Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Russland und die Türkei kehren zur Sprache von Artilleriesalven zurück


Die Offiziellen Russlands und der Türkei haben spürbar den Ton der gegenseitigen Vorwürfe bezüglich Syriens verschärft. Nachdem die Führung der Republik mit Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Spitze die Bereitschaft andeutete, eigenständig die kurdischen militanten Formationen von seiner Grenze bis in die notwendige Landestiefe zu verdrängen, antwortete die russische Diplomatie mit einer Erklärung, wonach das offizielle Damaskus berechtigt sei, seine Souveränität über das gesamte Territorium des Landes wiederherzustellen, obgleich ein geringer Teil von ihm nach wie vor von regierungsfeindlichen Kräften, die Ankara hörig sind, kontrolliert wird. Unter Experten erwartet man von der Russischen Föderation und der Türkei eine erhebliche Aufstockung der Syrien-Einsätze. Vorerst aber – auf der Ebene eines Beschusses.

Dass die syrische Regierung berechtigt sei, sich alles zurückzuholen, was in den Jahren des Bürgerkriegs verloren worden sei, erklärte Russlands Vizeaußenminister Sergej Werschinin. „Wir treten unverändert für eine Wahrung der Souveränität, territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit Syriens ein“, erläuterte er. „Dies ist unsere prinzipielle Haltung, auf der beruhen all unsere Kontakte inklusive mit der Türkei. Heute sprechen wir darüber, dass es notwendig ist, dass die Souveränität Syriens über dem gesamten syrischen Territorium wiederhergestellt wird. Dort wird die Terrorismusbekämpfung beendet. Dies muss natürlich fortgesetzt werden“. Was jegliche militärische Vorbereitungen Ankaras angehe, so müssten sie, wie der Diplomat betonte, die Wahrung der Souveränität berücksichtigen.

Dem waren scharfe Erklärungen der türkischen Führung vorausgegangen. Auf einer Pressekonferenz in Ankara teilte der Außenminister der Republik, Mevlut Cavusoglu, mit, dass sein Land Russland und die USA gleichermaßen für das für verantwortlich halte, dass die kurdischen Einheiten der Selbstverteidigung des Volkes nach wie vor Positionen türkischer Militärs angreifen würden.

„Sowohl Russland als auch die USA sollten diese Terroristen um 30 Kilometer nach Süden (von der Grenze – „NG“) umverlegen“, erläuterte der Außenamtschef. „Russland sollte die Städte Manbidsch und Tel Rifat von ihnen säubern. Russland und die USA tragen die Verantwortung für die Überfälle“. Cavusoglu unterstrich: Sein Land sei bereit, alles selbst zu tun, um das Territorium „von den Terroristen zu säubern“.

Als erster hatte Erdogan selbst auf die Bereitschaft der Türkei, eine eigenständige Operation in der Syrischen Arabischen Republik zu initiieren, hingewiesen. „Wir werden die erforderlichen Schritte in Syrien unternehmen. Wir sind entschieden darauf eingestellt, die Bedrohungen dort zu beseitigen“, erläuterte er am 11. Oktober. Den Anlass hatte der Beschuss türkischer Positionen gegeben, für die die Verantwortung den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten zugewiesen worden war. Gerade auf sie hatten die Vereinigten Staaten lange Zeit im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (eine Organisation, die in der Russischen Föderation verboten ist) gesetzt. Bei der Kommentierung der Erdogan-Äußerungen erklärte der offizielle Sprecher des US-Außenministeriums Ned Price: „Wir verurteilen die Überfälle auf unseren NATO-Verbündeten Türkei, die über die Grenze hinweg vorgenommen werden“. „Wir unterstreichen die Wichtigkeit der Bewahrung der Feuereinstellungslinien“, informierte der Diplomat.

Was am erstaunlichsten ist, dies ist die Zunahme der Spannungen um die nördlichen Regionen Syriens. Sie erfolgt nur wenige Wochen nach den Sotschi-Gesprächen zwischen Präsident Wladimir Putin und seinem türkischen Amtskollegen, bei denen der Konflikt auf der Tagesordnung stand. „Das Gipfeltreffen der Präsidenten der Türkei und Russlands war ein recht kurzes, zumal unter Berücksichtigung der für die Dolmetscher aufgewandten Zeit und der Liste der Gesprächsthemen“, erklärte gegenüber der „NG“ der Gastforscher des Washingtoner Middle East Institutes und Experte des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten Anton Mardassow. „Dort ist wohl kaum eine Vereinbarung über einen neuen russisch-türkischen Syrien-Barter erzielt worden. Wahrscheinlich wurde diese Frage streifend angesprochen“, vermutet der Analytiker.

„Eine andere Sache ist, dass die Seiten auch nach den sechsstündigen Verhandlungen in keiner Weise konkrete Vereinbarungen bekanntgaben, wobei sie es vorzogen, Raum für Auslegungen ihrer Handlungen zu lassen“, meinte der Gesprächspartner der „NG“. „Dies ist eine Notwendigkeit unter den entstandenen Bedingungen, unter denen Moskau von Ankara eine Umsetzung der Vereinbarungen fordert, die durch Putin und Erdogan im März 2020 im Kreml erzielt worden waren und eine Freigabe der Fernverkehrsstraße M4 (Aleppo – Latakia) in (der Provinz) Idlib betreffen, und Ankara von Moskau die Realisierung der Punkte des Sotschi-Memorandums von 2019, die mit dem Abzug der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten aus Manbidsch und Tel Rifat zusammenhängen“. Von daher nach Aussagen von Mardassow alle Vermutungen, wo eine neue Operation beginnen könne und wie sie sich für die anderen Regionen auswirken werde.

Aber es mache keinen Sinn, sich mit den Schlussfolgerungen hinsichtlich deren Beginn zu beeilen, sagt der Experte. „Erstens gibt es offiziell im Raum von Tel Rifat keine türkischen Militärs. Natürlich gibt es dort operative Kräfte der oppositionellen Syrischen Nationalen Armee. Aber die größere Frage ist: Inwieweit sie nur mit Unterstützung der Artillerie vorrücken können“, urteilt Mardassow. „Zweitens können die Versuche eines Umgehens der türkischen Posten durch die Assad-Armee ohne eine Zustimmung auf den Widerstand der türkischen Streitkräfte stoßen, die im Jahr 2020 eine psychologische Barriere der massierten Schläge gegen die syrischen Truppen überwunden hatten“. Drittens sei es nach Aussagen des Analytikers für Moskau äußerst schwierig, die im Jahr 2019 übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen. Für die russische Seite sei es schwer, den Kurden irgendetwas bei Bewahrung der US-amerikanischen Präsenz im Osten Syriens anzubieten.

In diesem Kontext scheint die Variante mit einer Bewahrung des existierenden syrischen Status quo die optimalste zu sein, meinte der Gesprächspartner der „NG“. „In diesem Sinne können die Seiten wirklich diesen Status quo in einen neuen Austausch von Territorien konvertieren. Der Prozess wird jedoch wie auch früher durch gegenseitige Vorwürfe usw. zu Grabe getragen. Vorerst aber würde ich nicht auf eine Operation als solche setzen, sondern auf eine Aktivierung der Artillerieschläge als eine Trumpfkarte für die Verhandlungen“. Zumal, wie Mardassow erinnert, eine besondere Atmosphäre das schaffe, dass bald eine direktes Vier-Augen-Treffen Erdogans mit US-Präsident Joseph Biden stattfinden soll.

Von nicht geringerem Interesse ist allerdings auch dies, wie die arabischen Staaten auf die türkischen Aktionen im Norden Syriens reagieren werden. Nachdem Ankara im Jahr 2019 in den syrischen Provinzen Al-Hasaka und ar-Raqqa die Militäroperation „Quelle des Friedens“ gestartet hatte, womit der Versuch unternommen wurde, eine 30 Kilometer breite Sicherheitszone entlang seiner Grenze zu bilden, schlossen sich völlig verschiedene arabische Kräfte um Damaskus zusammen. Jetzt ist die Situation jedoch eine andere: Die Türkei bewegt sich schrittweise in Richtung einer Normalisierung der Beziehungen mit jenen Akteuren im Nahen Osten und in Nordafrika, mit denen sie sich früher in Konfrontationsbeziehungen befunden hatte. Ankara spricht beispielsweise offen von positiven Anzeichen in der Entwicklung der Kontakte mit Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Jedoch ist sich Mardassow gewiss: Der Faktor der arabischen Länder und der Normalisierung der Kontakte trage in diesem Kontext einen zweitrangigen Charakter. „Es geht um Territorien, die sich faktisch schon lange nicht unter der Kontrolle der Demokratischen Kräfte Syriens (einer prokurdischen Allianz, die die nordöstlichen Regionen kontrolliert – „NG“) befinden und auf denen die Amerikaner ebenfalls nichts entscheiden“, resümierte der Analytiker, wobei er jene Bereiche des Territoriums meinte, die Ankara heute interessieren.