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Russlands „digitale Polizei“ agiert außerhalb der Gesetze


Von neuen Herausforderungen für das Verfassungsrecht der Bürger auf die Freiheit für friedliche Versammlungen ist in einem Bericht des Internetportals „OVD-Info“ und des Projekts „Reforum“ die Rede. Neben den klassischen Problemen wie die unangemessene Gewalt seitens der Polizei und der unbegründeten Festnahmen werden jetzt gegen Aktivisten der Straßenaktionen die Früchte des technologischen Fortschritts und der Digitalisierung eingesetzt.

Die rasante Digitalisierung der staatlichen Behörden, darunter der Rechtsschutzorgane, spitzt das Problem der unkontrollierbaren Erfassung und Speicherung von Daten über die Teilnehmer von Protesten zu. Die Verfolgungen von Aktivisten werden dank dieser Daten zu weitreichenderen, wird in dem Report ausgewiesen. In dem Dokument wird auch solch eine Technologie wie das durchgehende und totale Monitoring der sozialen Netzwerke „für die Ermittlung potenzieller Aufwiegler und dafür, um sie zur Verantwortung zu ziehen“, sowie zwecks Entfernung der einen oder anderen Informationen von verschiedenen Internetressourcen erwähnt.

Zu Beginn und im Frühjahr dieses Jahres, nach den Protestaktionen hat die hauptstädtische Polizei massenhaft die Personen aufgesucht oder zur Erstellung von Protokollen über ordnungsrechtliche Verstöße vorgeladen, deren vermutliche Teilnahme man anhand von Kameraaufnahmen ermittelt oder die man der „Organisierung“ einer nichterlaubten Aktion durch Veröffentlichung von Mitteilungen in den sozialen Netzwerken bezichtigt hatte, heißt es in dem Dokument. Weite Verbreitung hat die Vornahme von Foto- und Videoaufnahmen von Oppositionellen gefunden, die durch Kräfte der Rechtsschützer in Zivil oder mit Hilfe der städtischen Videobeobachtungssysteme durchgeführt werden. Überdies verpflichtet man bei der Durchführung genehmigter Protestaktionen deren Teilnehmer, Metallrahmen mit integrierten Kameras zu passieren.

In den Polizeirevieren verlangt man jetzt von den festgenommenen Demonstranten, eine Prozedur des Fotografierens und einer daktyloskopischen Erfassung zu durchlaufen, obgleich dies nicht einmal im Ordnungsstrafrecht vorgesehen ist. Im Falle einer Weigerung zwinge man dazu die Festgenommen „gewaltsam“ oder unter Androhung, sie anzuwenden, erklären die Menschenrechtler. Laut Informationen von „OVD-Info“ habe die Polizei in Petersburg nach den Festnahmen von Teilnehmern der Protestaktion vom 21. April 2021 gefordert, mindestens in 28 Revieren eine Daktyloskopie durchzuführen, das Fotografieren – in 24. Außerdem wurden die Festgenommen biometrisch erfasst: Sie mussten ihre Körpergröße, Gewicht, Haarfarbe, Tattoos, den Arbeitsplatz usw. angeben. Die Menschenrechtler betonen, dass es Fälle gegeben hätte, als von einigen Bürgern gleichfalls gefordert wurde, die IMEI-Nummer ihrer Mobiltelefone anzugeben.

In dem Report wird erläutert, dass man das System zur Gesichtserkennung in Fällen mit ordnungsrechtlichen Verstößen eigentlich nicht anwenden könne, doch werde dies beinahe überall getan. Dabei ist das Prozedere überhaupt nicht gesetzlich geregelt.

Die negativen Konsequenzen des Eingreifens in das Privatleben seien, so die Menschenrechtler, unvergleichlich größer als die gesellschaftliche Gefährdung, die die ordnungsrechtlichen Verstöße verursachen. Das Sammeln persönlicher Informationen macht einen Menschen angreifbar, führt zu Problemen beim Studium oder am Arbeitsplatz. Im Land hat sich aber solch eine Situation herausgebildet: Die ordnungsrechtlichen Verfolgungen oppositioneller Aktivisten verwandelten sich in eine alltägliche Erscheinung. Die Gerichte verhängen alljährlich Strafen gegen sie, die insgesamt zig Millionen Rubel ausmachen. Staatliche Einrichtungen entlassen Mitarbeiter wegen der Teilnahme an Protesten. Und in Hochschulen droht man Studenten mit einer Exmatrikulation.

Den digitalen Teil ihres Berichts schließen die Menschenrechtler mit dem Vorschlag ab, gesetzgeberisch die Anwendung von Mitteln zur Verfolgung, Videobeobachtung, Gesichtserkennung und zum Monitoring der sozialen Netzwerke zu regeln. Deren Einsatz zwecks „Einschränkung der Realisierung der politischen Rechte“ müsse überhaupt verboten werden: „Die Ergebnisse der Anwendung solcher Maßnahmen müssen als unzulässige Beweisen in Verfahren zur strafrechtlichen Verfolgung im Zusammenhang mit Aktionen angesehen werden. Die Systeme zur Gesichtserkennung dürfen nicht in Fällen der Behandlung ordnungsrechtlicher Verstöße angewandt werden“. Nach Meinung der Experten könne man als ein Beispiel für die Schaffung von Ordnung in den Normativen die Position des Verfassungsgerichts nehmen, das operative Nachforschungsmaßnahmen in Fällen über ordnungsrechtliche Verstöße verboten hatte.

In dem Bericht wird berechtigterweise die Frage nach der Notwendigkeit aufgeworfen, auf Gesetzesebene den Einsatz von Mitteln zur Verfolgung, Videobeobachtung, Gesichtserkennung und zum Monitoring der sozialen Netzwerke zu regeln, meint Alexander Brod, Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen. Und dies sei besonders aktuell unter den gegenwärtigen Bedingungen, unter denen die Personendaten der Bürger Russlands schwach gesichert seien. Regelmäßig werde ein Verlust dieser Daten beobachten. Sie würden in den freien Umlauf und so in die Hände von gewissenlosen Verbreitern von Werbung und Betrügern geraten. Man nutze sie zur Erpressung sowie zur Verletzung der politischen und Arbeitsrechte. Die russische Aufsichtsbehörde für das Internet und Fernmeldewesen Roskomnadzor sei im Bereich des Schutzes von Personendaten praktisch untätig, die Gerichte mögen derartige Fälle nicht, verschleppen sie und beschränken sich in seltenen Fällen auf nichtige Kompensationszahlungen, unterstrich der Experte. Brod erinnerte gleichfalls daran, dass es eine strafrechtliche Haftung für eine Preisgabe von Personendatengebe. Sie werde durch den Artikel 137 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation geregelt, der freilich ein „schlummernder“ sei. Derweil seien die Angaben über die operative und Aufklärungsarbeit und das Privatleben der Mitarbeiter der Rechtsschutz- und kontrollierenden Organe jetzt durch ein spezielles Gesetz geschützt. „Natürlich muss man gesetzgeberisch die Haftung für Verstöße im Bereich der Personendaten verschärfen, ich denke aber nicht, dass die Strukturen der Rechtsschutzorgane unter diese Haftung fallen werden, die die Aufsicht über die politisch Unzuverlässigen vornehmen“, konstatierte der Gesprächspartner gegenüber der „NG“.

„Scheinbar hat man bei uns vollkommen die Beschränkungen und Verbote vergessen, die durch das Gesetz hinsichtlich des Sammelns und der Nutzung von Personendaten der Bürger festgelegt worden sind. Ich verstehe, dass der Staat bei uns ein nicht gänzlicher Rechtsstaat ist. Dennoch aber muss man, sich auf die Verfassungsprinzipien stützend, auf diese Einschränkungen hinweisen und auf sie bestehen“, erklärte der „NG“ der Doktor der Rechtswissenschaften und das Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe Ilja Schablinskij. Das Äußere des Menschen, seine physiologischen Besonderheiten – dies sind biometrische Personendaten, die man nur bei Vorliegen einer Zustimmung des Menschen, und dabei einer schriftlichen, bearbeiten kann. Dies ist der Artikel 11 des entsprechenden Gesetzes. Ausnahmen gibt es in ihm. Die sind aber auch konkret aufgezählt worden. Dies ist eine sich unter Verschluss befindliche Auflistung: Gerichtsentscheidungen, Fälle, die durch das Verteidigungsgesetz vorgesehen sind, durch das Gesetz über die Bekämpfung von Terrorismus, über die Korruptionsbekämpfung und einige andere. Auf diese Normen müssen die Amtspersonen auch genaue Verweise geben. Im Gesetz gibt es aber keinerlei Grundlagen, die mit einer ordnungsrechtlichen Bestrafung zusammenhängen, unterstrich der Menschenrechtler. „Den Polizeibeamten gefällt nicht, wenn sich irgendwelche Aktivisten mit dem Sammeln ihrer Personendaten befassen. Aber auch die Polizei darf in ihrem Bereich keine Willkür walten lassen. Denn sonst ergibt sich, dass die Kontrolle der Teilnahme von Bürgern an politischen Maßnahmen mit einer Verarbeitung von Informationen über deren politischen Anschauungen in Verbindung steht. Politische Anschauung sind aber eine spezielle Kategorie von Personendaten, die durch das Gesetz besonders sorgfältig geschützt werden“, erinnerte Schablinskij. Und wenn die Polizei beginne, biometrische Angaben zwecks Erstellung von Listen „Unzuverlässiger“ zu verarbeiten, so sei dies sowohl eine Verletzung des Basisgesetzes als auch eine Untergrabung des Verfassungsprinzips der „politischen Vielfalt“, da in der Realität die Offiziellen und Behörden so auf die Opponenten Druck ausüben würden.