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Russlands „Folterskandal“ wird auch zu einer Sache des Europarates


Wie der „NG“ im Projekt „Gulagu.net“ mitgeteilt wurde, erwarte man vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT von englisch Committee for the Prevention of Torture) doch eine aktive Reaktion auf die Veröffentlichung der Videoaufnahmen von Erniedrigungen von Häftlingen. Früher habe man sich dort bemüht, die Informationen über „Folterungen im Fließbandverfahren“ nicht zur Kenntnis zu nehmen, obgleich bereits ein Jahrzehnt lang CPT-Delegationen regelmäßig russische U-Haftanstalten und Straflager inspizieren. Folglich ist die Effektivität dieser Struktur des Europarates an sich in Frage gestellt worden. Jetzt aber hat man scheinbar in Strasbourg beschlossen, sich diesem Thema anzunehmen.

Im Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter hat man zugesagt, die von „Gulagu.net“ übergebenen Materialien zu untersuchen. Und die Menschenrechtler sind sich sicher, dass man in Strasbourg dieses Mal gezwungen sein wird zu reagieren, da das Ansehen dieser Struktur in Zweifel gestellt wurde.

„Sind dies etwa vollwertige Inspektionen und eine reale Kontrolle des Systems des Strafvollzugs, wenn CPT-Vertreter im Verlauf von zehn Jahren nach Russland gekommen sind und das Geschehen in den Straflagern und U-Haftanstalten nicht gesehen haben?“, unterstrich der Gründer des Projekts „Gulagu.net“ Wladimir Osetschkin. Wie die „NG“ herausgefunden hat, wurde dem CPT mehrfach über die umfangreiche Praxis der Einschüchterung von Häftlingen durch Agenten aus den Reihen angeworbener Aktivisten und Krimineller berichtet. „Folterungen im Fließbandverfahren“ gab es in einer ganzen Reihe von Regionen – Krasnojarsk, Omsk, Irkutsk, Saratow… Die Besucher aus dem Europäischen Ausschuss hatten jedoch der Teilnahme an inszenierten „Exkursionen“ durch ganz andere Gefängniseinrichtungen zugestimmt. Und auf alternative Berichte antworteten sie mit nichtssagenden Statements. „Sie hatten sich freiwillig zu Gefangenen falscher Vorstellungen über die Gefängnisrealitäten gemacht, wobei sie sich auf unvollständige und unglaubwürdige Quellen stützten“, erklärte Osetschkin. Er ist davon überzeugt, dass es in allen Strasbourger Institutionen des Europarates dutzende „Einflussagenten“ der Russischen Föderation gebe, die sich als Experten, Anwälte und Vertreter der Öffentlichkeit ausgeben und sich bemühen würden, das wahre Bild von dem sich abspielenden Horror abzuschwächen.

Wie Osetschkin erinnerte, kam es Ende letzten Jahres zu einer Veränderung in der CPT-Führung. Bis dahin hatte das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter der Vertreter der Ukraine Nikolaj Gnatowskij geleitet. Im Verlauf mehrerer Jahre hatte er nicht ein einziges Mal Russland besucht, aufgrund „ethischer Erwägungen“, wobei er darauf verwiesen hatte, dass unter Berücksichtigung der Beziehungen von Kiew mit Moskau seine Berichte und kritischen Anmerkungen die Offiziellen der Russischen Föderation als voreingenommen bewerten könnten. Vom neuen CPT-Leiter, zu dem allem nach zu urteilen ein Vertreter Großbritanniens wird, erwartet man in „Gulagu.net“ konkrete Schritte. Unter anderem auch, dass „er in die Russische Föderation kommen und eine vollwertige Inspektion aller „Folter-Fließbänder“ vornehmen wird. Noch nie ist in der gesamten Geschichte der Beteiligung Russlands an den politischen Organen Europas Derartiges wie die 200 Gigabyte von Aufnahmen aus dem dienstlichen Videoarchiv des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug im CPT eingegangen… Wir haben die CPT-Führung vor eine Tatsache gestellt – hier ist ein verifiziertes Videoarchiv“, betonte Osetschkin, der die Meinung vertritt, dass für Strasbourg „die Zeit des Erkennens und des Begreifens gekommen ist, was unweigerlich zur Suche nach wichtigen Entscheidungen führen wird“. Denn das Wirken des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter entspreche schon lange nicht mehr weder den erklärten Zielen noch dem Namen. Die Europäer würden in vorab vorbereitete Einrichtungen kommen. Als Antwort würden die Besucher lobende Berichte veröffentlichen, was einer effektiven Bekämpfung der „Gulag-Traditionen“ nicht ähneln würde. Und im CPT würde man wohl kaum begreifen, ist sich Osetschkin sicher, was sich tatsächlich abspiele. Seine Mitglieder würden sich einfach mehr als Politiker denn als Menschenrechtler verhalten. „Für sie sind natürlich die Demokratie-Prinzipien wichtig, aber offensichtlich auch anderes. In Europa will man sich nicht mit Russland zerstreiten“.

Dafür gibt es solch eine indirekte Bestätigung. Nach Aussagen Osetschkins hatte man in Strasbourg wenige Monate vor der Veröffentlichung des Archivs vom Geschehen, beispielsweise in Saratow, gewusst. Der „NG“ liegt ein Schreiben von „Gulagu.net“ vom 26. Mai 2021 an das CPT vor, in dem es heißt, dass „im Verwaltungsgebiet Saratow eine organisierte kriminelle Gemeinschaft aus Vertretern gewissenloser Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug und deren verdeckten „Agenten“-Komplizen aus den Reihen der Verurteilten wirkt. Sie haben im Verlauf von zwei Jahren hunderte Häftlinge brutalen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt“. Am 1. Juli antwortete das CPT, dass die Informationen zur Kenntnis genommen wurden. „Das heißt: Das CPT konnte und musste sogar Saratow noch vor dem Skandal in der internationalen Presse besuchen. Anstatt dessen hatte man dort Krasnodar ausgewählt. Meine Bitte, die Reiseroute zu ändern, ignorierte man. Und als Antwort auf die Kritik versprach man im persönlichen Schriftwechsel auch, mich ganz und gar zu blockieren“, teilte Osetschkin mit. Er erinnerte daran, dass der Europäische Ausschuss für Folterprävention vor einigen Jahren Jaroslawler Straflager besucht und im Ergebnis einen Bericht mit Komplimenten veröffentlich hatte, wobei er „einen gewissen Fortschritt in den Handlungen der Offiziellen gegen Folterungen hervorhob“, obgleich sie die ganze Zeit angedauert hatten. „Im Verlauf mehrerer Jahre hatte man uns um Wahrung der Vertraulichkeit hinsichtlich der von uns übergebenen Informationen gebeten. In der Stille sei es doch leichter, sie zu untersuchen. Und wir hatten uns darauf eingelassen, wobei wir nur einen Teil der Angaben vorlegten. Doch das Ergebnis war gleich null“, sagte Osetschkin, wobei er versicherte: „Wir werden die Reaktion und die weiteren Handlungen des CPT verfolgen“. Und wenn keine ernsthafte internationale Überprüfung einer ganzen Reihe von Gefängniseinrichtungen der Russischen Föderation erfolge, die von den Menschenrechtlern als „Folterstätten“ anerkannt wurden, werde die Frage nach einer „Reformierung des CPT“ aufgeworfen: „In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 werden wir an das Ministerkabinett des Europarates den detaillierten Schriftwechsel übergeben, der bestätigt, dass im Verlauf der letzten Jahre die Menschenrechtler erschöpfenden Materialien und Beweise für die Existenz von „Folter-Fließbändern“ in den russischen Gefängnissen an das CPT übergeben hatten, sie aber anstelle ernsthafter Überprüfungen nichtssagende Antworten erhalten haben“.

„Gulagu.net“-Koordinator Sergej Saweljew bestätigte gegenüber der „NG“, dass er bereit sei, in Strasbourg aufzutreten und darüber Aussagen zu machen, was er in den fünf Jahren seiner „Arbeit“ in der „Sicherheitsabteilung des Gebiets-Tbc-Krankenhauses-1“ gesehen hat. Nach Meinung des Menschenrechtlers Denis Pschenitschnyj „dürfen die Vertreter der Rechtsschutzorgane kein Monopol für das Sichten von Videoarchiven und die Videokontrolle haben“. In „Gulagu.net“ hofft man, dass man unter dem internationalen Druck das System der Videoüberwachung in Bezug auf die Gefängnisse zumindest unter die Kontrolle der Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation und eventuell des CPT und unabhängiger Vertreter der Öffentlichkeit stellen wird.

Wie die Vorsitzende des Komitees von Angehörigen von Strafgefangenen Jelena Bryljakowa der „NG“ erzählte, wurde am 23. September (vergangenen Jahres) an das Sekretariat des CPT eine erste Hard Disc mit hunderten Files, die massenhaften Verstöße in Irkutsk und in Saratow – sowohl in U-Haftanstalten als auch in Straflagern und sogar in einem Gefängniskrankenhaus – bestätigen, übergeben. Aber bisher hat keiner aus dem Ausschuss den Versuch unternommen, sich mit den Menschenrechtlern in Verbindung zu setzen, Details zu erfahren oder um Kontaktdaten von Verwandten von den Einsitzenden, die Gewalt ausgesetzt wurden, oder jener, die bereits freigelassen wurden und bereit sind, persönlich darüber zu sprechen, zu bitten. Mehr noch, an dem gleichen Tag waren Mitglieder des Ausschusses nach Russland gekommen, wo „hunderte Verwandte von Verurteilten mit großer Hoffnung auf sie im Verwaltungsgebiet Irkutsk, in Saratow, in all jenen Regionen, wo die größten Folterstätten funktionieren, gewartet hatten“. Jedoch „ist keiner gekommen“. Bei der Erstellung des Besuchsplans hatten die Mitglieder des CPT die harmlosesten Regionen ausgewählt, über die es keine ernsthaften Klagen gegeben hatte. „Im Endergebnis mussten wir lange die Menschen beruhigen, die sich Hoffnungen gemacht hatten“. „Nunmehr ist aber noch ein größerer Umfang an Daten an das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter übergeben worden. Und der Hauptzeuge hinsichtlich des Funktionierens des „Folterfließbandes“ im Gebiets-Tbc-Krankenhaus-1 (von Saratow – „NG“) Sergej Saweljew ist nicht mehr Mitarbeiter dieser schrecklichen Einrichtung. Er ist in Frankreich und bereit, ausführliche Aussagen zwecks Offenlegung des gesamten Umfangs der Situation zu machen. Und man hat kein Recht, diese Umstände jetzt in Strasbourg zu ignorieren. Andernfalls werden sie in keiner Weise besser als Russland an sich aussehen“, ist sich Bryljakowa gewiss.