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Russland verzichtet nicht auf Kohle


Steinkohle erweist sich im Unterschied zum Erdöl und besonders zum Erdgas als völlig immun gegenüber politischen Störungen. Zum Beispiel ist Polen einer der großen Käufer russischer Kohle in Europa, das demonstrativ ablehnt, Gas zu erwerben und den Vertrag für dessen Transit über das Pipelinesystem „Jamal-Europa“ zu prolongieren. Dennoch zeigen die härter werdenden ökologischen Forderungen ihre Wirkung. Der Anteil der auf Kohle basierenden Stromerzeugung in Europa verringert sich unablässig. Das Zentrum des Verbrauchs fester Brennstoffe verlagert sich immer mehr in die Länder Asiens, wo es oft keine Alternative zu ihm gibt. Russland, das über riesige Ressourcen an qualitativ hochwertiger Kohle verfügt und eine vorteilhafte geographische Lage einnimmt, könnte die Situation ausnutzen und die Lieferungen aufstocken. Auf dem Weg dazu steht jedoch der Mangel an Transportkapazitäten. Das Institut für die Entwicklung von Technologien für den Brennstoff- und Energiekomplex (IETBEK) befragte Branchenexperten und fand heraus, wie die Perspektiven für die russische Kohle auf dem Weltmarkt aussehen. Russland nimmt hinsichtlich der Förderung von Kohle den 5. Platz in der Welt ein, den 3. hinsichtlich dessen Exports. Gerade die Export-Komponente dient zum heutigen Zeitpunkt als die Haupttriebkraft für die Entwicklung der Branche. Ungeachtet der Proteste durch Umweltschützer bleibt die Kohle die Hauptenergiequelle in der Welt. 2017 wurde erstmals ans Ausland mehr als auf den Binnenmarkt geliefert. Im gleichen Jahr wurde auch die Marke von 400 Millionen Tonnen bei der Förderung überschritten. 

Das 2014 angenommene Langfristige Programm für die Entwicklung der Kohleindustrie sah vor, dass die russische Kohleförderung bis zum Jahr 2030 bei einem optimistischen Szenario 500 Millionen Tonnen erreichen wird, von denen 205 Millionen Tonnen exportiert werden sollten. Die Realität hat jedoch die Prognosen weit hinter sich gelassen. Bereits 2019 wurden über 440 Millionen Tonnen gefördert. Exportiert wurden 220 Millionen Tonnen. 

Die Kohleindustrie hat neben der Erdöl- und Erdgasbranche aufgrund des Coronavirus gelitten. Laut Angaben des Föderalen Zolldienstes sackte der Umfang des Exports im I. Quartal des Jahres 2020 im Geld-Äquivalent um 37 Prozent – bis auf 2,94 Milliarden US-Dollar – ab. In natura erwies sich der Rückgang um 16,6 Prozent als ein nicht so spürbarer, aber dennoch als ein signifikanter. Gleichzeitig besitzen die Kohleerzeuger aber einen Vorteil gegenüber den Erdölerzeugern: Um die Förderung zu stoppen, reicht es für sie in den meisten Fällen, die Motoren der Abbautechnik anzuhalten. Und genauso leicht kann die Förderung wieder aufgenommen werden. Asien, das als erster von der Epidemie betroffen wurde, hebt auch als erster die Quarantänemaßnahmen auf und kehrt zu einem normalen Leben zurück. Dies bedeutet aber, dass es Energie braucht. 

Der Anteil der Kohle an der internationalen Brennstoff- und Energie-Bilanz macht gegenwärtig 38 Prozent aus und nimmt stetig durch die Zunahme des Anteils der erneuerbaren Energiequellen (EEQ) und des Erdgases ab. Unter Berücksichtigung des generellen Ansteigens der Erzeugung von Elektroenergie in der Welt nimmt jedoch in absoluten Zahlen der Kohleverbrauch nicht nur nicht ab, sondern steigt sogar in einigen Regionen, berichtete in einem Interview für das IETBEK Alexander Sarytschew, Dozent des Lehrstuhls für internationale Rohstoffmärkte des Internationalen Instituts für Energiepolitik und -Diplomatie des MGIMO. Heute befinden sich im Stadium der Errichtung, Projektierung und Abstimmung weltweit neue Kohle-Wärmekraftwerke mit einer Gesamtleistung von 385 Gigawatt, von denen 288 Gigawatt auf Asien entfallen.   

Für die meisten Länder der asiatisch-pazifischen Region bleibt die Kohle die zugänglichste Ressource für die Stromerzeugung. Viele von ihnen können es sich einfach nicht erlauben, den Gasverbrauch aufgrund wirtschaftlicher, geographischer oder infrastruktureller Beschränkungen zu erhöhen, erläutert der Vorsitzende des Direktorenrates des Konjunkturinstitutes für den Kohlemarkt (KIKM), Alexander Kowaltschuk. Der Einsatz verflüssigten Erdgases beispielsweise wird durch die mangelnde Kapazität oder durch das völlige Fehlen einer Infrastruktur für dessen primäre Annahme und Verarbeitung in einer ganzen Reihe von Ländern eingeschränkt. Für die Lieferungen von Pipelinegas muss man Gasleitungen bauen. Die Nutzung von EEQ ist ebenfalls aufgrund objektiver Ursachen beschränkt. Die erneuerbaren Quellen können keine stabile Energieerzeugung gewährleisten und erfordern Akkumulatoren und/oder Erzeugungskapazitäten, die Spitzenbelastungen ausgleichen können und im Basisregime arbeiten.

Die Hauptzentren der Zunahme des Verbrauchs und Imports von Kohle sind heute Indien und Südostasien. China, wo vor dem Hintergrund der zunehmenden ökologischen Probleme ein schrittweiser Verzicht auf eine Energieerzeugung auf der Grundlage von Kohle begonnen hat, bewahrt dennoch seine führenden Positionen. Von den 288 Gigawatt der sich im Bau und in der Projektierung befindlichen neuen Kohle-Wärmekraftwerke entfallen 165 Gigawatt auf China. „Für die russischen Unternehmen ist es in der mittelfristigen Perspektive von kritischer Wichtigkeit, die Möglichkeit für die Realisierung der Kohle in der östlichen (asiatischen) Richtung zu haben. Ihre Rentabilität wird in Vielem vom Erhalt solch eines Zugangs abhängen“, ist sich Alexander Sarytschew sicher. 

Ein wichtiger Faktor, der die Lieferungen gen Osten limitiert, sind heute der hohe Anteil der Transportkosten am Endpreis und die unzureichende Durchlassfähigkeit der Bahnverbindungen, betont Alexej Schura, Experte der staatlichen Kommission für die Vorräte an Bodenschätzen. Schon jetzt grenzen die Transportmöglichkeiten die Exportlieferungen von den Unternehmen des Kuzbass ein. „Für die Bewahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Erzeugnisse der Kohlebranche auf den Exportmärkten sind eine aktivere Regulierung der Bahntarife und eine Finanzierung der Projekte zum Ausbau der Transportarterien im Osten notwendig“, meint der Experte. 

Nach Aussagen von Alexander Sarytschew seien gewisse Veränderungen in dieser Richtung zu beobachten. In der langfristigen Perspektive werde sich die Kohle jedoch unter einem sehr starken Druck durch das Gas und die EEQ befinden, warnt Stanislaw Mitrachowitsch, Experte der Moskauer Finanzuniversität und der Stiftung für nationale Energiesicherheit. Man müsse unverzüglich die Wettbewerbsvorteile ausnutzen. Außer dem Bau von Bahnstrecken könne dies die Erschließung neuer Lagerstätten im östlichen Teil Russlands sein. Große Bedeutung erlange gleichfalls die Qualität der zu fördernden Kohle. Die neuen, umweltfreundlicheren Technologien der Kohle-Wärmekraftwerke würden für die Arbeit einen kalorienreicheren Brennstoff verlangen, sagt Alexander Sarytschew. Das Volumen des Marktes für den internationalen Handel mit kalorienärmerer Kohle (5500 kcal/kg und weniger) gehe zurück, während der Markt der kalorienreichen Kohle (6000 kcal/kg und mehr) rasant wachse. Daher müsse der Entwicklung der Aktiva mit qualitativ besseren Vorräten und der Anreicherungstechnologien der Vorrang eingeräumt werden.