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Russlands Bürger warnte man vor einer drastischen Zunahme einer strukturellen Arbeitslosigkeit


Die Situation auf dem Arbeitsmarkt der Russischen Föderation bleibe eine stabile, hat man in der Regierung erklärt. Über einzelne Details berichtet man jedoch derzeit weitaus lieber nicht in den zuständigen Institutionen und Ministerien, sondern beispielsweise in der Zentralbank. So hat die Zentralbankchefin Elvira Nabiullina vor einer zeitweiligen Zunahme einer strukturellen Arbeitslosigkeit gewarnt. Bisher berichtet man im Ministerkabinett über vier offene Arbeitsstellen auf einen gemeldeten Arbeitslosen. Das Internetportal Headhunter fixiert gar fünf Bewerbungsschreiben je offene Arbeitsstelle. Die strukturelle Arbeitslosigkeit bedeutet gerade, dass es auf dem Markt sowohl offene Stellen als auch Bewerber gibt. Sie passen aber nicht zusammen. Ein Teil der Analytiker ruft dazu auf, das Ungleichgewicht durch Zeitverträge zu beheben.

Die Anzahl der gemeldeten Arbeitslosen übersteigt nach wie vor keine 0,9 Prozent von der Gesamtzahl der Arbeitnehmer. Mit Stand von Mitte September waren dies rund 654.000 Menschen, folgt aus Daten, die Ende vergangene Woche Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa angeführt hatte. Außerdem nehme die Zahl der Menschen ab, die im Kurzarbeitsregime tätig sind, aber auch die Zahl der Arbeitnehmer, die ohne Arbeit sind, aber weiterhin ihre Gehälter und Löhne bekommen.

In der Regierung betonte man gleichfalls, dass die Anzahl der Stellenausschreibungen, die auf dem Internetportal „Arbeit Russlands“ gepostet wurden, bis auf 2,5 Millionen angestiegen ist. Den Angaben von Tatjana Golikowa nach zu urteilen, übersteigt dies beinahe um das 4fache die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen.

Obgleich die Situation mit den offenen Arbeitsstellen auf dem Arbeitsmarkt widersprüchlich ist. Natalia Danina, Chefexpertin des Portals www.hh.ru für den Arbeitsmarkt, berichtete, dass zuerst der Wert für den speziell berechneten hh.Index (Parameter für die Konkurrenz um einen Arbeitsplatz) mit einem Schlage bis auf sechs Bewerbungen auf eine offene Arbeitsstelle und gar mehr hochgeschnellt sei. Danach habe sich der Wert im Verlauf des Sommers auf einem Niveau von mehr als fünf Bewerbungen je offene Stelle gehalten. Und in den ersten zwei Septemberwochen sei er genau bis auf fünf Bewerbungen abgesunken.

„Solch eine Lage ist grenzwertig: Der Übergang des Indexes näher zu vier Bewerbungen wird von einer neuen Etappe eines massenhaften Mangels auf dem Arbeitsmarkt zeugen“, meint Danina. Wobei nach ihren Worten im Hauptteil der Regionen (mit Ausnahme von Moskau und Sankt Petersburg) der Index „bereits die Linie eines Mangels an Person überschritten hat“. Obgleich natürlich die Konkurrenzsituation und der Mangel an Menschen für die verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich aussehen würden.

So sind der Statistik des Recruiting-Unternehmens nach zu urteilen, im August zu den Haupt-Outsidern hinsichtlich der Dynamik für die offenen Stellen das Versicherungswesen, der Staatsdienst und das Automobil-Business geworden. Dort wurde eine wesentliche Verringerung der Anzahl offener Stellen auf das Jahr hochgerechnet fixiert, etwa um 90, 80 bzw. 70 Prozent. Zu Spitzenreitern hinsichtlich der Anzahl von Stellenausschreibungen wurden solche Bereiche wie „Sportklubs, Fitness-Zentren und Beauty-Salons“, „Bauwesen und Immobilien“, „Installationen und Serviceleistungen“, die eine Zunahme von 38, 43 bzw. 46 Prozent auf das Jahr hochgerechnet verzeichneten.

In einzelnen Bereichen kann aber die Dynamik der Ausschreibungen und Bewerbungen sogar frappieren, und zwar vor dem Hintergrund dessen, dass derzeit von einem Bedarf mehrerer Berufe gesprochen wird. So hat im Bereich „Informationstechnologien, Internet und Telecom“ die Anzahl der Bewerbungen um 42 Prozent auf das Jahr hochgerechnet zugenommen. Die Zahl der Stellenausschreibungen verringerte sich aber im gleichen Zeitraum um vier Prozent. Nimmt man nur einmal den August, so machte die Zunahme der Anzahl der Bewerbungen 60 Prozent aus, während die Anzahl der Stellenausschreibungen um 27 Prozent zurückging.

Einige Details über den Arbeitsmarkt in Russland werden derzeit sozusagen freigiebiger nicht so sehr in den Fachministerien als vielmehr zum Beispiel in der Zentralbank mitgeteilt. Am vergangenen Freitag teilte die Zentralbank-Chefin Elvira Nabiullina in ihrer Erklärung zu den Ergebnissen der Tagung des Direktorenrates zum Leitzins mit, dass – ja – die Situation auf dem Arbeitsmarkt eine stabile bleibe, dabei würde sich aber die Struktur der Nachfrage nach Arbeitsplätzen ändern.

„Zum Beispiel erwerben Unternehmen neue Anlagen und Ausrüstungen und formieren eine Nachfrage nach Spezialisten, die eine Umschulung für das Arbeiten mit ihnen durchlaufen haben“, erläuterte Nabiullina. Laut einer Präzisierung der Zentralbank-Chefin führe die strukturelle Umgestaltung der Wirtschaft unweigerlich zu einer Freisetzung von Arbeitskräften dort, wo die Produktion den wirtschaftlichen Sinn verliere, und zu deren Umleitung dorthin, wo sich neue Möglichkeiten eröffnen würden. „Dies kann zu einer zeitweiligen Zunahme der strukturellen Arbeitslosigkeit führen“, warnte Nabiullina.

„Derzeit sind alle großen Arbeitgeber in den Prognosen sehr vorsichtig. Der Horizont der Unternehmen für ein Planen liegt etwa bei einem Quartal. Langfristige strategische Pläne hat das Business derzeit einfach nicht“, erläuterte Natalia Stscherbakowa, Generaldirektorin der Vereinigung privater Beschäftigungsagenturen sowie Verkaufs- und Marketingdirektorin der Firma ANCOR. Dies betreffe auch die Einstellungspläne.

„Es gibt aber positive Indikatoren. Viele Unternehmen, die ein Verlassen des russischen Marktes angekündigt hatten, sind tatsächlich nicht weggegangen. Sie änderten die Namen, möglicherweise die Eigentümer. An die Stelle der Unternehmen, die real ihr Engagement in Russland beendeten, kommen bereits andere große Akteure“, fuhr die Expertin fort. Obgleich es bisher schwierig sei zu sagen, zu was für einer die Business-Landschaft letztlich werde.

„Dabei gab es immer und bleibt die sogenannte strukturelle Arbeitslosigkeit, bei der es offene Stellen und Kandidaten auf der Suche nach Arbeit gibt. Sie passen aber nicht aufgrund der Nichtübereinstimmung der Fertigkeiten mit den Bedürfnissen der Arbeitgeber zusammen“, bestätigte Stscherbakowa.

Wie ein Teil von Experten meint, würden flexible Beschäftigungsformen gar inklusive solcher wie die Verbreitung von Zeitverträgen helfen, die Diskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden. „In vielen Ländern einschließlich Russlands entwickelt sich derzeit aktiv eine Plattform-Beschäftigung, ergeben sich neue Formate für ein Zusammenwirken zwischen den Unternehmen und Arbeitnehmern. Bei uns hat sich doch eine öffentliche Meinung herausgebildet, dass eine Tätigkeit auf der Grundlage eines befristeten Vertrages nicht besonders attraktiv sei, da der Mitarbeiter „sozial nicht abgesichert ist““, sagte Stscherbakowa. „Tatsächlich aber sitzen irgendwo Menschen ohne Arbeit, und anderswo leiden Organisationen aufgrund eines Mangels an Menschen für die Realisierung von Aufgaben“.

„Aufgrund der sich herausgebildeten Gerichtspraxis, wonach Entscheidungen zur Anerkennung von Arbeitsbeziehungen als unbefristete getroffen werden, streben die Arbeitgeber nicht an, das Format einer befristeten Beschäftigung zu nutzen, und können nicht die Positionen für real zeitweilige Projekte schließen“, kommentiert Stscherbakowa. „Im Endergebnis bleiben Menschen ohne eine Arbeit, obgleich sie Einkommen auf derartigen Positionen erhalten könnten“.

„Laut Angaben der russischen Statistik ist ein Arbeiten entsprechend von befristeten Arbeitsverträgen in unserem Land fast nicht verbreitet. Der Anteil der eingestellten Arbeitnehmer, die entsprechend solchen Verträgen arbeiteten, machte 2,3 Prozent im Jahr 2021 aus“, teilte Viktor Ljaschok, wissenschaftlicher Oberassistent am Institut für soziale Analyse und Prognostizierung der Russischen Akademie für Volkswirtschaf und Staatsdienst, mit.

„Befristete Arbeitsverträge werden in der Regel mit einem Arbeitnehmer für eine zeitweilige oder projektbezogene Beschäftigung abgeschlossen. Ausgehend von der Analyse der Stellenausschreibungen auf dem Internetportal mit einer zeitweiligen Beschäftigung, hat man im Jahr 2022 am häufigsten Bauarbeiter, IT-Spezialisten, Produktions- und Arbeitsperson, Marketing-Experten und Vertreter kreativer Berufe (Kunst, Unterhaltung, Massenmedien) für solch eine Arbeit gesucht“, zählte die Juristin vom Internetportal www.hh.ru und Arbeitsrechtsexpertin Tatjana Netschajewa auf.

Der Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages schaffe keine Risiken für den Arbeitnehmer, versichert Netschajewa. Nach ihren Aussagen würden das Fehlen eines Arbeitsvertrages als solchen oder dessen Ersetzung durch zivilrechtliche Verträge zu riskanten werden. Aber es gibt natürlich auch bei den befristeten Arbeitsverträgen Nuancen. „Der Komfort für einen Arbeitgeber besteht darin, dass der Mitarbeiter für einen bestimmten, für das Unternehmen erforderlichen Zeitraum für eine bestimmte Art und einen bestimmten Umfang an Arbeiten oder für die Ersetzung eines anderen Mitarbeiters eingestellt wird. Die Kündigung erfolgt nach Ablauf dieses Zeitraums“, sagte Dmitrij Porotschkin, der Ombudsmann für die Arbeitsgesetzgebung.

Ob man aber den Vertrag verlängert – ist eine große Frage. Die Umstellung auf einen befristeten Vertrag, auch wenn er entsprechend einer Vereinbarung der Seiten vorgenommen werden muss, kann auch noch eine Form sein, um den Personalbestand und die Kosten zu optimieren. Larissa Sorokina, Dozentin an der Wirtschaftsfakultät der Russischen Universität für Völkerfreundschaft, erzählte beispielsweise der Nachrichtenagentur „Prime“, dass Arbeitgeber mitunter Rentner mit einem befristeten Arbeitsvertrag ausstatten, wobei sie ihn dann nicht verlängern. Daher rief sie betagte Arbeitnehmer auf, solch eine Variante zu umgehen.