Die realen Folgen der Havarie im AKW Tschernobyl, die sich am 26. April 1986 ereignet hatte, sind mit ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht zu vergleichen. Dies ist eine der Hauptschlussfolgerungen, die man aus einem Bericht zum 35. Jahrestag der Katastrophe ziehen kann. Herausgegeben wurde er vom Institut für Probleme einer sicheren Entwicklung der Kernenergetik der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die Wissenschaftler rufen bei der Bewertung der Dimensionen des Vorgefallenen auf, sich auf wissenschaftliche Daten und nicht auf Emotionen, die nicht immer adäquate sein können, zu stützen.
Und die wissenschaftlichen Angaben, die das Institut einmal in fünf Jahren veröffentlicht, sind solche: Unter den ersten Liquidatoren der Havarie hat sich die Diagnose „akute Strahlenkrankheit“ bei 134 Menschen bestätigt. 80 von ihnen sind nach wie vor am Leben. Die erhöhe Erkrankungsrate in Bezug auf Leukose und bösartigen Neubildungen bei den Liquidatoren von 1986 befindet sich in den Grenzen der Feststellbarkeit. Praktisch bei der gesamten evakuierten Bevölkerung liegen die erhaltenen Bestrahlungsdosen unterhalb der praktischen Grenze einer schädigenden Wirkung der radioaktiven Strahlung. 375.000 Menschen befinden sich unter einer ständigen medizinischen Beobachtung bis ans Lebensende. Doch außer einem langen Stress und Besorgnis sind bei ihnen im Grunde genommen keine anderen Folgen festgestellt worden.
„Die medizinischen Folgen von Tschernobyl sind recht beschränkt. Aber das Ausmaß der humanitären Folgen hat den Vorfall aus einer Havarie mittlerer Schwerer in eine Katastrophe verwandelt, darunter aufgrund der nachfolgenden fehlerhaften Entscheidungen“, betonte Leonid Bolschow, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Probleme einer sicheren Entwicklung der Kernenergetik. Seinen Worten zufolge war nach der Havarie eine Revision des Sicherheitszustands aller Reaktoren des gleichen Typs – RBMK-1000 – vorgenommen worden. Vorgenommen wurden Veränderungen an deren Konstruktion, was erlaubte, ihre Nutzung bis zum heutigen Tag fortzusetzen. Jeglichen Nuklearprojekte werden durch die Aufsicht erst zur Realisierung zugelassen, nachdem ihre Sicherheit nachgewiesen worden ist. Sie ist zu einer absoluten Priorität geworden, unterstrich der Wissenschaftler. Wenn beispielsweise ein Anlagenfahrer einen Reaktor stoppt, weil er der Auffassung ist, dass die Anzeigen der Messgeräte auf die Möglichkeit einer Havarie hinweisen, wird ihn keiner rügen, selbst wenn die Entscheidung eine fehlerhafte gewesen ist. Ein Drittel der gesamten Arbeitszeit verbringen die Anlagenfahrer jetzt auf Trainingsanlagen, merkte Leonid Bolschow an.
Aber die wichtigste Lehre aus der Havarie sei immer noch nicht gezogen worden, bedauert er. „Es besteht eine gewaltige Kluft zwischen der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Schwere der Folgen und der tatsächlichen Angaben“, konstatiert Leonid Bolschow. „In der Gesellschaft besteht eine große Angst vor der radioaktiven Strahlung. In den verschmutzten Städten sind die chemischen Risiken weitaus größer als die der radioaktiven Strahlung. Im gesellschaftlichen Bewusstsein dominieren aber die Risiken der radioaktiven Strahlung“.
Nach Aussagen des stellvertretenden Institutsdirektors für informationsseitige und analytische Unterstützung komplexer Probleme der nuklearen und Strahlungssicherheit Igor Linge könne, wenn man von der Anzahl der Opfer ausgehe, nicht davon die Rede sein, die Tschernobyl-Havarie sogar als eine große Katastrophe zu definieren. Hinsichtlich der Ausmaße der Verschmutzung sei die Situation schwieriger. Ihr wurden alle Länder Europas auf einer Fläche von 200.000 Quadratkilometern ausgesetzt, präzisierte er. Aber auch in dieser Frage waren viele Gegenmaßnahmen überflüssige. Heutzutage ist die Fläche der Abschnitte, die im russischen Verwaltungsgebiet Brjansk aus der Bodennutzung ausgeklammert worden sind, von 17,1 Hektar 1987 auf 1,6 Hektar im vergangenen Jahr zusammengeschrumpft. Auf den übrigen Territorien gibt es keine Einschränkungen für das Wohnen und für landwirtschaftliche und andere Arbeiten, teilte Igor Linge mit.
„Mit dem Verstreichen der Zeit ändert sich leider die Haltung der Gesellschaft gegenüber den Risiken der radioaktiven Strahlung nicht“, betonte Jelena Melichowa, Leiterin des Labors für Kommunikationsprobleme bei der Bewertung von Risiken des Akademie-Institutes. „Laut einer Umfrage von 2013 hatten die meisten Bürger Russlands angenommen, dass durch die Einwirkung der radioaktiven Strahlung der Tschernobyl-Havarie tausende, zehntausende, Millionen Menschen ums Leben gekommen seien. Die Losgelöstheit von den realen Daten liegt bei dem 2- bis 3fachen. Dies ist eine gigantische und schädliche Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und den wissenschaftlichen Daten. Die Vorstellung von der tödlichen Gefährlichkeit von Havarien mit radioaktiver Strahlung ist die Hauptursache dafür, warum die Menschen mit Furch dem Bau von Kernkraftwerken gegenüberstehen. Diese Vorstellungen werden automatisch auf andere Havarien übertragen. In Fukushima hat es überhaupt keine Toten aufgrund der Einwirkung radioaktiver Strahlung gegeben. Es haben sich aber genau solche Vorstellungen herausgebildet“.
Das Begreifen der realen Lage der Dinge behindern einige Massenmedien und der Film. Ende der 1980er war in den Massenmedien eine Welle unbegründeter bzw. haltloser phantastischer Publikationen über die ungewöhnlich vernichtende Wirkung der Havarie zu erleben, betonte Jenela Melichowa. Und die vor zwei Jahren ausgestrahlte TV-Serie „Tschernobyl“ bezeichnete Leonid Bolschow als „einen Schuss in einem Hybdrid-Krieg“, da sie verloren die Motivation der sowjetischen Menschen dargestellt habe, die an der Liquidierung der Havariefolgen teilgenommen und nicht nur ihr Land, sondern auch die Welt gerettet hatten.
Wie paradox dies auch aussehen mag, das Hauptfazit aus Tschernobyl besteht genauso wie aus Fukushima darin, dass die Kernenergetik eine hinreichend sichere Technologie ist, ist sich Leonid Bolschow gewiss. „Dies zeigte besonders Fukushima. Ein zerstörerisches Erdbeben, fast 20.000 Tote, eine 15 Meter hohe Tsunami-Welle – ungeachtet solch einer anormalen Einwirkung hatten sich die Systeme des AKW im Großen und Ganzen in einem normalen Zustand befunden“, unterstrich er. „Man hat die Japaner gewarnt, dass sie die Fehler in den Konstruktionen beseitigen müssen. Doch das Fehlen einer ausreichenden Sicherheitskultur hatte dem gestört. Die Leitung war das Geld zu schade. Dabei waren die medizinischen Folgen nullwertige. Aufgrund der unklugen und mitunter fehlerhaften Politik einer Reihe von Staaten hat sich eine nichtadäquate Haltung zu den Nukleartechnologien herausgebildet. Die Staaten müssen enger mit der Wissenschaft zusammenarbeiten, um keine solchen Fehler zu begehen“.