches, selbst in einer kurzfristigen Perspektive bis zum Jahr 2025, wenn die meisten Gasverträge mit Russland auslaufen.
Vom Prinzip her ist die wirtschaftliche gegenseitige Abhängigkeit ein positiver Faktor nur bei guten Beziehungen zwischen Partnern. Wenn sich aber die Beziehungen zu verschlechtern beginnen, wird die wirtschaftliche gegenseitige Abhängigkeit zu einem belastenden Moment und Reizfaktor. Wenn sich jedoch die Beziehungen an den Rand eines Abbruchs annähern, beginnt die wirtschaftliche gegenseitige Abhängigkeit, die Rolle eines Rettungsrings zu spielen. Weder Russland noch die EU sind an einem Abbruch der Beziehungen interessiert. Zu stark verbindet sie das „gemeinsame Blutsystem“ der gegenseitigen Wirtschaftsinteressen. Die letzten Sanktionen der Europäischen Union, die im Zusammenhang mit dem „Nawalny-Fall“ verabschiedet wurden, beschränken sich auf einen kleinen Kreis von Beamten und tangieren nicht die Interessen der Wirtschaft.
Lehren der aktuellen Krise
Die erste offenkundige Lehre aus der heutigen Krise in den Beziehungen Russlands und der EU besteht darin, dass, wenn die Probleme nicht gelöst werden, sie nicht von selbst verschwinden und zu einer Quelle ständiger Spannungen werden. Russland bezichtigt man einer Passivität und des Unwillens, eine Beendigung des Konflikts im Osten der Ukraine zu fördern. Doch diese Vorwürfe kann man auch den Partnern im Normandie-Format vorbringen. Nicht erst ein Jahr reden Experten darüber, dass es unmöglich sei, ohne eine internationale friedensstiftende Operation in einer Pufferzone, die die Konfliktparteien trennt, den Minsker Friedensprozess vom Totpunkt wegzubringen. Friedensoperationen in den Zonen von bewaffneten Konflikten sind die einzig mögliche Alternative zu Kampfhandlungen, was mit aller Anschaulichkeit vor kurzem in Bergkarabach demonstriert wurde. Die europäischen Partner der Ukraine müssen Kiew von der Notwendigkeit solch einer Operation überzeugen, deren Details durch Verhandlungen abgestimmt werden können.
Die zweite Lehre besteht im illusorischen Charakter der Hoffnungen darauf, dass nur dank persönlicher Kontakte ernsthafte Probleme bilateraler Beziehungen gelöst werden können (was sich übrigens auch in den Treffen der Präsidenten Wladimir Putin und Donald Trump offenbart hatte). Unvorbereitete offizielle Besuche in Zeiten einer brisanten Zuspitzung der Beziehungen verkehren sich in das Gegenteil und führen nur zu einer stärkeren Zuspitzung (hier kann man sich auch an den Gipfel von Nikita Chrustschow und John Kennedy 1961 in Wien erinnern).
Die dritte Lehre besteht darin, dass eine Neuauflage der Beziehungen Russlands und der EU in der überschaubaren Zukunft als nicht möglich erscheint, denn weder Moskau noch Brüssel sind dazu bereit. Das Maximum, was in der überschaubaren Zukunft möglich ist, ist ein punktuelles Zusammenwirken hinsichtlich konkreter Frage, die außerhalb der umfassenderen existentialistischen Probleme der Beziehungen bleiben.
Es scheint, dass die tiefliegenden Quellen der heutigen Krise mit der Nichtübereinstimmung der Vorstellungen von Moskau und Brüssel über das Wesen der europäischen Identität Russlands zu erklären sind. Im Verständnis des Kremls ist Russland ein souveräner und gleichberechtigter Partner Europas, das sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation einmischen und ihm die Moral lesen darf. Für die Europäische Union bedeutet die europäische Identität Russlands vor allem dessen Übereinstimmung mit den europäischen demokratischen Normen und Prinzipien. Die EU verschließt nicht die Augen vor den Verletzungen der europäischen Normen in ihren Ländern, zum Beispiel in Polen und Ungarn. Doch die gegenüber Russland vorgebrachten Standards und Forderungen sind wohl höher. Sie werden durch die Rolle und den Platz Russlands in Europa und insgesamt in der Welt bestimmt. Ja, und auch Russland selbst erhebt auf mehr Anspruch als nur auf den Status eines Lieferanten von Rohstoffen und auf den Besitz eines gewaltigen nuklearen Arsenals. Den Kreml würde wohl kaum eine Haltung gegenüber Russland wie „gegenüber Saudi-Arabien mit Kernwaffen“ zufrieden stellen. Wenn die europäische Kultur bewahrt bleiben möchte, wie Putin im Januar dieses Jahres bei seinem Online-Auftritt während des Davoser Weltwirtschaftsforums sagte, und eines der Zentren der Weltzivilisation in der Zukunft bleiben wolle, wobei alle Probleme und Entwicklungstendenzen der Weltzivilisation im Auge behalten werden, so müssten Westeuropa und Russland natürlich zusammen sein.