Russland hat sich erstmals in seiner Geschichte mit einer zwischenstaatlichen Klage an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewandt. Die Klage ist gegen die Ukraine eingereicht worden. Das Paradoxe der Situation besteht darin, dass dieses Land bereits neun zwischenstaatliche Klage gegen Russland beim EGMR eingereicht hat. Dabei werden in der russischen Klageschrift – zumindest teilweise – gegenüber der Ukraine Forderungen gestellt, die im Grunde genommen diejenigen spiegeln, die Kiew gegenüber Moskau vorgebracht hat. Die diplomatische Offensive in der ukrainischen Richtung durch Kräfte der Generalstaatsanwaltschaft hat demonstrativ nach dem Artikel von Wladimir Putin über die Einheit der slawischen Völker und – das Wichtigste – nach den Dreier-Konsultationen zwischen den USA, der BRD und der Russischen Föderation über die Zukunft des gesamten Komplexes der Gaslieferungen nach Europa begonnen. Der EGMR hat von Russland aber ein faktisches Ultimatum erhalten, dem die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Finanzierung der Strasburger Rechtsprechung durch Moskau offenkundig zugrunde liegt.
Russland und die Ukraine werden erneut die Beziehungen vor einem internationalen Gericht klären. Nur dieses Mal aber hat erstmals Moskau beschlossen, sich dorthin zu wenden, und nicht Kiew. Auf der Internetseite der russischen Generalstaatsanwaltschaft (dieser Institution ist seit Juni durch Putin und einem entsprechenden Gesetz die Aufgabe übertragen worden, anstelle des Justizministeriums das Land vor dem EGMR zu vertreten) ist der Wortlaut der eingereichten Klage gepostet worden. Die Liste der Forderungen gegen die Ukraine besteht aus zehn Punkten. Und jeder von ihnen kann zu einem spektakulären Einzelfall werden.
Die sind „die Verantwortung der Offiziellen der Ukraine für den Tod der Zivilbevölkerung, der widerrechtliche Freiheitsentzug und der brutale Umgang mit Menschen, was unter anderem auf dem Unabhängigkeitsplatz in der Stadt Kiew während des Euro-Maidans in den Jahren 2013-2014 der Fall war“, im Haus der Gewerkschaften in Odessa im Mai 2014, aber auch „im Verlauf der Durchführung der sogenannten „antiterroristischen Operation“ (im Südosten der Ukraine – Anmerkung der Redaktion). Außerdem werden der Ukraine vorgeworfen: „die Praxis einer Unterdrückung der Redefreiheit und Verfolgung Andersdenkender“ durch ein Verbot für die Arbeit von Massenmedien und Journalisten, das Verdrängen der russischen Sprache aus dem öffentlichen Bereich und eine „Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung“, Tötungen und die Vernichtung von Eigentum aufgrund des Beschusses angrenzender Territorien Russlands durch die Ukraine, der Entzug der Möglichkeit einer Teilnahme an den Wahlen zu zentralen Machtorganen für die Bewohner „einzelner Territorien des Südostens der Ukraine“, die Blockierung des Nördlichen Krim-Kanals, Überfälle auf diplomatische Vertretungen Russlands, der Absturz des Flugzeugs der Malaysia Airlines am 17. Juli 2014 „infolge der Nichtschließung des Luftraums über der Zone der Kampfhandlungen durch die Behörden der Ukraine“ sowie die Nichtgewährung von Rechtshilfe für russische Untersuchungsorgane.
Es ist unschwer zu bemerken, dass die russische Klageschrift sich mit analogen ukrainischen Klagen überschneidet. Seit 2014 hat die Ukraine gegen Russland neun zwischenstaatliche Klagen beim EGMR eingereicht. Dabei sind die 4.000 Klagen von Privatpersonen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft nicht einmal mitgezählt.
So wirft die Ukraine in der die Krim betreffenden zwischenstaatlichen Klage der Russischen Föderation unter anderem eine Diskriminierung der ukrainisch-sprachigen Einwohner der Halbinsel vor, die sich unter anderem in einer Verdrängung der ukrainischen Sprache aus dem Ausbildungsprozess der Schüler äußere. Schließlich behandelt der EGMR eine Klage der Ukraine und Niederlande, die die Katastrophe mit der malaysischen Boeing (Flug MH 17 – „NG“) betrifft. Die Tagung der Großen Kammer ist für den 24. November 2021 anberaumt worden. Parallel dazu dauert auch der Prozess zum abgeschossenen Flugzeug im Bezirksgericht von Den Haag an (die nächste Gerichtsverhandlung ist für den 6. September geplant – Anmerkung der Redaktion). In absentia ist gegen drei Bürger der Russischen Föderation Anklage wegen der vorsätzlichen Vernichtung des malaysischen Boeing-Jets erheben worden – gegen den Ex-Verteidigungsminister der nichtanerkannten Donezker Volksrepublik Igor Girkin (Strelkow) und seine damaligen Unterstellten: Sergej Dubinskij, Oleg Pulatow und Leonid Chartschenko (der die ukrainische Staatsbürgerschaft besitzt). Dabei werde, wie der niederländische Außenminister Stef Blok erklärte, sein Land die Ukraine nicht aufgrund der unvollständigen Schließung des Luftraums angesichts des Mangels an Beweisen für die Schuld dieses Staates zur Verantwortung ziehen.
Die russische Gegenklage ist in einer besonderen Zeit eingereicht worden. Im April 2019 waren die Vollmachten der Richterin der Ukraine beim EGMR, Anna Judkowskaja, abgelaufen. Die vom damaligen Präsidenten Petro Poroschenko verkündete Ausschreibung zur Neubesetzung dieses Amtes war durch einen Beschluss des Bezirksverwaltungsgerichts von Kiew als nicht den Normen des Europarates entsprechend gestoppt worden. Die Ausschreibung ist erst im Februar 2021 durch einen Erlass des nunmehrigen ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij erneut gestartet. Es gibt drei Anwärter für das Amt eines EGMR-Richters von der Ukraine, obgleich es derzeit nach wie vor unbesetzt bleibt. Das heißt, die Positionen des offiziellen Kiews sind in diesem Gremium vorerst geschwächt.
Russlands Außenministerium bezeichnete in einer Erklärung das Einreichen der russischen Klage als „einen längst herangereiften Schritt“ und betonte, dass es „eine unparteiische und nichtpolitisierte Haltung des EGMR gegenüber der russischen Klage, aber auch eine gründliche Untersuchung der durch den Klage führenden Staat vorgelegten Materialien und Beweise durch das Gericht“ erwarte. Interessant ist, dass im Wortlaut der Erklärung nicht verheimlicht wurde: Russland erwarte nicht so sehr eine Stattgabe seiner Klage als vielmehr die Möglichkeit, seine Position zu äußern. „Die Anrufung des EGMR durch Russland zielt unter anderem auf eine Vorstellung der gesamten Fülle an Informationen über die von den Offiziellen der Ukraine oder mit deren Duldung erfolgenden Exzesse und Willkürakte, die zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen führen, vor dem Gericht ab“, heißt es in der Erklärung. Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, ist gleichfalls der Auffassung, dass Russland berechtigt sei, eine Reaktion des EGMR auf seinen Antrag zu erwarten, zumal es solch eine nach seiner Meinung zu viel hinsichtlich der Probleme, die nicht die wesentlichsten seien, und dagegen aber wenige in Bezug auf bedeutsame Fragen gebe.
Peskow erinnerte daran, dass der russische Präsident mehrfach über „recht negative Prozesse“ gesprochen hätte, die sich in der Ukraine vollziehen würden. An der Stelle muss unterstrichen werden, dass die allerletzten solcher Erklärungen im Artikel Putins über die aus seiner Sicht bestehenden Einheit des russischen und des ukrainischen Volks erklangen, aber auch in dem nach ihm folgenden Sonderinterview zu eben diesem Thema. Übrigens, ein Teil dieser Beanstandungen des russischen Präsidenten sind beinahe buchstäblich in dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft an den EGMR zitiert worden. Wie die „NG“ seinerzeit bereits schrieb, hatte Generalstaatsanwalt Jurij Krasnow selbst das Staatsoberhaupt gebeten, seiner Institution die Vollmachten zu übergeben, Russland in Strasburg zu vertreten (Printausgabe der „NG“ vom 01.06.2021), und hat operativ das entsprechende Gesetz erhalten. Die „NG“ hatte vorausgesagt, dass der erste Schlag wahrscheinlich gegen die Ukraine geführt werde, und sich nicht geirrt.
Jedoch muss man verstehen, dass er auch nicht hätte folgen können, wenn es nicht die Vereinbarung der Vereinigten Staaten und Deutschlands gegeben hätte, die Gaspipeline „Nord Stream 2“ vom Sanktionsdruck zu befreien. Eine der Bedingungen sind Garantien für die Ukraine, dass nach wie vor über ukrainisches Territorium die russischen Gastransite nach Europa erfolgen werden. Da aber hat sich solch eine Abfolge der Ereignisse abgezeichnet: die öffentlichen Erklärungen Putins, wonach es unmöglich sei, mit der gegenwärtigen Kiewer Führung einen Deal zu haben, danach die Versicherungen, dass die Gas-Angelegenheiten im Zuständigkeitsbereich von Geschäftsdirektoren liegen und dass die Staatsoberhäupter hierbei keine Rolle spielen würden, und dann bereits auch die Klage beim EGMR, die darauf anspielt, dass es in der Ukraine gegenwärtig eine kriminelle Machtspitze gebe. Unter Berücksichtigung dessen, dass nicht eine einzige Entscheidung zu den zwischenstaatlichen Klagen der Ukraine gegen Russland gefällt worden ist, kann man erwarten, dass auch der russischen Gegenklage nicht bald stattgegeben wird. Der Richter des EGMR von der Russischen Föderation, Dmitrij Dedow, bestätigte bereits gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax, dass die Behandlung der Klage „nicht ein Jahr“ in Anspruch nehmen werde. Und dies gereicht Moskau gerade auch zum Vorteil: Solange es keine Entscheidung gibt, wird es Kontakte mit Kiew auf hoher und höchster Ebene ablehnen.
Als ein Anzeichen für eine großangelegte Sonderoperation ist auch die Erklärung des Vorsitzenden der Staatsduma (des Unterhauses des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion), Wjatscheslaw Wolodin, anzusehen, der bereits mehrfach mit harten Statements zu brisantesten geopolitischen Fragen aufgetreten ist. Jetzt hat er unterstrichen: „Unter Berücksichtigung der Überzeugungskraft der angeführten Tatsachen hat der EGMR nach meiner Ansicht keine anderen Varianten, außer sie anzuerkennen und den Handlungen der Offiziellen von Kiew eine juristische Wertung zu erteilen“. Dabei hat Wolodin sogar das Strasburger Gericht sozusagen bedauert, denn diese sei ja in der letzten Zeit stark politisiert worden, wobei gerade in Bezug auf Russland, so dass es „für dieses in dieser Situation nicht einfach werden wird, wo alles so offensichtlich ist“. Und Wolodin endet vom Wesen der Sache her mit einem Ultimatum gegenüber dem EGMR. „Entweder erkennt es die aufgezählten Verletzungen und Verstöße an und beweist, dass es als eine Institution Bestand hat, oder es gibt keinen Sinn für dessen Existenz“, sagte der Staatsduma-Vorsitzende. Dabei ist in seinen Worten über „den Moment der Wahrheit“ für den EGMR offensichtlich eine ganz und gar unfeine Anspielung auf die gewöhnliche finanzielle Abhängigkeit der zwischeneuropäischen Strukturen von der Großzügigkeit der Russischen Föderation auszumachen.