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Russland wird mit der Donezker Rechtsprechung konfrontiert


Ob nun die Republiken des Donbass einzelne Gebilde bleiben oder der Russischen Föderation beitreten werden, es wird sich dennoch in baldiger Zukunft die Frage nach den Entwicklungswegen ihrer Rechtssysteme stellen. Wie die „NG“ herausgefunden hat, demonstrieren die Donezker Volksrepublik und die Lugansker Volksrepublik grundlegend unterschiedliche Vorgehensweisen. Während man in Lugansk vor allem die Normen der russischen Strafprozessordnung kopierte, war bei den Nachbarn das sowjetische Modell der Jurisprudenz gefragter. Von daher ist auch das Prinzip der Unschuldsvermutung vage formuliert worden. Es gibt keine Geschworenengerichte und keinen Begriff der Zulässigkeit von Beweisen. Die Rechte der Anwälte sind beschnitten. Einzelne Experten vermuten, dass die „Donezker Justiz“ ein Experiment sei, dessen Ergebnisse sich eventuell als aktuelle auch für Russland erweisen werden.

Ab September hatten die russischen Offiziellen geplant, mit einer Umschulung der Juristen aus den von den russischen Truppen kontrollierten und wohl bald auch ehemaligen Territorien der Ukraine entsprechend den neuen Rechtsstandard zu beginnen (siehe https://ngdeutschland.de/russlands-justizministerium-fuhrt-im-osten-der-ukraine-eine-juristische-sonderoperation-durch/). Es stellt sich jedoch heraus, dass dies überhaupt kein linearer Prozess sein wird. Beispielsweise wird es in den Verwaltungsgebieten Cherson, Saporoschje und Charkow eine Arbeit sein, in der DVR aber zum Beispiel eine etwas andere. Gerade diese vor einiger Zeit von Russland anerkannte Donbass-Republik hat sich am weitesten von der Gegenwart losgelöst und einen Weg in die sowjetische Vergangenheit angetreten.

Wie der Anwalt Wjatscheslaw Golenjew der „NG“ erläuterte, sei das Studium der Unterschiede der Gesetzgebung der RF und der DVR/LVR „recht nützlich“, da sich bei der weiteren Entwicklung dieser Territorien unbedingt die Frage nach den dort geltenden Standards für die Verteidigung und der Strafprozessordnung stellen werde. Über die Unumgänglichkeit solcher Vergleiche bei den Versuchen einer Standardisierung ist auch in einer Untersuchung des Projekts „Anwaltsstraße“ die Rede. Dort stellt man beispielsweise zu solch einem Thema Überlegungen an: Nun, die gegenwärtige DVR sei in einem gewissen Sinne ein „ideales Modell“ für Russland der nächsten Zukunft. Denn bei einer Analyse der „Donezker Rechtsprechung“ könne man sich vorzustellen versuchen, welche Vektoren möglicherweise auch Russland „bei einem vollkommenen Ausschluss freier Massenmedien, eines Mehrparteiensystems, einer entwickelten Anwaltschaft und von Menschenrechtsorganisationen aus dem gesetzgeberischen Prozess“ erwarten.

Dies sind im Übrigen jene Institute, die in der DVR entweder vollkommen fehlen oder nur formal vorkommen.

Nach Aussagen von Golenjew sei offensichtlich, dass es in der DVR eine weitaus strengere Strafprozessordnung gebe, die zum früheren sowjetischen System tendiere, während die Gesetze der LVR stark den heutigen russischen angenähert seien. Beispielsweise gilt dort wie auch in der Russischen Föderation die Unschuldsvermutung. In der Donezker Strafprozessordnung ist sie nicht festgehalten worden und ergibt sich wohl gerade einmal aus dem Wortlaut der Verfassung dieser Quasi-Republik, wie im Juni der kasachische Präsident dieses Gebilde bezeichnete. Wie der Experte der „NG“ sagte, sei dieses Prinzip in einer „recht verschrobenen Form“ in den Aufgaben der Justiz dargelegt worden (Artikel 2 der Strafprozessordnung). Dort ist gesagt worden, dass eine von ihnen darin bestehe, dass „nicht ein einziger Unschuldiger bestraft wird“. Außerdem gibt es in der DVR keine Geschworenengerichte, dort wirkt das sowjetische Modell der Beisitzer aus dem Volk, der Schöffen – zwei Bürger von der Gesellschaft bei einem Berufsrichter. Wie man die Vertreter des Volkes auswählt und welches ihre Kompetenz ist, ist im Gesetz nicht festgeschrieben worden. Golenjew bestätigte, dass dies vom Wesen eine Rückkehr in die Vergangenheit sei. Im heutigen Geschworenengericht „gibt es sowohl mehr Menschen, und ihm werden auch Fragen zur Tatsache und keine Rechte delegiert“.

Daneben sind im dem Donezker Gesetz die Rechte der Anwälte erheblich eingeschränkt worden. Und einige seiner Bestimmungen tasten auch gar die Garantien für ihre Unabhängigkeit an. Unter anderem heißt es, dass „die Vollmachten des Verteidigers in einem Verfahren durch eine Anweisung und ein Abkommen beglaubigt werden“, obgleich letzteres ein Gegenstand des Anwaltsgeheimnisses ist. „Dies ist gerade das, gegen das unsere Anwaltschaft schon lange gekämpft hat“, erinnerte Golenjew, wobei er freilich unterstrich, dass die Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane mitunter noch weiterhin von den Verteidigern solche Abkommen erfragen, „obgleich diese Forderung in den Gesetzen der Russischen Föderation nicht enthalten ist, und Gerichte mehrfach auf deren Unzulässigkeit hingewiesen haben“. Oder nehmen wir einmal das Nichterscheinen eines Anwalts bei einem Gerichtsprozess. Dies zieht sofort eine Benachrichtigung an die Anwaltskammer unabhängig von den Ursachen für sein Nichterscheinen nach sich. Ein anderer prinzipieller Aspekt ist auch folgendes: Ein Verteidiger kann nach Zulassung zur Teilnahme an einem Verfahren Abstand von der Wahrnehmung seiner Pflichten nehmen, wobei er die Ablehnung mit unzureichenden Kenntnissen oder unzureichender Kompetenz begründet. In der LVR ist hinsichtlich dieser Frage die russische Norm von der Unzulässigkeit eines Abstandnehmens von der Verteidigung kopiert worden.

Dafür gibt es aber in der Strafprozessordnung der DVR keinen solchen Begriff wie Unzulässigkeit von Beweisen, das heißt solcher, die unter Verletzung der Gesetze oder unter Umgehung der Verteidigung zusammengetragen werden können. In den Fragen im Zusammenhang mit der Beweisgrundlage ist „die Strafprozessordnung der DVR sehr geizig und arm“, meinte Golenjew. Dort gebe es einfach keine Kriterien für eine Zulässigkeit und Erheblichkeit (Relevanz) – dieser zwei Basisprinzipien eines jeden beliebigen Prozesses. Und ergo sei dies eine wesentliche Einschränkung der Garantien für die Seite der Verteidigung, die a priori keine entsprechenden Einwände vorbringen könne. Und übrigens, die Strafprozessordnung der Donezker Volksrepublik sieht eine obligatorische Teilnahme des Verteidigers lediglich für einzelne anfällige Kategorien von Bürgern vor, wie dies in der UdSSR der Fall gewesen war, als ein Anwalt bzw. Verteidiger vom Staat nur den zu einer Hinrichtung zu Verurteilenden, Minderjährigen oder Bürgern mit psychischen Problemen zugestanden hatte.

Denis Smola, der Stellvertreter des Exekutivdirektors und Leiters des Apparats der Juristenvereinigung Russlands, erinnerte die „NG“ daran, dass sich die Donbass-Republiken derzeit in einem Kriegszustand befinden würden. Damit sei nach seiner Meinung auch das Ausbleiben einer Ähnlichkeit mehrerer Normen des Strafrechts und der Strafprozessordnung mit den russischen zu erklären. „Für einen russischen Juristen wie auch für einen Bürger der Russischen Föderation, der nicht mit einem Beruf aus dem Rechtsbereich verbunden ist, kann auch dies merkwürdig erscheinen, dass die Republiken bisher keine klare Gesetzesbasis sowohl im Straf- als auch im Zivilrechtsbereich und in anderen Rechtsbereichen haben“, pflichtete er bei. Zur gleichen Zeit berichtete er aber, wobei er sich auf Erfahrungen aus kürzlichen Kontakten mit der Richter- und Anwaltsgemeinschaft der DVR/LVR stützte, dass dort nach wie vor bei der Behandlung sowohl von Straf- als auch von zivilrechtlichen Fällen, aber auch bei der Gewährung von Rechtshilfe die Gesetzgebung beider Staaten angewandt wird, sowohl die von Russland als auch die der Ukraine. Es ist klar, dass dies in jenem Teil erfolgt, der nicht den Verfassungen dieser Republiken und deren Branchengesetzen widerspricht. Folglich, „solange der Prozess der Herausbildung einer Staatlichkeit auf den neuen Territorien unter den Bedingungen einer Kriegszeit erfolgt, macht es keinen Sinn, eine Entwicklung humaner Grundlagen und Prinzipien im Straf- und Strafprozessrecht zu erwarten“, unterstrich Smola.

Der föderale Richter im Ruhestand Sergej Paschin ist sich jedoch sicher, dass tatsächlich alle Unterschiede einzeln zwischen der DVR und der DVR und sie zusammen – von Russland keine besondere Bedeutung besitzen würden. Denn, „weitaus wichtiger ist nicht das, wie die Gesetze geschrieben worden sind, sondern dies, wie sie angewandt werden“. Und die Gesetze werden entsprechend dem bekannten Schema wirken – wie die Chefs gebieten. „Auf der Krim, solange sie noch die Ukraine war, hatte es eine eigene Norm für Freisprüche gegeben. Erlaubt waren bis zu zehn Prozent der Angeklagten. Nach 2014 hat sich die Praxis geändert. Und für die Richter im Übrigen am schmerzärmsten. Für sie ist schließlich alles simpel: es wurden verboten freizusprechen – ergo werden sie es auch nicht tun“. So aber hatte es auch in der sowjetischen Strafprozessordnung, erinnerte er, auch viele herausragende und schon formulierte Normen gegeben. Unter anderem wurde auch die Unschuldsvermutung erwähnt. „Hat man aber nicht Dissidenten verurteilt oder hat es keine repressive Justiz gegeben?“. De facto würden die Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane jetzt auch in Russland die Unschuldsvermutung nicht verstehen, betont Paschin, wobei es schien, dass dieser Begriff allen bekannt ist.

Folglich bestehe nach seiner Meinung jetzt die Hauptfrage darin: Werden die DVR und LVR im Weiteren der Russischen Föderation beitreten oder bleiben sie eigenständige? „Wenn entschieden wird, dass dies Russland ist, so wird sich da alles sehr schnell einrenken. Die Gesetzgebung zu ändern, ist mit einem Schlag getan, und alles ist fertig. Mit der Krim war es auch so gewesen“. Und es werde auch hinreichend leicht sein, die Praxis umzukrempeln, ist er sich gewiss. „Die Chefs wechselt man aus. Und da das System wie eine Pyramide arbeitet, werden sie rasch Ordnung vor Ort schaffen. Keiner möchte sich mit der Quelle seines „Butterbrotes“ überwerfen. Wenn aber die DVR und LVR eigenständige Republiken sein werden, so werden sie einfach etwas von der Russischen Föderation abkupfern. Aber „dies bedeutet nicht, dass es eine spezielle Arbeit geben wird, um die Gesetze mit den russischen in Übereinstimmung zu bringen. Irgendetwas wird ähnlich sein, und irgendetwas wird auch anders sein. Natürlich werde man sich aber, meint Paschin, an Russland orientieren. Und dieses kann seinerseits auch „diese Satelliten ausnutzen, um irgendwelche Lösungen auszuprobieren“. Das heißt, erläuterte er, all das, was die Offiziellen bisher nicht direkt in Russland tun können, werden sie dort machen und schauen, wie das Volk reagiert. „Schon lange werden doch in Entwürfen Ideen hervorgebracht, dass die Anwälte Vereinbarungen mit den Vollmachtgebern vorlegen sollen. Ja, und man kann noch nicht weniges ausprobieren – sowohl neue verdeckte Arten von Untersuchungen als auch eine Vermengung von operativen Fahndungs- und prozessualen Handlungen. Das heißt: Es ist keine Tatsache, dass dies eine einseitige gesetzgeberische Bewegung sein wird. Möglicherweise werden die Offiziellen der Russischen Föderation nach dem Ausprobieren von irgendetwas dort versuchen, dort arbeitsfähige Novationen auch bei sich zu implementieren“, unterstrich Paschin.