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Russland will sich nicht von Käfigen und „Aquarien“ verabschieden


 

Laut Informationen der „NG“ versucht ein hauptstädtischer Anwalt, im Verfassungsgericht anzufechten, dass Angeklagte in Eisenkäfigen unabhängig von den Umständen bei Gerichtsverhandlungen sitzen bzw. stehen müssen. Die Offiziellen wollen oder können dieses Problem nicht lösen, wobei sie von einem Einsparen von Haushaltsmitteln und der Sicherheit der Prozesse sprechen. Online-Verhandlungen sollten jegliche Abgrenzungen aufheben. Die Angeklagten, die per Videokonferenzschaltung an Verhandlungen teilnehmen, werden aber weiterhin in solchen gehalten, selbst in U-Haftanstalten. Dies ist im Grunde genommen eine Digitalisierung in den russischen Gerichtssälen – jedoch mit einem anklagenden bzw. vorverurteilenden Charakter.

Der Aufenthalt von Angeklagten in Käfigen oder durchsichtigen Kapseln, das heißt in den sogenannten „Aquarien“, erniedrigen nicht nur die menschliche Würde und behindern die Konsultationen mit den Verteidigern, sondern versetzen die betroffenen Personen von vornherein in die Position von Schuldigen. Die Offiziellen verweisen auf Sicherheitserwägungen (selbst Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der wegen einer angeblichen verbalen Diskreditierung der russischen Armee zu einer mehrjährigen Haftstrafe im vergangenen Dezember verurteilt wurde, musste den Prozess in einem „Aquarium“ erleben – Anmerkung der Redaktion), wobei sie nicht gewillt sind, die Aufmerksamkeit auf eine andere Praxis in anderen Ländern zu lenken.

Mehrere Kämpfer gegen die Käfige in der Russischen Föderation hatten damit gerechnet, dass, wenn in den Gerichtssälen aktiver Videokonferenzschaltungen genutzt werden, die Notwendigkeit einer zusätzlichen Isolierung der angeklagten Personen entfallen müsste. Es stellte sich jedoch heraus, dass, selbst wenn das Schicksal der Angeklagten per Monitor bestimmt wird, man sie dennoch als abgegrenzte, sprich: zusätzlich eingesperrte belässt.

Der Moskauer Anwalt Alexej Laptjew hat sich daher an das Verfassungsgericht Russlands gewandt, um den Versuch zu unternehmen, jene Normen der Strafprozessordnung anzufechten, die seiner Meinung nach jetzt erlauben, ohne irgendeine Motivierung einen Menschen im Gerichtssaal einzusperren, und das Wichtigste – nicht erlauben, dies anzufechten. Als widerrechtliche und erniedrigende hatte beispielsweise der Europäische Menschenrechtsgerichtshof mehrfach solche Bedingungen bezeichnet, da ein Angeklagter auch Rechte habe. Und deren Einhaltung sei das Wesen einer jeden beliebigen gerechten Gerichtsverhandlung. (Nach Beginn der sogenannten militärischen Sonderoperation in der Ukraine hat jedoch Russland Abschied von fast allen europäischen Institutionen genommen und hält einst unterzeichnete internationale Konventionen und Vereinbarungen nicht mehr als für sich verbindliche. – Anmerkung der Redaktion) Nach Aussagen des Antragstellers wurde sein Mandant im Verlauf der Gerichtsverhandlungen in einem Käfig wie ein „Tier im Zoo“ festgehalten. Als noch empörender hatte sich aber die Tatsache erwiesen, dass bei der Berufungsverhandlung zu diesem Fall der Mandant per Videokonferenzschaltung aus einer U-Haftanstalt zugeschaltet wurde, wobei man ihn dort erneut in einen Käfig gesetzt hatte.

Seine Darstellung hinter Gittern auf dem Monitor demonstrierte, so der Anwalt, dem Publikum, da ist er, der Kriminelle, obgleich zu diesem Zeitpunkt die Anerkennung als ein Schuldiger noch nicht bestätigt worden war. Aber weitaus schlimmer sei, wenn man dies beispielsweise Geschworenen zeige. Vor ihnen muss man möglicherweise im Verlauf von Prozessen den Angeklagten im Interesse der Sicherheit im Gerichtssaal isolieren, aber bestimmt nicht unter Bedingungen einer Online-Verhandlung. Schließlich befindet sich die jeweilige Person ohnehin in einem Isolator, von wo aus er wohl kaum entkommen wird und damit eine Bedrohung für andere schafft.

Es sei daran erinnert, dass es eine Alternative zu den Käfigen und „Aquarien“ gibt. Dies ist am Beispiel anderer Länder zu sehen, die man in Russland aber nicht zur Kenntnis nehmen will. In Russland wird schon lange über trennende Barrieren und Handschellen, die durch eine Kette mit dem Fußboden oder einem Tisch – wie beispielsweise in den USA – verbunden sind, gesprochen. Und im Jahr 2018 hatte eine Gruppe von Senatoren eine Gesetzesvorlage über das Verbot von Käfigen in der Staatsduma (Russlands Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) eingebracht. Die blieb aber nach der ersten Lesung im Februar 2019 aufgrund der Überlegungen und Diskussionen über die Notwendigkeit einer Überarbeitung des Dokuments hängen, da „seine Realisierung Schwierigkeiten bei der Gewährleistung der erforderlichen Ordnung schaffen kann“. Die Behörden verweisen beispielsweise darauf, dass eine generelle Demontage der Abgrenzungen auch so für den Etat schwer sei. Und wenn auch noch eine Aufstockung der Anzahl der Bewachungsbeamten erforderlich werde, so könnten die weiteren zusätzlichen Ausgaben bereits in keiner Weise abgesichert werden.

Die Praxis des Einsperrens von Personen in Käfigen, die sich in Gewahrsam befinden, entspricht nicht der Verfassung der Russischen Föderation (die unter Präsident Wladimir Putin ohnehin in vielen Fragen nicht mehr als ein Dokument mit hehren Absichten geblieben ist – Anmerkung der Redaktion), obgleich sie bis heute wirklich nicht unterbunden worden ist. Und der Gesetzgeber ergreife nicht die nötigen Maßnahmen zur Beseitigung dieser systematischen Verletzung der Rechte der Untersuchungsgefangenen und Angeklagten, erklärte der „NG“ Alexander Inojadow, Mitglieder der Moskauer Anwaltskammer. Er betonte, dass sich das Problem nicht allein nur auf die Gerichtssäle beschränke. „Bei der Nutzung von Videokonferenzschaltungen unter den Bedingungen von U-Haftanstalten und Straflagern werden die an ihnen teilnehmenden Personen ebenfalls in Käfigen festgehalten“. Wie Ilja Prokofjew, stellvertretender Vorsitzender des Moskauer Anwaltskollegiums „Zentrjurservice“, gegenüber der „NG“ erinnerte, werde die Frage „nur durch eine Ersetzung der Käfige durch „Aquarien“ gelöst“. Dieser Prozess sei aber bei weitem kein schneller. Folglich gebe es in vielen Gerichtssälen selbst der hauptstädtischen Region alte Eisenkäfige. Er bestätigte, dass die Angeklagten, deren Fälle per Videokonferenzschaltung verhandelt werden, in spezielle, von der U-Haftanstalt bereitgestellte Räume gebracht werden, die gleichfalls mit Käfigen oder – was weitaus seltener der Fall ist – „Aquarien“ ausgestattet sind. Dies sei so, da auch für sie das Gesetz „Über das Festhalten in Gewahrsam“ und interne Regelwerke des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug gelten würden. Die Mitarbeiter haben nicht das Recht, die jeweilige Person einfach in einen freien Raum unterzubringen. Um diese Praxis zu ändern, müsse man global die Rechtsnormen ändern, die die Festnahme und das In-Gewahrsam-halten regeln, erklärte der Experte.

Der Senior-Partner des Anwaltskollegiums Pen & Paper, Konstantin Dobrynin, ist der Auffassung, dass in der gegenwärtigen russischen Wirklichkeit das Problem der Käfige in den Gerichtssälen nicht gelöst worden sei und nicht gelöst werde. Und „die Zeit, als man es hätte lösen können, ist vorbei. Denn die heutige Rechtspolitik segne offenkundig keine Liberalisierung nicht nur der Gesetzgebung, sondern auch des öffentlichen Lebens insgesamt. Daher werde wahrscheinlich jene Gesetzesvorlage, die bereits fünf Jahre alt ist, noch tiefer in der Truhe für zu verabschiedende Gesetze verschwinden. Zur gleichen Zeit, wie der Experte bestätigte, würden die Käfige in den Gerichtssälen weiterhin eine grobe Verletzung der Rechte der Angeklagten darstellen. Natürlich mit Ausnahme der Fälle, die direkt mit der Sicherheit der Prozessteilnehmer zusammenhängen, obgleich diese ganz und gar nicht so häufig vorkommen. Was die Käfige angehe, in die die Angeklagten bei einer Online-Gerichtsverhandlung gesetzt werden, das heißt, wenn die jeweilige Person auch so mehr als nur in seiner Freiheit eingeschränkt worden ist und sich bereits in einer Isolation befindet, so könne man dies nicht anders als eine prozessuale Absurdität bezeichnen, erklärte Dobrynin der „NG“. „In meiner Zeit als Senator hatten wir zusammen mit Anwälten eine Arbeitsgruppe zur Beseitigung dieser und anderer prozessualer Absurditäten gebildet. Es gelang, das eine oder andere Schlimme aus der Gesetzgebung zu entfernen. Dies war jedoch auch in einer anderen Zeit der Fall gewesen“, konstatierte er. Und als ein Beispiel führte er solch eine Tatsache an, damit gleich die ganze Tiefe des erniedrigenden Charakters der Käfige verständlich wurde: Gemäß den normativen Anforderungen müsse die Fläche einer Zelle, die auf eine Person entfällt, die im Gerichtsgebäude in Gewahrsam gehalten wird, mindestens vier Quadratmeter ausmachen. Aber der Raum für zwei Diensthunde müsse entsprechend den gleichen Anforderungen mindestens neun Quadratmeter groß sein. Das heißt: Tiere werden in russischen Gerichten etwas besser als Menschen untergebracht.

Timur Chardi, Anwalt des Moskauer Anwaltsbüros „Lebedjewa-Romanowa & Partner“, ist auch der Meinung, dass man im Fall mit der Videokonferenzschaltung, wenn der Angeklagte keine Gefahr darstelle, durchaus auch ohne einen Käfig oder eine durchsichtige Kabine auskommen könnte. Er stimmte gleichfalls zu, dass kein Bedarf bestehe, die Person in einem Käfig festzuhalten, die beispielsweise entsprechend einem Wirtschaftsparagrafen angeklagt werde und für niemanden eine physische Gefahr darstelle. „Im Idealfall muss der Angeklagte neben seinem Anwalt sitzen“, merkte der Experte an. Zur gleichen Zeit bat er aber, nicht die Sicherheit der Prozessteilnehmer zu vergessen. Das heißt, dass die Käfige nach seiner Meinung doch nötig seien, wenn es um Angeklagte gehe, die zu Gewalt gegenüber anderen oder zu einer Flucht in der Lage seien. „Ich denke, dass man für diese Kategorie die Käfige oder Kabinen beibehalten muss, ungeachtet dessen, dass dies inhuman ist. Sie sind auch einfach nötig, wenn die Gefahr einer Selbstjustiz seitens der Betroffenen besteht“.