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Russland wird in internationalen Gerichten attackiert


Der vergangene Dienstag, der 25. Juni, war reich an Gerichtsentscheidungen, die für die Russische Föderation ungünstige sind. Zuerst hatte in Strasbourg der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ein Verdikt zugunsten der Ukraine hinsichtlich einer seit langem vorliegenden Klage, die die Ereignisse auf der Krim betreffen, gefällt. Später erließ in Den Haag die Vorverfahrenskammer II des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Haftbefehle gegen den früheren russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und den Generalstabschef Sergej Gerassimow. Die Jurisdiktion beider Gerichtsinstanzen erkennt Russland nicht an. Und folglich wird es deren Beschlüsse nicht umsetzen. Daher sehen sie von der Tatsache her wie die Form einer Ausübung psychologischen Drucks und als ein gewisser Vorlauf für die Zukunft aus: Ukrainische und westliche Beobachter hoffen, dass man die Verdikte der Gerichte irgendwann doch umsetzt oder möglicherweise zum Teil irgendeines Deals macht.

Die Klage, in der Russland Menschenrechtsverletzungen auf der Krim vorgeworfen werden, hatte die Ukraine bereits im März des Jahres 2014 beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eingereicht. Später hatte sie diese in den Jahren 2015 und 2018 ergänzt. Im Jahr 2020 ist die Klage als eine akzeptable anerkannt worden. Damals gehörte Russland noch zum Europarat und hatte dementsprechend die Jurisdiktion des Gerichts in Strasbourg anerkannt. Heutzutage ist die Situation eine andere. Im Juni des Jahres 2022 unterschrieb Wladimir Putin ein Gesetz, dem zufolge Russland nicht mehr verpflichtet ist, die Beschlüsse des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zu erfüllen, die nach dem 15. März 2022, als das Land offiziell den Europarat verließ, gefällt wurden. Dennoch hat man in Strasbourg die Behandlung des Falls trotzdem fortgesetzt. Und nun hat das Gericht mit der Vorsitzenden des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, Síofra O’Leary (einer irischen Juristin) und 16 weiteren Richtern aus Luxemburg, Slowenien, Österreich, Andorra, Norwegen, Polen, Bosnien und Herzegowina, Monaco, Großbritannien, Aserbaidschan, Nordmazedonien, San Marino, Schweden, Griechenland, Moldawien und der Ukraine einstimmig ein Verdikt zu dem Fall gefällt.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat es für erwiesen gehalten, dass es auf der Krim nach ihrem Übergang unter die Kontrolle der Russischen Föderation Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonventionen gegeben hatte. Russland wird die Verletzung des Artikels 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot eines unmenschlichen oder unwürdigen Umgangs), 5 (Recht auf Freiheit und persönliche Integrität), 6 (Recht auf einen gerechten Prozess), 7 (Bestrafung ausschließlich auf der Grundlage des Gesetzes), 8 (Recht auf Achtung des privaten und Familienlebens), 9 (Religionsfreiheit), 10 (Recht auf freie Meinungsäußerung), 11 (Versammlungsfreiheit), 14 (Verbot einer Diskriminierung) und 18 (Grenzen für eine Anwendung von Restriktionen in Bezug auf die Menschenrechte) dieses Dokumentes angelastet.

Der Russischen Föderation wird gleichfalls eine Verletzung von drei Bestimmungen aus den Protokollen zur Konvention – über den Schutz des Eigentums, das Recht auf Bildung und der Reisefreiheit – angelastet.

In der Entscheidung des Gerichts gibt es Schlussfolgerungen, die beim Einreichen neuer Klagen genutzt werden können. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat beispielsweise als eine Verletzung von Artikel 6 der Konvention „den massenhaften Einsatz der russischen Gesetzgebung auf der Krim in Bezug aller Fälle, die durch Gerichte auf der Halbinsel verhandelt werden, selbst jener, in denen Anklagen erhoben wurden, die nicht unter die Geltung des Strafgesetzbuches der Ukraine fallen, angesehen. Und auf eben dieser Grundlage ist in der Entscheidung der Strasburger Richter die Verlegung von Gefangenen aus Gefängnissen auf der Krim als eine ungesetzliche qualifiziert worden. In ihr wird ausgewiesen, dass so 12.500 Personen in Gefängnisse und Straflager auf dem Festlandteil der Russischen Föderation verlegt worden seien.

Es versteht sich, dass auch Strukturen der UNO – solche wie das Komitee zur Liquidierung von Rassendiskriminierung und das Menschenrechtskomitee – sich auf die Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes berufen werden. Seinerseits ist Russland berechtigt, sich auf das Verdikt des Internationalen Gerichtshofes der UNO vom 31. Januar 2024 in Bezug auf noch eine Klage der Ukraine zu berufen. Darin wird der Russischen Föderation eine Verletzung der Konvention zur Bekämpfung der Finanzierung von Terrorismus und der Konvention über die Liquidierung aller Formen einer Rassendiskriminierung vorgeworfen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat dort Verstöße gefunden, wo sie das Internationale Gericht nicht ermittelt hatte – zum Beispiel hinsichtlich der Anwendung der Krimtataren-Sprache und hinsichtlich einer Bewahrung von Architekturdenkmälern.

Die Ukraine hat derweil die Entscheidung des Strasburger Gerichts bereits als ihren Sieg aufgefasst. Die ukrainische Bevollmächtigte für Angelegenheiten des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, Marina Sokorenko, bezeichnete sie als „eine für Russland vernichtende“.

Derweil hat in Russland eine andere Gerichtsentscheidung eine weitaus größere Resonanz ausgelöst, die in Den Haag getroffen wurde. Dort wurden Haftbefehle gegen Sergej Schoigu und Sergej Gerassimow ausgestellt. Angelastet wird ihnen der Beschuss der Energieinfrastruktur der Ukraine. Schoigu und Gerassimow wurden somit zu den russischen Staatsbeamten Nr. 5 und Nr. 6, in deren Hinsicht der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl ausstellte. Die ersten vier anderen Vertreter Russlands sind Präsident Wladimir Putin, die Kinder-Ombudsfrau Russlands Maria Lwowa-Belowa, der Befehlshaber der für weite Einsätze vorgesehenen Luftstreitkräfte Sergej Kobylasch sowie der Befehlshaber der Schwarzmeerflotte Viktor Sokolow. Zuvor hatte der Kremlsprecher Dmitrij Peskow die Position des russischen Staates hinsichtlich der Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofes formuliert: Sie seien aus rechtlicher Sicht nichtig. Schließlich gehöre Russland nicht zu den 123 Ländern, die die Jurisdiktion dieses Gerichts anerkennen. Und diese Haltung und Argumentation wiederholte man dieses Mal im Pressedienst des Sicherheitsrates der Russischen Föderation. Dort bezeichnete man das Verdikt des Gerichts in Den Haag als ein „Aufwirbeln von Luft“, das „im Rahmen des hybriden Krieges des Westens gegen unser Land“ üblich sei. Hinzugefügt sei, dass nach einem Haftbefehl, der durch das Haager Gericht gegen einen russischen Beamten ausgestellt wurde, üblicherweise die Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Richter, der den Haftbefehl unterzeichnete, durch die russischen Rechtsschutzorgane folgt. Dieses Mal wird dem aber wohl nicht so sein. Die Haftbefehle gegen Schoigu und Gerassimow haben Rosario Salvatore Aitala (Italien), Sergio Gerardo Ugalde Godinez (Costa Rica) und der Tunesier Haykel Ben Mahfoudh ausgestellt. Nach allen dreien ist bereits durch die russischen Behörden eine Fahndung aufgrund eines Haftbefehls, den sie gegen Putin unterzeichnet hatten, ausgeschrieben worden.