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Russlands Bürger haben keine Zeit für Arztbesuche


Die meisten Bürger Russlands gehen ungern zum Arzt, selbst bei offenkundigen Symptomen und Schmerzen, ermittelte eine Untersuchung des analytischen Zentrums der Nationalen Agentur für Finanzstudien (NAFI) und der Stiftung zur Hilfe für erwachsene Onko-Patienten „Onkologika“. Unter den Gründen für den Unwillen, zu einem Facharzt zu gehen, sind fehlende Zeit, der Mangel an Ärzten, aber auch die Gewissheit, dass die beste medizinische Betreuung in der Russischen Föderation die kostenpflichtige sei.

Eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber seiner Gesundheit, d. h. ein Bestreben, bei jeglichen verdächtigen Symptomen die Konsultation eines Facharztes zu erhalten, demonstriert nur jeder zehnte Befragte (10 Prozent). Die Studie der NAFI und der Stiftung „Onkologika“ zeigte, dass das typische Verhaltensmodell der Menschen bei Auftreten von Schmerzen ein völlig anderes ist: Fast 90 Prozent der Bürger Russlands mit realen Beschwerden beeilen sich nicht, sich an medizinische Einrichtungen zu wenden.

Unter denen, die es vorziehen, Ärzte zu ignorieren, unterscheidet man drei Kategorien: diejenigen, die sich bemühen, vollkommen einen Arztbesuch zu vermeiden (14 Prozent), jene, die sich nur in Extremfällen mit akuten Schmerzen an einen Arzt wenden (36 Prozent), und diejenigen, die sich nur im Fall von langen und nicht abklingenden Schmerzen zu einem Arztbesuch entschließen (39 Prozent). Somit gehören zur zweiten und dritten Gruppe 75 Prozent der Bevölkerung Russlands.

Beinahe die Hälfte der Befragten (47 Prozent) nennen als Haupthindernis für den Besuch einer medizinischen Einrichtung bei Auftreten von Schmerzen die Schwierigkeiten beim Erhalt eines Termins für den gebrauchten Facharzt. Der zweite Hinderungsgrund ist der Zeitmangel. Das sagt beinahe jeder dritte Befragte (29 Prozent), vor allem die arbeitenden Bürger Russlands im Alter von 25 bis 34 Jahren. An dritte Stelle rangieren das Unwissen um das Profil der Mediziner und das Ausbleiben des Verstehens, an welchen Arzt man sich mit den vorhandenen Symptomen wenden muss. Solch ein Problem ist für 20 Prozent der Bürger Russlands charakteristisch.

Unter anderen, weniger relevanten Faktoren, die Russlands Bürger vom Besuch einer Poliklinik bei Auftreten von Krankheitssymptomen abhalten, sind ein fehlendes Vertrauen gegenüber den Ärzten oder die Furcht, Informationen über irgendeine ernsthafte Erkrankung zu erhalten (jeweils 14 Prozent), das Bestehen anderer wichtigerer Sorgen (13 Prozent) und das Gefühl einer Unschicklichkeit, das bei der ärztlichen Untersuchung und beim Erzählen über die eigenen Beschwerden auftritt (neun Prozent).

„Unsere Studie hat gezeigt, dass nicht alle Symptome für Russlands Bürger als ein hinreichender Anlass für einen Arztbesuch dienen. Die „bewusstesten“ sind die Bürger Russlands im Alter von 55 und mehr Jahren. Sie gehen am meisten zum Doktor beim Auftreten jeglichen Unwohlseins und sind der Auffassung, dass nichts zu einem Hindernis für den Erhalt medizinischer Hilfe werden kann“, sagte die Leiterin der NAFI-Forschungsprojekte, Adelja Kawejewa.

„Den hohen Prozentsatz an Bürgern, die es vorziehen, sich mit einer Selbstbehandlung zu befassen, bestätigen auch andere Umfragen, obgleich er beim (Allrussischen Meinungsforschungszentrum) VTsIOM geringer ausfällt – 60 Prozent“, sagte Larissa Popowitsch, Direktorin des Instituts für die Ökonomie des Gesundheitswesens bei der Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaftswissenschaften“. „Man muss aber berücksichtigen, dass oft die Bürger mit chronischen Erkrankungen irrtümlich die Einnahme von Präparaten auf Anraten eines Arztes als Selbstbehandlung bezeichnen“.

Zur gleichen Zeit fixiert auch das russische Statistikamt Rosstat einen hohen Prozentsatz von Verweigerern. Und die Gründe, weshalb es die Menschen ablehnen, Hilfe in medizinischen Einrichtungen zu erhalten, oder nicht erhalten können, sind unterschiedlichste“, sagt die Expertin. „Bei den Berufstätigen ist der Hauptgrund der Mangel an Zeit. In den Großstädten gibt es viele Menschen, die der Auffassung sind, dass sie selbst wissen würden, was man bei einem Unwohlsein tun müsse. Es gibt jene, die sich über eine unzureichende Qualifizierung der Ärzte beklagen. Eine Ursache kann auch der Mangel an Informiertheit über die Möglichkeit des Erhalts technologischer Hilfe sein. Viele nennen als Grund die Befürchtungen, dass man bezahlen muss. Es besteht ebenfalls ein Problem mit der Zugänglichkeit medizinischer Hilfe wie auch der Umstand, dass wenig mobile Bürger sie nicht erhalten können. Bei uns gewährt beispielsweise keiner stomatologische Leistungen für bettlägerige Patienten“, zählt Larissa Popowitsch auf.

Ungeachtet des Verzichts vieler auf eine Heilbehandlung hat die Lebenserwartung in Russland mit einem Rekordtempo für die Geschichte der Russische Föderation zugenommen – um 2,7 Jahre bis auf beinahe 72,8 Jahre, rapportierte im Frühjahr Rosstat. In diesem Jahr soll die Lebenserwartung 73,4 Jahre erreicht haben, teilte Gesundheitsminister Michail Muraschko Ende Juni mit. Am vergangenen Mittwoch präzisierte er, dass dieser Wert für die Frauen um etwa sechs Jahre höher liege als bei den Männern. Der Minister erklärte dies gerade vor dem Hintergrund, dass das auf eine Bewahrung der Gesundheit ausgerichtete Verhalten bei den Frauen ausgeprägter sei. Bei den Männern sei aber das Verhalten riskanter.

Ein Drittel der Bürger Russlands wendet sich nicht an Ärzte, wenn sie medizinische Hilfe brauchen, zeigte eine Rosstat-Erhebung, die noch vor der COVID-19-Pandemie, im Jahr 2019 durchgeführt wurde. Damals hatte jeder fünfte Befragte erklärt, dass er sich nicht des Erhalts einer effektiven Behandlung im Krankenhaus sicher sei. Weitere 23 Prozent hatten mitgeteilt, dass sie keine Zeit für einen Arztbesuch hätten. 30 Prozent der Befragten waren damals unzufrieden mit der Arbeit der medizinischen Einrichtungen. Und jeder 7. Umfrageteilnehmer war sich sicher, dass eine qualitätsgerechte medizinische Hilfe nur eine kostenpflichtige sein könne.

Dabei haben sich bei Russlands Bürgern nicht wenige Beanstandungen und Klagen in Bezug sowohl auf die staatliche als auch die private Medizin angesammelt. Eine Untersuchung der in Moskau ansässigen Stiftung „Öffentliche Meinung“ hat gezeigt, dass in den letzten sechs bis zwölf Monaten 33 Prozent der Bürger Russlands überhaupt nicht medizinische Hilfe suchten und in Anspruch genommen haben. Laut den Angaben einer anderen Befragung dieser kremlnahen Stiftung seien über 40 Prozent der Bürger Russlands der Auffassung, dass die Mehrheit der heutigen Ärzte in der Russischen Föderation ein geringes Qualifikationsniveau besitze. Dies kann damit zusammenhängen, dass in den Polikliniken der jeweilige Arzt das Recht hat, zehn bis zwölf Minuten einem Patienten zu widmen, wobei er es nicht schafft, sich fachgerecht mit der Diagnose und Heilbehandlung festzulegen. Und die Hauptklage in Bezug auf die private Medizin bestehe darin, dass man die Patienten betrüge und bestrebt sei, durch sie ordentlich zu verdienen.

„In den Regionen fehlen Ärzte. Der Staat unternimmt Anstrengungen zur Überwindung des Personalmangels. Vorerst aber müssen die Menschen lange auf einen Arzttermin warten. Über dies hatte das Coronavirus bei vielen eine Reihe von Erkrankungen verschlimmert, darunter chronische“, sagte der „NG“ Alexander Andrejew, Generaldirektor des Unternehmens „Der Arzt nebenan“.

Mit der umfangreichen Verbreitung einer Digitalisierung auf dem Gebiet der medizinischen Leistungen hat sich die Anmeldung für einen Arzttermin vereinfacht und ist flexibler geworden. Zur gleichen Zeit hat das elektronische Anmeldesystem Schwierigkeiten für den Erhalt eines Arzttermins für die betagten Menschen ausgelöst, für die die elektronische Form des Zusammenwirkens nicht immer einfach ist. Einige haben einfach keine Möglichkeiten oder das Wissen, um sich auf der entsprechenden Plattform anzumelden oder sich für einen Arzttermin zu bemühen. Dies erklärte der „NG“ Dozentin Olga Lebedinskaja vom Lehrstuhl für Statistik der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität. „Allmählich renkt sich die Situation ein, aber sehr langsam. Die Qualität der Leistungen hat sich in den letzten Jahren (landesweit) nicht stark verändert. Es wurden viele diagnostische Anlagen bereitgestellt, aber die Zeitnormen für die Sprechstunde des Arztes mit einem Patienten sind strikter geworden“.

„Für Menschen im arbeitsfähigen Alter sind aufgrund der sich ergebenen sozial-ökonomischen Lage der Besuch eines Arztes und der Erhalt von Behandlungen in der Arbeitszeit zu einer Komplikation geworden“, setzt die Expertin fort. „Zu einer zusätzlichen Belastung für den Etat werden Analysen und die medizinischen Präparate, die für eine Genesung und Unterstützung des Gesundheitszustands notwendig sind (zum Beispiel können bei Diabetes Typ 2 die Kosten für Präparate für einen Monat bis zu 170.000 Rubel erreichen, wenn der Patient es ablehnt, sich aufgrund irgendwelcher Ursachen erfassen zu lassen)“.

Hinsichtlich der Arztbesuche entfallen die meisten auf die Allgemeinmediziner. „In den Jahren 2021 und 2022 lag dieser Wert bei 7,8 (Arzt-) Besuchen je Einwohner im Jahr. Die Zahlen für die beiden Jahre sind beinahe gleiche, und dies ungeachtet dessen, dass ab dem II. Quartal des Jahres 2022 die COVID-Pandemie abzuklingen begann… Es muss betont werden, dass der Arztbesuch für prophylaktische Zwecke, wenn es noch keinerlei Symptome gibt, man aber Erkrankungen oder Faktoren für deren Entwicklung feststellen kann, ein überaus wichtiger Aspekt für die Bewahrung der Gesundheit ist. Außerdem muss betont werden, dass, wenn ein Mensch bereits eine chronische Erkrankung besitzt, der Arztbesuch zwecks rechtzeitiger Änderung der Heilbehandlung, Treffen von Entscheidungen über die Notwendigkeit einer stationären Behandlung und Gewährung hochtechnologischer Hilfe hilft, das Leben zu bewahren und die Risiken für die Entwicklung von Komplikationen zu verringern“, sagte der „NG“ Oxana Drapkina, unabhängige Chefexpertin für Therapiefragen und generelle Arztpraxis des russischen Gesundheitsministeriums.