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Russlands Elite wird erneut Putin den Treueeid leisten müssen


Die Kreml-Rhetorik hatte sich in der letzten Zeit hauptsächlich in Bezug auf die USA, Europa und die Ukraine verschärft. Nach dem der Präsident der Russischen Föderation eine Definition für die „fünfte Kolonne“ formuliert hatte, begannen harte Termine auch an die Adresse von Bürgern Russlands zu erklingen. Als „Verräter“ sind jene bezeichnet worden, die auf den Westen schauen würden – unabhängig vom Reichtum oder von der Zugehörigkeit zur Elite. Und da die materielle Seite nicht als die hauptsächliche anerkannt worden ist, rücken Worte in den Vordergrund. Bereits angefangen haben gewisse Schwüre auf die Treue zu Russland und dessen Staatsoberhaupt. Den Trend und den Ton hatte der stellvertretende Sekretär des russischen Sicherheitsrates und Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew vorgegeben, der versprochen hat, die „unverschämten Feinde“ aus dem Westen in die Schranken zu weisen. Experten schließen nicht aus, dass vor allem die Staatsbeamten, Geschäftsleute und andere VIPs gegenüber Wladimir Putin einen neuen Treueeid leisten müssten. Und wenn sie damit durch sind, könne es auch die einfachen Bürger des Landes erwarten.

„In derartigen, nicht einfachen Zeiten und in einer derartigen verantwortungsvollen Situation, in der emotional exaltierten Situation demonstrieren sehr viele Menschen ihr Wesen. Sehr viele Menschen zeigen sich – auf Russisch gesagt – als Verräter. Sie selbst verschwinden aus unserem Leben“, erklärte Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, als er die Erklärung von Putin kommentierte, wonach eine Reinigung der Gesellschaft von Verrätern Russland stärken werde. „Der eine oder andere verlässt seine Ämter, andere verlassen das aktive Dienstleben, dritte verlassen das Land und gegen in andere Staaten. So erfolgt auch diese Reinigung. Irgendwer verletzt das Gesetz und erhält eine Bestrafung dafür entsprechend von Gerichtsentscheidungen“, erläuterte Peskow.

Nicht weniger bezeichnend als die Worte an sich war auch der Kontext, in dem sie gesprochen worden waren. Man hatte den Pressesekretär des Präsidenten gebeten, die Mitteilungen darüber zu kommentieren, wonach an Wohnungstüren jener, die gegen die Sonderoperation in der Ukraine auftreten, nun der Buchstabe „Z“ (in der offiziellen russischen Staatspropaganda derzeit als Symbol für das Wort „Za“-„Für“ im Rahmen von Losungen wie „Für den Frieden“ verwendet – Anmerkung der Redaktion) auftauche. Peskow sei nicht der Auffassung, dass gerade solche Ereignisse oder Aktionen als Schritte zu einer Säuberung des Landes von der „fünften Kolonne“ angesehen werden könnten. Dies sei eher ein Ausdruck von Emotionen (allerdings in einer recht aggressiven Form gegenüber denjenigen, die nicht mit dem Putin-Kurs einverstanden sind – Anmerkung der Redaktion). Dabei fügte er aber hinzu: „Sehr viele Menschen wollen nicht bloß emotional, sondern wirksam den Präsidenten. Sie sind die überwältigende Mehrheit“. Es sei daran erinnert, dass die Symbole der am 24. Februar begonnenen russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine und verunglimpfende Schmierereien dort aufzutauchen begannen, wo Aktivisten pazifistischer Proteste und Mitarbeiter oppositioneller Medien wohnen.

Theoretisch hatte Putin in seinem Auftritt vom 16. März natürlich nicht so sehr die im Blick, als vielmehr im Land weit bekannte Menschen, das heißt Vertreter der unterschiedlichen Eliten. (Und entsprechende Listen kursieren bereits im russischen Internet und werden täglich immer länger. – Anmerkung der Redaktion)

Nach Putins Meinung werde der Westen durch „Nationalverräter“ (im Übrigen ein bekannter Begriff aus der Lexik des deutschen Nationalsozialismus – Anmerkung der Redaktion) handeln, durch jene, die „hier Geld verdienen, bei uns, aber dort leben. Und „leben“ nicht einmal so sehr im geografischen Sinne dieses Wortes, sondern entsprechend ihren Gedanken, entsprechend ihrem Sklavenbewusstsein“. Der Präsident erklärte, dass er ganz und gar nicht jenen verurteile, „der eine Villa in Miami oder an der französischen Riviera hat, der nicht ohne Foie gras, Austern oder den sogenannten Gender-Freiheiten auskommen kann“. Nach seinen Worten bestehe das Problem nicht darin, sondern darin, dass „sich viele solcher Menschen von ihrem Wesen mental gerade dort und nicht hier befinden, nicht mit unserem Volk, nicht mit Russland“. Und sie seien angeblich „bereit, auch die eigene Mutter zu verhökern, nur damit ihnen erlaube, im Vorzimmer bei eben dieser höchsten Kaste zu sitzen“. Obgleich auch jener Westen sie nicht als gleichgestellte ansehe. Dort würde man einfach versuchen, „unsere Gesellschaft zu spalten, wobei mit den Gefechtsverlusten und den sozial-ökonomischen Folgen der Sanktionen spekuliert wird, eine zivilgesellschaftliche Konfrontation in Russland zu provozieren und unter Ausnutzung ihrer „fünften Kolonne“ nach dem Erreichen ihres Zieles – die Zerstörung Russlands – zu streben“. Danach verwendete Putin auch die Worte „Schufte“ und „Verräter“, die das Volk „einfach, wie eine zufällig in den Mund geflogene Fliege ausspuken wird“. Und diese „natürliche und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft wird unser Land, unsere Solidarität, Geschlossenheit und Bereitschaft, auf jegliche Herausforderungen zu antworten, stärken“. Und es sei klar, dass der sogenannte kollektive Westen dies mit keinerlei Geldern verhindern könne, so viel davon auch in die Wühltätigkeit investiert werden würde.

Dennoch ist in dieser Definition Putins die Verleugnung der kompletten Relevanz gerade der materiellen Seite der Sache bezeichnend. Obgleich durch ihn auch das Geld erwähnt wird, ist aber die mentale Einstellung wichtiger. Das heißt: Man kann im Ausland Villen und Jachten besitzen. Das Wichtigste ist, mit der Seele und den Gedanken mit Russland zu sein. Solch eine Definition des Begriffs „fünfte Kolonne“ verursacht jedoch Schwierigkeiten für deren Formierung durch die zuständigen Behörden, für die es schwierig sein wird, in die Köpfe der Menschen zu schauen. Oder im Gegenteil – die Erstellung eines Registers von „Nationalverrätern“ erleichtert, da sie erlaubt, jeglichen einer sklavischen Haltung zum Westen zu verdächtigen. Zum Beispiel entsprechend der Bekleidung, der Frisur, den musikalischen Geschmäckern oder einfach dem trotzigen Blick.

Freilich, dies wird mehr die einfachen Menschen denn die VIPs betreffen, die bereits mehrfach einen Treueeid gegenüber dem Land und dessen Staatsoberhaupt abgelegt haben. Nunmehr wird man sie nur lediglich darum bitten, erneut einen Schwur abzulegen. Und als erster hat dies Medwedjew getan, der gerade seinen eigenen Telegram-Kanal gestartet hat (mit bereits mehr als 145.000 Abonnenten am Sonntagabend – Anmerkung der Redaktion). Der erste Eintrag war dort auch über den ewig gegenüber Russland feindlich eingestellten Westen, aber auch über die Unvermeidlichkeit des Scheiterns der Politik zur Zügelung der Entwicklung Russlands. Es muss angenommen werden, dass dieser Trend jetzt recht umfangreich aufgegriffen und abgekupfert wird. Übrigens, unter den russischen Parlamentariern erfolgt der Flashmob „Schwöre Liebe zum Land!“ seit Beginn der von Putin befohlenen Sonderoperation in der Ukraine. Experten bestätigten, dass die Worte Putins bisher vor allem die Eliten betreffen würden. Doch es werde bereits nicht einfach werden, den begonnenen Prozess zu stoppen.

Der Leiter der analytischen Verwaltung der KPRF, Sergej Obuchow, erläuterte, dass der Post gerade von Medwedjew gesetzmäßig aufgetaucht sei. „Er versteht, dass dies nicht das Ende der Auseinandersetzungen innerhalb der Eliten, sondern nur der Anfang ist. Daher möchte er nachweisen, dass er ein starker Staatsvertreter ist. Ihm folgend werden augenscheinlich Posts anderer Vertreter der Elite folgen“. Der Kommunist bezweifelt aber, dass doch eine reale Säuberung der Elite beginnen werde. „Der Präsident holt oft aus, schlägt aber nicht zu. Und wir sehen keine Dampfschiffe und Flugzeuge, mit denen die für die sozial-ökonomische Krise Verantwortlichen das Land verlassen“. Dabei nimmt Obuchow an, dass, obgleich auch ein Signal an die Elite gesandt worden sei, klinge es aber auch für das Volk gut, unter dem immer mehr gegen die Elite gerichtete Stimmungen triumphieren würden.

Das Mitglied des Büros der „Jabloko“-Partei Grigorij Grischin merkte an, dass die Äußerungen Putins und Medwedjews zusammenhängen würden. Medwedjew sei schon lange Putins Junior-Partner und unterstütze die Politik des Präsidenten. „Die Handlungen sind offenkundig abgestimmt worden. Medwedjew verstärkt konsequent die Rhetorik, äußert sich im Quadrat, lauter und markanter. Dies ist eine langjährige Position Medwedjews. Im Sommer beispielsweise erschien nach dem Putin-Artikel über die Ukraine ein Beitrag von Medwedjew“. Dabei ist sich der „Jabloko“-Vertreter sicher, dass der Präsident offenkundig weiß, wenn er konkret im Blick hat. Daher werde es logisch sein, wenn Kaderveränderungen folgen werden. Zur gleichen Zeit wies Grischin darauf hin: Auch wenn die Aussagen an die Elite gerichtet seien. Die Beamten und Vertreter der bewaffneten und Rechtsschutzorgane würden sie aber vor Ort auf ihre Art begreifen, als eine Anleitung zum Handeln. Folglich könne eine Hexenjagd beginnen.

Der 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, Alexej Makarkin, ist der Auffassung: „Die Worte des Präsidenten sind sowohl an das Volk als auch an die Eliten gerichtet, in erster Linie gerade an sie – an die Staatsbeamten, an die Angestellten der staatlichen Unternehmen, an die Mitarbeiter der Fernsehkanäle, an die Sportler usw. In der letzten hat es eine Welle von Rücktritten gegeben. Während man sich aber früher dem ruhig verhalten hatte, so wird dies heute negativ aufgenommen. Daher wird der Elite zu verstehen gegeben, dass alle zusammen sein müssen“. Nach seinen Worten werde der Gesellschaft dabei zu verstehen gegeben, dass erstens eine Emigration auch ein Verrat sei. Kritische Posts in den sozialen Netzwerken sind gleichfalls unzulässig. „Das heißt: Die ausgereisten Unzufriedenen sind für die Herrschenden ein Plus. Ein Minus ist aber das Braindrain. Die Sache ist die, dass die sowjetischen staatlichen Vorgehensweisen zurückkehren“, unterstrich Makarkin. Er wies darauf hin, dass die harten Äußerungen Medwedjews nicht gestern begonnen hätten und dass Vertreter der Elite – einer nach dem anderen — derartige „Treueschwüre“ in Form von Veröffentlichungen mit einer Billigung der Handlungen des Staates ablegen würden.

Der Chef der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow konstatierte, dass das Auftauchen Medwedjews mit einer harten Lexik über die „unverschämten Feinde“ kein Zufall sei. „In Medwedjew sehen viele nach wie vor einen Liberalen, wenn auch einen systemkonformen. Und dies wird dementiert“. Nach Meinung des Experten könne man die Worte des Präsidenten natürlich auch auf die Mittelklasse anwenden. In einem größeren Maße würden sie jedoch gerade die Elite und das Umfeld der Elite betreffen, das heißt jene, die auf die eine oder andere Art vom Staat und dem gegenwärtigen politischen Regime Dividende erhalten würden. „Dies ist eine Therapie gegen eine mögliche Spaltung der Eliten. Denjenigen, die davon träumen, für eine Villa in Italien Geld zu verdienen sowie den Staatsdienst oder die Fernsehkanäle zu verlassen, wird zu verstehen gegeben, dass daraus nichts wird. Ihr Weggang oder ihre Emigration nach Europa wird von nun an als Abtrünnigkeit angesehen werden. Dies ist solch ein Signal „Wo wollt ihr denn vom U-Boot hin?“, erläuterte Kalatschjow der „NG“Und er ist sich nicht sicher, dass sich die Säuberung der Elite auf deren höchsten Ebene beschränken werde. Die Rede des Präsidenten können beispielsweise zum Vorwand sowohl für eine Neuaufteilung des Eigentums und einer gewaltsamen Übernahme von Besitz der „Verräter“ als auch für eine Neuverteilung der nach der Säuberung frei gewordenen Ämter werden.