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Russland wird auch auf das Verwaltungsgebiet Charkow Anspruch erheben


Am Tag der Unabhängigkeit der Ukraine (am 24. August – Anmerkung der Redaktion) haben sich die russischen Offiziellen bestimmter über deren Perspektiven geäußert. Beispielsweise ist in einem Erlass von Präsident Wladimir Putin über Kindergelder in den von der Russischen Föderation kontrollierten ukrainischen Gebieten außer die Donbass-Republiken DVR und LVR sowie die Verwaltungsgebiete Saporoschje und Cherson auch noch das Verwaltungsgebiet Charkow ausgewiesen worden. Wahrscheinlich wird man dort dennoch auch ein Referendum organisieren (womit nach Moskauer Vorstellungen das ukrainische Territorium weiter verringert wird – Anmerkung der Redaktion). Und als der Chef des Verteidigungsministeriums, Sergej Schoigu, in Taschkent erklärte, dass die Sonderoperation langsamer geworden sei, alles aber laut Plan erfolge, hatte er möglicherweise nichts übertrieben. Die Minimierung der Schäden für die Zivilbevölkerung soll gerade auch jene Regionen tangieren, die Moskau sich einverleiben will. Da wird Kiew sie jedoch augenscheinlich noch mehr beschießen werden.

In den Morgenstunden des 24. August traf aus dem Verwaltungsgebiet Saporoschje die Nachricht von einem Attentat auf Iwan Suschko, dem von Moskau eingesetzten Chef der provisorischen Verwaltung der stadtartigen Siedlung Michailowka, ein. Unter dem Fahrersitz des Leiters der Ortschaft (der im offiziellen Kiewer Sprachgebrauch als Kollaborateur bezeichnet wurde – Anmerkung der Redaktion) hatte man einen Sprengsatz montiert, durch dessen Explosion er ums Leben kam. Dies bestätigte später das aus den russischen Staatsmedien sattsam bekannte Mitglied der Hauptrates der Militär- und Zivilverwaltung von Saporoschje, Wladimir Rogow.

Die Nachrichtenagenturen erinnerten in ihren Meldungen daran, dass seit Beginn des Sommers bereits mehrere, für die Diversanten resultative Anschläge gegen prorussische Beamte im Verwaltungsgebiet Saporoschje, aber auch im Gebiet Cherson verübt wurden. In diesen Regionen mit der historischen Bezeichnung Nördliches Taurien ist es auch zu einer Vielzahl von Versuchen gekommen, den einen oder anderen moskautreuen Beamten zu vernichten. Es ist klar, dass die Mehrzahl der Terrorakte unmittelbar mit den Plänen für die Abhaltung von Referenda über einen Beitritt der sogenannten befreiten Territorien der Ukraine zur Russischen Föderation in einem Zusammenhang stehen. Dies sind offenkundige Handlungen zur Einschüchterung jener Menschen, die sich auf eine Zusammenarbeit mit den neuen Herrschenden einlassen könnten, zumindest in ihren Berufsbereichen – Ärzte und Lehrer, Mitarbeiter aus den Bereichen soziale Betreuung und Kultur.

Wie es scheint, hatte das Setzen auf Angst, das durch Kiew vorgenommen wird, teilweise doch Wirkung gezeigt. In den von der Russischen Föderation kontrollierten Regionen ist natürlich mit Ausnahme der DVR und LVR offenkundig ein Mangel an loyaler Bevölkerung zu verspüren, wie sehr sich auch das russische Staatsfernsehen bemüht, das Gegenteil vorzuführen. Wobei es mit jedem Tag schon nicht mehr so sehr darum geht, dass man keinen als irgendeinen Leiter der unteren Ebene, als Schuldirektor, Chefarzt einer Poliklinik oder eines Klubleiters einzusetzen habe, sondern vielmehr um eine großangelegte Untergrund- und Wühlarbeit. Beispielsweise meldete die russische Garde am 24. August die Festnahme von zwei Mitarbeitern des AKW Saporoschje, die Informationen an ukrainische Militärs über Stationierungsorte von Militärs und Technik der Russischen Föderation auf dem Territorium von Europas größtem Kernkraftwerk übermittelt hatten. Festgenommen wurde gleichfalls eine Person festgenommen, die das Passier- und Kontrollregime verletzt und sich als ein „Komplize“ der ukrainischen Streitkräfte entpuppt hatte, der Bewegungskoordinaten von Konvois russischer Technik übermittelt hatte. Laut Angaben der russischen Garde seien seit dem 4. März, als Russland das AKW unter seine Kontrolle genommen hatte und offenkundig vom ukrainischen Energieversorgungsnetz abkoppeln will, 26 Personen festgenommen worden, die das „Passier- und Kontrollregime verletzt hatten“. Freilich wurde dabei nicht mitgeteilt, ob sie auch als Zieleinweiser agiert haben. Das letzte Mal seien, wie einheimische Medien berichten, am 17. August solche verhaftet worden.

Am selben Tag war bei Melitopol, das derzeit die Hauptstadt des prorussischen Teils von Saporoschje ist (kontrolliert werden etwa 74 Prozent des Territoriums dieses ukrainischen Verwaltungsgebietes), war teilweise ein Betonmast einer elektrischen Freileitung gesprengt worden. In der Umgebung von Cherson (Russland kontrolliert dort rund 89 Prozent dieses Verwaltungsgebietes, wurde ein Versteck mit Waffen gefunden, wobei nicht nur Schusswaffen, sondern auch mit Sprengstoff. Und der bereits erwähnte prorussische Vertreter Rogow in Saporoschje rief bereits auf, sich härter gegenüber Diversanten aus den Reihen der einheimischen Bewohner zu verhalten, wobei er sowohl eine Konfiszierung von Besitz als auch mögliche Erschießungen entsprechend den Gesetzen der Kriegszeit in Erwägung zog. Eine andere Sache die, dass es laut offiziellem Moskauer Sprachgebrauch keinerlei Kriegszustand gibt. Wie es auch keinen offiziellen formalen Anlass für dessen Ausrufung gibt. Obgleich es natürlich merkwürdig ist, dass sich die Rechtsschutz- und bewaffneten Strukturen auf den von ihnen kontrollierten Territorien aus irgendeinem Grunde nicht besonders auf das Begehen des Tages der Unabhängigkeit der Ukraine durch deren Anhänger mit Diversionsakten dort vorbereitet haben.

Möglicherweise erfolgt dies auch, weil offenkundig auf Anweisung von Moskau den neuen Herrschenden befohlen wurde, sich auf positive Veränderungen im Leben der Zivilisten zu konzentrieren. Beispielsweise hat der Chef der Militär- und Zivilverwaltung von Saporoschje, Jewgenij Balizkij, dieser Tage über seinen Erlass informiert, der jedem Ukrainer erlaube, überhaupt ohne irgendwelche Dokumente einen Pass der Russischen Föderation zu erhalten. Und gerade mit der Sorge um die Zivilisten dieses ganzen Landes begründete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am 24. August auch die Tatsache, dass sich das Tempo für die Durchführung der militärischen Sonderoperation wirklich verlangsamt hätte. Bei einer Tagung der Verteidigungsminister der Mitgliedsländer der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit erklärte er am Mittwoch: „Im Verlauf der Sonderoperation halten wir strikt die Normen des humanitären Rechts ein. Schläge werden mit hochpräzisen Waffen gegen Objekte der militärischen Infrastruktur der Streitkräfte der Ukraine geführt – gegen Führungsprunkte, Flugplätze, Depots, befestige Gebiete sowie Objekte des Militär-Industrie-Komplexes. Dabei wird alles getan, um Opfer unter den friedlichen Bürgern zu vermeiden. Dies verlangsamt zweifellos das Tempo der Offensive. Wir lassen uns aber bewusst darauf ein“, erklärte Schoigu. (Laut ukrainischen Medienberichten vom Donnerstag sieht solch ein russisches Vorgehen dann so aus: Beim Beschuss der Tschaplino-Bahnstation im Gebiet Dnepropetrowsk mit einer Iskander-Rakete seien 25 Zivilisten ums Leben gekommen, darunter zwei Kinder. In der Version des Sprechers des russischen Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkow seien über 200 ukrainische Militärs, die auf dem Weg in den Donbass gewesen sein sollen, vernichtet worden. – Anmerkung der Redaktion)

Schoigu unterstrich am Mittwoch ebenfalls, dass die russischen Militärs „auf den befreiten Territorien eine systematische Arbeit zur Anbahnung eines friedlichen Lebens organisiert haben“. „Wir gewähren humanitäre Hilfe, stellen die Infrastruktur und Systeme zur Lebenssicherung wieder her“, teilte Schoigu mit. Und bezeichnend ist, dass er die gegnerische Seite klar entgegengesetzt charakterisierte. „Die ukrainischen militärischen Formationen wenden die Taktik der verbrannten Erde an, verletzen grob die internationalen Normen und agieren als Terroristen“. Und Schoigu gab zu verstehen, dass der Westen, der Kiew unterschiedliche Waffen liefert, wie ein Schirmherr für all diese unschönen Handlungen aussehe, wenn nicht gar wie ein Komplize von Terroristen. (Dass dabei Moskau einfach das auch in der UN-Charta verankerte Recht auf Selbstverteidigung für die Ukrainer ignoriert, ist seit dem 24. Februar keine Neuheit. – Anmerkung der Redaktion)

Die Logik des russischen Verteidigungsministers wies jedoch, wie es scheint, an der Stelle eine Schwachstelle auf, als er die „planmäßige Verlangsamung“ der Sonderoperation und die westlichen Lieferungen in eine Reihe zu stellen suchte. Schließlich hatte sich ergeben, dass man dies alles auch so interpretieren konnte: Die Um- bzw. Neuausrüstung der Ukraine gehört zu diesen russischen Plänen. Es ist klar, dass dem wohl kaum der Fall ist. Aber die Realität sieht gleichfalls gerade so aus. Jedoch ist es natürlich wahrscheinlicher, dass der Plan des Kremls wirklich mit der Absicht zusammenhängt, über eine Verringerung der Intensität der Gefechte etwas die Stimmung der Bevölkerung zu verändern. Wenn die russische Armee nicht erzwungenermaßen, aber aktiv die Infrastruktur des ukrainischen Lebens zerstört, wird der Unmut der Menschen auf die Kiewer Offiziellen fallen, die nicht aufhören, dies zu tun, indem sie den Beschuss verstärken. Und da wird man auch jene Referenda als eines der Mittel für eine Beendigung allen Unglücks an den Mann bringen können. Russland werde sich ja ernsthaft für seinen Boden engagieren.

Besonders diese Rechnung, die – was sofort angemerkt sei – wohl kaum vollkommen aufgehen wird, betrifft das Verwaltungsgebiet Charkow, wo sich derzeit gerade die Gefechte verstärken. Und diese Region (die etwas mehr als zu 33 Prozent durch die russische Seite kontrolliert wird) ist nun in die Liste der „befreiten“ zurückgekehrt. Zumindest solch eine Schlussfolgerung kann man aus dem Putin-Erlass über Kinderbeihilfen in einer Höhe von 10.000 Rubeln (umgerechnet etwa 167 Euro) für Familien mit Schülern aus den Donbass-Republiken DVR und LVR sowie den Verwaltungsgebieten Saporoschje, Cherson und nun auch Charkow ziehen. Die zeitweilige prorussische Hauptstadt des Gebietes Charkow ist im Übrigen die Stadt Kupjansk. Wenn man allerdings den Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation auch noch als ein gewisses Geschenk ansieht, so ist die mit den neuen Herrschenden der fünf genannten Gebiete abgestimmte Entscheidung über die Vermeidung einer Doppelbesteuerung der auf deren Territorien arbeitenden Unternehmen bereits eine medizinische Tatsache, die bestätigt, dass in Charkow – der einst stärksten prorussischen Region der Ukraine – gleichfalls ein Referendum über einen Beitritt zur Russischen Föderation organisiert wird.