Die gesamte Schuldenbelastung in Russland inkl. der Verschuldung der Regierung, Haushalte und des korporativen Sektors, darunter des Finanzsektors, hat 140 Prozent des BIP überschritten, teilte das in Washington ansässige Institute of International Finance (IIF) mit. Vor dem Hintergrund der größten sich entwickelnden Volkswirtschaften und entwickelten Staaten ist dies jedoch einer der geringsten Werte. Die globale Verschuldung nähere sich laut Schätzungen des IIF 365 Prozent des weltweiten BIP. Wie Experten meinen, sei von einer Zahlung solch eines Umfangs an Mitteln auch gar keine Rede. Und die Schulden könne man wohl nur mittels Force-majeure-Regeln abschreiben. Unter den Bedingungen, unter denen das gesamte Wirtschaftsmodell auf Anleihen basiert, riskieren die Länder, die den Schulden-Mechanismus für eine Entwicklung nicht genutzt haben, die Verlierer zu sein.
Entsprechend den Ergebnissen dieses Jahres wird der Umfang der globalen Verschuldung den Rekordwert von 277 Billionen US-Dollar erreichen, womit sie laut IIF-Schätzungen 365 Prozent des weltweiten BIP ausmachen wird. Die Zunahme der Schuldenbelastung wurde durch die Pandemie und die mit ihr verbundenen staatlichen und korporativen Stimulierungsprogramme gefördert. Die Schuldenbelastung der entwickelten Staatenübersteigt laut Berechnungen von Analytikern bereits 430 Prozent ihres gesamten BIP. Und bei den sich entwickelnden Volkswirtschaften hat sie sich stark der Marke 250 Prozent des BIP genähert.
In Russland macht die gesamte Schuldenbelastung schon jetzt – entsprechend den Ergebnissen des dritten Quartals – rund 144 Prozent des BIP der Russischen Föderation aus, folgt aus der Übersicht. Und dies ist auch nicht der endgültige Wert. Die Schulden werden vor allem durch den korporativen Sektor (ohne den Finanzsektor) gebildet. Auf die staatlichen Anleihen entfallen lt. IIF-Angaben in Russland derzeit 18 Prozent des BIP. „Der Umfang der Staatsschulden hält sich auf einem sicheren Niveau – weniger als 20 Prozent des BIP – und bleibt einer der geringsten in der Welt“, betonte früher Finanzminister Anton Siluanow. Vor einem Jahr lag der Wert bei etwa 12 Prozent des BIP laut Angaben des Finanzministeriums (oder bei 14 Prozent des BIP gemäß Angaben des Internationalen Währungsfonds).
Im kommenden Jahr werden die russischen Staatsschulden den Haushaltsprojekten nach zu urteilen 20 Prozent des BIP übersteigen. Und dies wird ein Rekordwert für den Zeitraum nach dem Jahr 2004 laut Angaben des Internationalen Währungsfonds sein. „Wir sind der Auffassung, dass dies die eine ungefährliche Marke ist. Aber es wäre nicht zweckmäßig, sie zu überschreiten“, erläuterte der Minister im September. Solch eine Ruhe haben nicht alle unterstützt. „ich würde gern daran erinnern, dass eine Entwicklung mit Schulden ihre Einschränkungen hat“, erläuterte Zentralbankchefin Elvira Nabiullina. Der große Vorteil Russlands seien ihren Worten zufolge „die geringen kontrollierbaren Staatsschulden“.
Die Höhe der Gesamtschulden der Russischen Föderation kann auf den ersten Blick beeindruckend aussehen, denn sie übersteigen um beinahe das Anderthalbfache den Umfang des Landes-BIP. Aber im Vergleich mit den entwickelten und den größten sich entwickelnden Staaten ist dies einer der geringsten Werte. So macht laut Angaben des IIF der Wert in den USA über 380 Prozent des BIP aus, und in China – beinahe 340 Prozent des BIP. Zum Vergleich: Noch geringer als in der Russischen Föderation ist die Schuldenbelastung beispielsweise in der Ukraine – etwa 97 Prozent des BIP.
Eine aktive Erhöhung der weltweiten Schulden vollziehe sich in den letzten 20 Jahren, teilte Artjom Tusow, Exekutivdirektor des Departments für Kapitalmärkte des Investitionsfirma „Univer Capital“, gegenüber der „NG“ mit. „Um selbst das gegenwärtige Wachstumstempo der Weltwirtschaft beizubehalten, sind immer mehr Anleihen erforderlich. Dies sieht wie eine klassische Finanzpyramide aus. Das Problem besteht aber darin, dass gerade durch die Erhöhung der Staatsverschuldung die Wirtschaft des kapitalistischen Systems auch wachsen kann: durch eine Senkung der Zinssätze, die Verbilligung von Kreditmitteln für die Wirtschaft und die Bevölkerung“, erläuterte der Experte. „Andere Methoden, um ein Wirtschaftswachstum zu erreichen, sind fast nicht mehr geblieben. Die Konsumtion in der ganzen Welt hat begonnen, aufgrund einer Reihe von Ursachen zurückzugehen.“
Jedoch sei von einer Zahlung solch eines Umfangs von Mitteln gar keine Rede, wie Tusow präzisierte. „Und abschreiben kann die Schulden durch einen Force-majeure-Umstand, zum Beispiel einen Krieg.“ „Obgleich heutzutage zu einem Anlass für ein Abschreiben von Schulden die Pandemie werden kann“, fügte er hinzu.
„Aufgrund der Pandemie bleibt den Ländern nichts anderes zu tun als die auch ohnehin hohen Schulden aufzustocken. Und früher oder später ist ein ernsthafter Kollaps des sich herausgebildeten Wirtschaftssystems zu erwarten, bei dem die einzige Möglichkeit für einen Neustart der Wirtschaft mit einem Abschreiben der angehäuften Schulden verbunden ist“, warnt Jekaterina Nowikowa, Dozentin an der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität.
„Die riesigen internationalen Schulden werden teilweise durch die derzeitige Wirtschaftskrise, die im Verlauf einer Reihe von Jahren heranreifte, abgeschrieben“, vermutet der 1. Vizepräsident des Verbands „Stütze Russlands“, Pawel Sigal. „Die Volkswirtschaften näherten sich einer Rezession, und die Pandemie hat lediglich das System zur Krise veranlasst. Man konnte sie (die Pandemie – „NG“) beinahe durch jeglichen anderen Faktor ersetzen.“
Die Zunahme der globalen Verschuldung werde mindestens die nächsten drei Jahre andauern, erwartet Jewgenij Mironjuk, Analytiker des Investitionsunternehmens „Freedom“. Einerseits werde dies früher oder später die Wirtschaftsperspektiven des korporativen Sektors und jener Staaten, deren souveränen Schulden das BIP spürbar übersteigen, verschlechtern. In solchen Fällen würden die Schulden am meisten restrukturiert werden, präzisierte er. Andererseits aber würden sich die Länder, die unzureichend die Möglichkeiten von Krediten ausgenutzt haben, schon jetzt in einer schlechteren Wirtschaftssituation befinden, betonte der Experte, wie im Übrigen auch jene, die die Schulden ohne die Möglichkeit, die Mittel effektiv zu investieren, drastisch ansteigen ließen – die Philippinen, Venezuela, Ecuador u. a.
In Russland werde entsprechend einer Präzisierung Tusows die Zunahme der Schulden durch die doch noch relativ hohen Zinssätze für die Wirtschaft beschränkt. „Für die Russische Föderation ist die Höhe der Auslandsverschuldung keine so umfangreiche wie in anderen Ländern. Die Zentralbank muss aber unter den Bedingungen der Krise den privaten Kreditnehmern Aufmerksamkeit schenken, die früher Kredite aufgenommen haben und mit einem Rückgang der Einkommen konfrontiert worden sind“, merkte Sigal an.
Zur gleichen Zeit scheine in der entstandenen Situation, wie Nowikowa betont, die geringe staatliche Verschuldung auf den ausländischen Märkten für die russische Wirtschaft unter Berücksichtigung der Unklarheit, die uns alle in der nächsten Zukunft auf den internationalen Märkten erwarte, eine attraktivere zu sein.
„Hinsichtlich seiner Schulden-Parameter ist Russland ein Spitzenreiter nicht nur unter den Ländern mit sich entwickelnden Märkten, sondern auch unter den entwickelten Volkswirtschaften“, teilte man der „NG“ im Pressedienst des Finanzministeriums mit. „Kreditressourcen sind ein wichtiges Instrument für eine Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Ein Verzicht auf diese Quelle versetzt Russland in ungleiche Bedingungen im Vergleich mit anderen Ländern.“ Das Finanzministerium stehe jedoch „sehr aufmerksam der Frage nach einer Erhöhung der Schuldenbelastung gegenüber“. Wie im Finanzministerium erläutert wurde, habe man dort, als von der Führungsrolle Russlands gesprochen wurde, vor allem die Qualität des Finanzsystems und die Sicherheit der russischen Verbindlichkeiten im Blick gehabt.
„Die Chance, effektiv die Möglichkeiten zu nutzen, die die äußeren korporativen und souveränen Schulden gewähren, hängt von vielen Faktoren ab, vor allem aber von der Effektivität der staatlichen Verwaltung, des Grades der Korruption, des Entwicklungsgrades der Machtinstitute und der Unternehmenskultur“, präzisierte Mironjuk.
Die Stabilität der Entwicklung auf der Grundlage von Schulden hängt von den Möglichkeiten der Wirtschaft ab, sie zu bedienen. „Hinsichtlich dieses Parameters unterscheiden sich die Länder stark. Das liegt nicht nur im Gesamtumfang ihrer Schulden, sondern auch an der Effektivität der Haushalts- und Wirtschaftspolitik, am Grad des Vertrauens in diese seitens der Investoren und der Fähigkeit des Landes, den internationalen Status seiner Währung zu gewährleisten“, betonte Wladimir Tichomirow, Chefökonom von BCS Global Markets. Überdies spielen politische Faktoren eine wichtige Rolle.
„Es hat keine Bedeutung, was für eine Verschuldung der eine oder andere Staat oder die Welt insgesamt hat. Wichtigste Bedeutung hat die Antwort auf die Frage, ob der Kreditnehmer seine Schulden bedienen kann“, stimmte Anna Bodrowa, Senior Analytikerin des Zentrums „Alpari“, zu. Russland besitze nach Aussagen der Expertin eine spezifische Struktur der Wirtschaft und Politik. „Lange Zeit waren Anleihen entweder nicht nötig oder wurden unmöglich. Daher gibt es einen bestimmten Rückstand.“ Gleichfalls würden sich einige politische Faktoren auswirken. „Dies ist aber kein Problem, denn jetzt sind die russischen Schulden in der internationalen Arena sehr interessant“, meint Bodrowa.
Obgleich es nach Meinung von Tichomirow bisher verfrüht sei, von einer makroökonomischen Stabilität und einem großen Vertrauen der Investoren in die Politik der Offiziellen der Russischen Föderation zu sprechen. „Von daher auch die relativ hohe Prämie, die in die Kosten der zu gewinnenden Kreditressourcen inbegriffen ist.“