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Russlands Gerichte markieren wieder (traurige) Rekorde


Das Gerichtsdepartment beim Obersten Gericht der Russischen Föderation hat die Statistik für das erste Halbjahr dieses Jahres vorgelegt. Da sind gleich mehrere Rekorde auszumachen. Verurteilt wurden über 273.000 Menschen, was um einige Zehntausende mehr ist als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Jedoch haben nur 77.000 Menschen eine Haftstrafe erhalten. Ein Viertel der Fälle bekam Freiheitsentzug mit einer Dauer von weniger als einem Jahr. Etwa genauso viele sind für eine Dauer von einem Jahr und bis zu zwei Jahren hinter Gitter geraten. Experten sprechen von einer Humanisierung der Rechtsprechung in Bezug auf Strafrechtsverfahren, wobei sie betonen, dass es auch durch Geschworenengerichte mehr Freisprüche gegeben habe. Dies sei eine neue Leistung. Noch eine aber ist auch die drastische Zunahme der ordnungsrechtlichen Verfolgungen. Die Anzahl der Bestraften aufgrund der mit Meetings verbundenen Paragrafen hat die Jahreswerte der vorangegangenen vier Jahre insgesamt übertroffen!

Insgesamt sind mehr als 50 Prozent – 139.900 Menschen – wegen geringer Straftaten verurteilt worden. Und von ihnen haben nur 21.800 eine Haftstrafe angetreten. Wie das Gerichtsdepartment ermittelte, haben Bürger mit einem kompletten Schulabschluss (95.000) oder mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung (102.700) am meisten Straftaten verübt. Dabei sind etwa 65 Prozent aller Verurteilten Arbeitslose. Und es hat sich auch noch herausgestellt, dass 105.000 Menschen jener, die auf der Anklagebank saßen, vorbestrafte waren. In der Statistik des Gerichtsdepartments wird gleichfalls erwähnt, dass unter den Verurteilten 38.700 Frauen sind, von denen 500 zum Zeitpunkt der Gerichtsprozesse schwanger waren. Die Frauen wurden vor allem wegen Wirtschaftsverbrechen zur Verantwortung gezogen (30 Prozent der Fälle). Oder aufgrund Diebstähle u. ä. Bürger Russlands im Alter von über 50 Jahren verurteilte man in den meisten Fällen wegen Straftaten gegen die öffentliche Sicherheit (25,3 Prozent) und wegen Straftaten gegen die Staatsgewalt (20,4 Prozent).

Seit Jahresbeginn sind in der Russischen Föderation (in der ersten Jahreshälfte) auch 9.000 Ausländer verurteilt worden, vor allem Bürger aus GUS-Ländern oder Staatenlose. Ein Drittel von ihnen bekam eine reale Haftstrafe. Mehr als die Hälfte der Straftaten, die durch Migranten verübt wurden, sind aber der Kategorie „mit geringer Schwere“ zuzuordnen – Fälschung von Dokumenten oder Kleindiebstähle.

Wie der Anwalt Alexej Gawrischjow meint, würden die Daten insgesamt einen Rückgang der Anzahl von Straftaten im Vergleich zum Vorjahr belegen. „Besonders spürbar ist der Rückgang bezüglich solcher Verbrechen wie Mord und Mordversuch, vorsätzliche schwere Körperverletzung, Raubüberfälle und Diebstähle“, konstatierte der Experte. Vor dem Hintergrund der Aufhebung vieler COVID-Restriktionen im ersten Halbjahr sei auch die Zahl der Haushaltskonflikte zurückgegangen. Auf die Frage, warum aber die Anzahl der Verurteilten bis auf 273.000 Menschen im Vergleich zu den 237.000 im Jahr 2020 zugenommen habe, erläuterte Gawrischjow: Viele Urteile seien zu Straftaten des vergangenen Jahres gefällt worden. Schließlich hätten die Gerichte während des Lockdowns die Behandlung eines Teils der Angelegenheiten vertagt. Aber auch vor dem Hintergrund solch einer Zunahme gebe es nach seinen Worten offensichtlich positive Trends. 37.000 Menschen erhielten eine hauptsächliche Bestrafung in Form von Geldstrafen. Weitere 3.000 – in Form einer zusätzlichen. Gleichfalls wurden etwa 22.000 von einer strafrechtlichen Verantwortung befreit, und dies gerade durch Festlegung von Geldstrafen oder Strafen in Form von Zwangsarbeiten. Dies würde nach Meinung von Gawrischjow von einer „Humanisierung der Strafrechtsprozesse“ zeugen.

Derweil ist anhand der Statistik des Gerichtsdepartments gut auszumachen, dass Staats- und kommunalen Angestellten durch die Gerichte noch nachsichtigere Urteile gesprochen wurden (was freilich nur noch stärker die Auffassung in der russischen Bevölkerung bestärkt: Staatsbeamte sind eine Kaste Unberührbare. Und Russlands Gerichte sind keine gerechten. – Anmerkung der Redaktion) Von den 1.200 verurteilten Beamten – vor allem aufgrund des Missbrauchs ihrer Dienststellung, Korruption und Betrugshandlungen – erhielten lediglich 200 (!) Beamte eine Freiheitsstrafe. Für die übrigen wurden nach Auffassung der Richter mildernde Umstände gefunden, in deren Ergebnis die angeklagten Vertreter des Staatsapparates mit Bewährungsstrafen oder anderen Strafen davonkamen. Allerdings haben auch von den 4.600 Unternehmern im ersten Halbjahr dieses Jahres auch nur 900 eine reale Haftstrafe erhalten, weitere 1.300 – eine Bewährungsstrafe. Im gleichen Zeitraum wurden ebenfalls 64 Anwälte, Notare und Wirtschaftsprüfer, 42 Untersuchungsbeamte und Staatsanwälte, sechs Richter und Gerichtsangestellte verurteilt. Und außerdem noch 850 Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane. Die Anwälte und Wirtschaftsprüfer sind aus irgendeinem Grunde meistens wegen Diebstähle verurteilt wurden. Ja und die Staatsanwälte und Untersuchungsbeamten erhielten in der Hälfte der eingeleiteten Verfahren eine Bestrafung wegen Verletzung der Straßenverkehrsregeln.

Wie Maria Spiridonowa, Mitglied der Vereinigung der Juristen Russlands, gegenüber der „NG“ anmerkte, bleibe die Korruption für das heutige Russland nach wie vor ein akutes und generelles Problem. Aber wegen geringer Bestechungstaten beispielsweise, wenn die Summe keine 10.000 Rubel (umgerechnet ca. 122 Euro) übersteigt, hat man von den fast 1000 Angeklagten nur 24 zu einer Haftstrafe verurteilt. Wegen großer Bestechungssummen sind 302 Personen verurteilt worden, wobei die Hälfte von ihnen auch mit einem „blauen Auge“ davongekommen ist, sprich: eine Bewährungs- oder Geldstrafe bzw. Zwangsarbeit erhielt. Insgesamt sind wegen Bestechung 216 Personen verurteilt worden: 46 – zu Gefängnisstrafen, hauptsächlich bis zu 5 Jahren. Und weitere 110 bekamen eine Bewährungsstrafe. Dabei sei, wie Spiridonowa meint, im Land eine Zunahme der Gesamtzahl der Verbrechen wirtschaftlicher Art zu beobachten. Seit Jahresbeginn habe sie im Vergleich zum analogen Zeitraum des Jahres 2020 um beinahe 7.000 Fälle zugenommen.

Zu einem sich verstärkenden Trend wurde auch die Verfolgung von Verstößen des Ordnungsrechts. Insgesamt sind in erster Instanz über 7,5 Millionen Fälle behandelt worden, von denen ca. 319.000 eingestellt und über 645.000 an die Rechtsschützer zwecks Beseitigung von Mängeln zurückgegeben worden. Maria Spiridonowa wies auf die erhebliche Zunahme der Behandlung von Fällen im Zusammenhang mit einer Verletzung der sanitär-epidemiologischen Regeln hin. Nach ihren Aussagen sei einer der Hauptparagrafen des Ordnungsstrafrechts im Jahr 2020 der Paragraf 6.3. „Verletzung der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Gewährleistung des sanitär-epidemiologischen Wohlergehens der Bevölkerung“ gewesen.

Die Hochschullehrerin der Russischen Akademie für Rechtsanwaltschaft und Notariatswesen, Dr. jur. Jelisaweta Selesnjowa, lenkte die Aufmerksamkeit der „NG“ darauf, dass entsprechend den Meetingsparagrafen des Ordnungsstrafrechts die Gerichte seit Jahresbeginn Geldstrafen über beinahe 150 Millionen Rubel festgelegt hätten. Das heißt, dass von den Rechtsbrechern meistens im Durchschnitt 13.000 Rubel (umgerechnet knapp 159 Euro) gefordert wurden. Entsprechend Paragraf 20.2. wurden über 16.600 Fälle behandelt, wobei in Bezug auf 14.000 Schuldsprüche erfolgten. Dies hat bereits deren Gesamtzahl für die vorangegangenen vier Jahre überschritten. Im Zeitraum 2017-2020 hatten die Gerichte der ersten Instanz insgesamt 13.800 Strafen gemäß den Meetingsparagrafen verhängt. In 1.900 Fällen endeten die Angelegenheiten mit Haftstrafen (14 Prozent), was um das 1,5fache den Gesamtwert für die letzten zehn Jahre (!) übersteigt. „Diese Statistik belegt, dass sich während des Wahlkampfs die Haltung der Offiziellen gegenüber der Opposition und den Oppositionsmeetings verhärtet hat. Die Schauprozesse waren in diesem Fall auf eine Unterdrückung der Protestaktivitäten ausgerichtet“, erläuterte die Expertin.

Selesnjowa fand in den Daten des Gerichtsdepartments jedoch auch positive Fakten: „So haben beispielsweise im ersten Halbjahr die Geschworenen eine Rekordzahl von Angeklagten für unschuldig gesprochen – fast ein Drittel“. Und tatsächlich sind 434 Personen für schuldig befunden worden. 196 Menschen hatten die Geschworenen aber für unschuldig erklärt, was wie ein absoluter Rekord aussieht. Im analogen Zeitraum des Vorjahres hatte sich beispielsweise die Meinung der Geschworenen so geteilt: 210 wurden für schuldig gesprochen, 85 – für unschuldig. Und im Jahr 2019 sah die Statistik so aus: 375 Menschen wurden in den ersten Monaten jenes Jahres für schuldig befunden. 107 wurden für unschuldig erklärt. Das heißt: Während es früher um etwa 20 Prozent der Freisprüche ging, so machen sie nunmehr bereits um die 30 Prozent aus. (An der Stelle muss aber auch angemerkt werden, dass die Staatsanwälte sich nicht sofort geschlagen geben und in vielen Fällen in die Berufung gehen, schließlich wollen sie das vermeintliche Ansehen des Staates verteidigen. – Anmerkung der Redaktion)

Die umfangreichen statistischen Angaben sind für eine Express-Analyse keine einfache Substanz. Die Anwältin Aljona Grischkowa aus dem Anwaltskollegium „Pen & Paper“ vermochte jedoch dort nicht wenige interessante Zahlen zu entdecken. Nach ihrer Meinung belege die Statistik des Gerichtsdepartments beim Obersten Gericht Russlands doch eine Zunahme der Zahl der Verurteilten aufgrund einer Reihe von Kategorien an Straftaten. Beispielsweise sei im Vergleich zum Jahr 2020 in diesem Jahr bereits eine spürbare Zunahme von Fällen im Rahmen der Korruptionsparagrafen zu bemerken. Es waren 2490 Menschen und wurden 3342. Die Expertin bestätigte aber, dass eine Bestrafung in Form von Freiheitsentzug gegen Korrupte nicht oft angewandt werde (vor allem, wenn es Beamte des russischen Staates sind – Anmerkung der Redaktion), obgleich es eine geringe Zunahme gebe: Im Jahr 2020 erhielten 367 Personen eine reale Haftstrafe. Im Jahr 2021 – 461. Die Anzahl der bestraften Bestechlichen hat ebenfalls zugenommen. Von 384 bis auf 519. Insgesamt aber würde man jetzt weniger Freisprüche verkünden. Im vergangenen Jahr gab es acht solcher gegen die Angeklagten. In diesem Jahr sind es bisher zwei. Und in erheblichem Maße hat sich auch die Zahl der Verurteilten entsprechend Paragraf 282 des Strafgesetzbuches erhöht. Im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres gab es drei solcher. Im ersten Halbjahr dieses Jahres waren es bereits elf. Zu einer angenehmen Überraschung für Aljona Grischkowa in den statistischen Angaben aus dem Obersten Gericht wurde die signifikante Verringerung der Zahl der wegen Betrugshandlungen im Kreditwesen verurteilten Personen. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 wurden gemäß Paragraf 159.1. des Strafgesetzbuches um 178 Personen weniger als im analogen Zeitraum des Vorjahres verurteilt. Nach ihren Aussagen könne dies von einer Zunahme des Finanzwissens der Bürger als auch deren finanziellen Verantwortung zeugen, und außerdem auch von einem strengeren Vorgehen der Banken bei der Überprüfung der Kreditnehmer. Die erhebliche Zunahme der Zahl der wegen Diebstählen und anderen Betrugshandlungen Verurteilten könne man aber als eine Bestätigung des Trends zur anhaltenden Verringerung der Einkommen der Bürger, das heißt der Verschlechterung ihres Lebensniveaus ansehen.