Festgenommene Bürger wird man in Russland bald in Polizeireviere mit Gefangenenwagen, die eine Klimaanlage und Bio-Toilette aufweisen, bringen. Dies ist nicht die erste und nicht die einzige versprochene Verbesserung im Zuge der angeblich zunehmenden Humanisierung des Rechtsschutzsystem und des Strafvollzugs. Von der Tatsache her verändert sich aber wenig, da in den Anweisungen der jeweiligen Institutionen, die die Anwendung der liberalsten Normen regeln, entweder jene Normen verändert oder überhaupt durch für die Vertreter der Rechtsschutzorgane bequeme Regeln unterlaufen werden. Und solche Dokumente werden immer häufiger mit dem Status „Für den Dienstgebrauch“ versehen. Wenn aber ein Bürger nicht deren Inhalt erfahren kann, um danach anzufechten, so bedeutet dies, dass er sich aus einem Subjekt des Rechts zu dessen Objekt verwandelt.
Über die neuen Gefangenenwagen berichtete voller Stolz die Moskauer Menschenrechtsbeauftrage Tatjana Potjajewa bei einem Auftritt vor dem hauptstädtischen Parlament, der Mosgorduma. Und sie unterstrich, dass so alle „komfortablen Bedingungen für einen Transport von Personen“ sein werden. Wie Menschenrechtler gegenüber der „NG“ erinnerten, würden diese Veränderungen im Rahmen der vor langer Zeit gegebenen Versprechungen des Justizministeriums hinsichtlich einer Humanisierung des staatlichen Rechtsschutz- und Sicherheitssystems, insbesondere in den U-Haftanstalten und Straflagern, vorgenommen werden. Deren Insassen erwarten beispielsweise neue Regelungen für die innere Ordnung, in denen es auffällig viele Lockerungen und Verbesserungen für den Alltag gibt – Kühlschränke und Fernsehgeräte in Zellen, die Möglichkeit, sich häufiger zu duschen, u. a.
Dies alles sei aber, wie die Menschenrechtler betonen, lediglich das Wecken von Illusionen bezüglich von Veränderungen, denn tatsächlich werde man sie äußerst selektiv implementieren und anwenden können. Mehr noch, schon jetzt wird die Humanisierung, wie die „NG“ ermittelte, per institutionelle Anweisungen und andere Dokumente nivelliert. Beispielsweise ist ein erheblicher Teil der Dokumente des Justizministeriums, die detailliert die Anforderungen hinsichtlich der Gefangenen festschreiben, zu den Dienstinformationen für eine eingeschränkte Weitergabe gerechnet worden. Unter ihnen sind das Regelwerk für den Einsatz physischer Gewalt und Sondermittel gegenüber Arrestanten, die Standards für den Transport von Bürgern zu den Orten für das Verbüßen verhängter Freiheitsstrafen, die Modalitäten für die Durchführung von Durchsuchungen in den Gefängnissen an sich. Die Menschenrechtler haben keinen Zugang zu diesen Papieren, so dass es für sie problematisch ist, die Rechtmäßigkeit der einen oder anderen Entscheidung von Vertretern der Rechtsschutzorgane zu beurteilen, um zu verstehen, hat es einen Missbrauch gegeben oder nicht.
Da wird zum Beispiel die persönliche Durchsuchung von Verurteilten durch eine gewisse Anordnung des Justizministeriums aus dem Jahre 2015, aber mit dem Vermerk „Für den Dienstgebrauch“ geregelt. Und nach wie vor ist unklar, was denn dies für Arten von Durchsuchungen sind, wann und in welcher Art und Weise sie vorgenommen werden, gibt es irgendwelche Rahmen für die Vollmachten der Gefängnisbeamten? Es gibt gleichfalls die Versuche, Beschwerde gegen ein unveröffentlichtes Protokoll zu führen, das die Bedingungen für den Transport unter Bewachung regelt. Dieses Dokument „Für den Dienstgebrauch“ ist für die Häftlinge, die eine Verletzung ihrer Rechte anzeigen wollen, unzugänglich. Folglich beurteilen die Gerichte lediglich die formale Einhaltung theoretischer Regeln. Wie der „NG“ der Co-Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe Valerij Borstschew erläuterte, seien die Regeln für die Kategorisierung von Dokumenten der Institutionen zwecks Geheimhaltung nicht reglementiert worden. Und die Situation werde aufgrund der zunehmenden Willkür unter dem Siegel „Für den Dienstgebrauch“ mit jedem Jahr schwieriger. „Während es in den 90ern wenig geheim gehaltene Protokolle u. ä. gab, so nehmen sie jetzt mit einer geometrischen Progression zu“.
Noch vor zehn Jahren beispielsweise seien die Mitglieder der Gesellschaftlichen Beobachterkommission ungehindert und sogar mit Mobiltelefonen in die Moskauer U-Haftanstalt „Lefortowo“ (gilt in Russlands Hauptstadt als die strengste und ist vor allem für Fälle wie Landesverrat, Spionage sowie für politische VIPs bestimmt, wobei vor allem der Inlandsgeheimdienst FSB dort das Sagen haben soll – Anmerkung der Redaktion) gelangt, erinnerte Borstschew. Jetzt aber werden sie gründlich „gefilzt“ und müssen alle Gadgets abgeben. Obgleich dies alles nach seinen Worten „eine absolut widerrechtliche Sache“ sei. Tatsächlich dürfen die öffentlichen Vertreter (Beobachter) beim Betreten von Strafvollzugsanstalten und U-Haft-Anstalten nicht kontrolliert werden. Davon ist aber nur in einer institutionellen Anweisung mit dem Vermerk „Für den Dienstgebrauch“ die Rede. Im Ergebnis dessen ignorieren die Mitarbeiter ruhig den legitimen Status der Mitglieder der Gesellschaftlichen Beobachterkommissionen. Und auf die Hinweise darauf, dass es doch ein Dokument gebe, antwortet man: Sie haben kein Recht, sich auf ein Dokument zu berufen, zu dem Sie keinen offiziellen Zugang haben. „Und während in Moskau es unterschiedlich sein kann – mal kann es eine Durchsuchung mit besonderer Intensität geben, mal kann man aber auch so reingelassen werden, so herrscht in den Regionen diesbezüglich einfach eine katastrophale Situation“, unterstrich Borstschew. Und natürlich führe die Regulierung mit den Vermerken „Für den Dienstgebrauch“ dazu, dass die Menschenrechtler immer häufiger Ablehnungen solch eines Typs bekommen würden: Nun, die „angefragten Angaben sind Informationen für einen eingeschränkten Zugang“. Folglich werden jegliche Verbesserungen, die durch das Justizministerium versprochen worden sind, auch weiterhin durch interne Anweisungen nivelliert. Oder man wendet sie selektiv an, um „widerspenstige“ Gefangene zu bestrafen. „Die frühere Leitung des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug hatte unseren Beanstandungen zugestimmt, wonach man hier und da die Sache mit den „geheimen“ Dokumente überziehe. Zum heutigen Tag ist dies aber ein vollkommen geschlossenes (geheimes) Thema. Und das Justizministerium lehnt es zu sagen ab, wieviel normative Akte gegenwärtig zu den Informationen für eine beschränkte Weitergabe und Verbreitung gerechnet werden. All dies seien angebliche Fragen des Dienstes, sie seien nicht für die „öffentlichen“ Ohren bestimmt. Und uns bleibt nur herumzurätseln, was und wie ein weiteres Mal hinter den Kulissen geregelt worden ist“, erklärte der Menschenrechtler gegenüber der „NG“.
„Allem nach zu urteilen, halten sich unsere Rechtsschutz- und Sicherheitsstrukturen, insbesondere die, die für den Vollzug von Strafen verantwortlich sind, schon nicht mehr durch irgendwelche Einschränkungen und gar durch die Verfassung gebundene“, sagte der „NG“ Ilja Schablinskij, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe. Er erinnerte daran, dass der Teil 3 des Artikels 15 des Grundgesetzes besagt: Jegliche Akte, die die Menschenrechte und -freiheiten tangieren, nicht angewandt werden könnten, wenn sie nicht offiziell für einen generellen Zugang veröffentlicht worden sind. „Dies ist eine ernsthafte Frage und eine ernsthafte Verletzung der Verfassung und der Gesetze. Dies bewegt aber scheinbar nur die Menschenrechtler“, konstatiert er.
Die Ungesetzlichkeit einer Geheimhaltung solcher Dokumente, die die Rechte und Freiheiten des Menschen berühren, bestätigte der „NG“ auch der föderale Richter im Ruhestand Sergej Paschin. „Faktisch passiert es auch so: Es gibt eine große Anzahl von unzugänglichen, internen Akten der Institutionen. Und mitunter widersprechen sie gar den Gesetzen“. Anweisungen und Anordnungen unterschiedlicher Art könnten nicht gelten, wenn sie nicht veröffentlicht und offiziell nicht im Justizministerium registriert worden sind. Dies sei aber nur in der Theorie so. Wie kann man dabei eine Norm anfechten, deren Existenz man nur erahnen kann? Das Rechtssystem sehe nach seinen Worten wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide aus: Die Verfassung ist unten zusammen mit den Gesetzen. Über ihnen aber ist ein Berg von Durchführungsbestimmungen u. ä. Das Kreieren von Normen durch die Institutionen sprudele nur so, wobei es hinsichtlich ein und desselben Anlasses Entscheidungen verschiedener Strukturen geben könne. Und überdies werde dies alles ununterbrochen „vervollkommnet“. Folglich sei es auch unmöglich, dies alles zu verfolgen. Wie Paschin sagte, sei dies ein ewiges Spiel: eine Verbesserung im Gesetz und eine Verschlechterung in der Anweisung. So tangiere die Situation auch die humanisierenden Versprechungen des Justizministeriums. Ja, und jetzt würde man einen Häftling in eine Strafzelle angeblich entsprechend einer Anweisung mit dem Vermerk „Für den Dienstgebrauch“ stecken und Post entsprechend einer anderen Anordnung, aber auch mit dem Vermerk „Für den Dienstgebrauch“ nicht aushändigen. Kurz gesagt: Die Logik bestehe darin, unterstrich er, dass der „Mensch kein Subjekt des Rechts ist, sondern ein Objekt, gegen das man Gewalt und Macht anwendet“.