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Russlands Inflationswelle führt zu weiterer Verarmung


Die Regierungsprognosen für das Jahr 2021 unterscheiden sich frappierend von der Realität. Der Anstieg der Inlandspreise in der Russischen Föderation erwies sich um das 1,5fache höher als der erwartete. Und die Inflation nimmt weiter zu – wobei nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Ländern. Geirrt haben sich die Staatsbeamten auch in den Budget-Projekten. Die Staatskasse erhält erhebliche zusätzliche Einnahmen. Und das Haushaltsplus nimmt nur zu. Zu einer direkten Folge der hohen Inflationsrate werden ein neuer Rückgang der Realeinkommen der Bevölkerung und eine Zunahme der Armut. Zu einer gewohnten Reaktion der russischen Zentralbank auf den Anstieg der internationalen und Inlandspreise wurde die Anhebung des Leitzinses, der zum Jahresende 6 Prozent auf das Jahr hochgerechnet übersteigen kann. Die Experten erwarteten von der Chefin der Zentralbank, von Elvira Nabiullina, eine Anhebung des Leitzinses im Bereich von 5,25 bis 5,75 Prozent und bekamen letztlich die „goldene Mitte“ von 5,5 Prozent.

Der Preisanstieg in Russlandtangiert ein überaus breites Spektrum an Waren, darunter auch die Grundnahrungsmittel. Seit Jahresbeginn verteuerten sich die Kartoffeln in unserem Land um 70 Prozent, Weißkohl – um 60 Prozent, Zwiebeln – um 39 Prozent, Möhren – um 84 Prozent, Hühnerfleisch – um 15 Prozent und Schweinefleisch – um 6 Prozent. Die „NG“ hatte bereits geschrieben, dass die Inflationswelle in Russland nicht nur die Lebensmittel berührt. So sind die Baumaterialien im Land im letzten Jahr um 16,4 Prozent teurer geworden.

Ende vergangenen Jahres unternahm die Regierung den Versuch, den Anstieg der Lebensmittelpreise durch die Festlegung fixierte Preise für Zucker oder Sonnenblumenöl zu zügeln. Im Rahmen dieser Logik müssten die Minister nunmehr die Preise für Möhren, Kartoffeln, Hühner- und Schweinefleisch festlegen. Aber auch noch für ein dutzend anderer Waren und Dienstleistungen. Aber allem nach zu urteilen, plant die Regierung vorerst nicht, neue und neue Preisabkommen zwischen den Erzeugern und Handelsketten abzustimmen. Die Ministerien schicken sich an, die Inlandspreise durch Exportverbote auszubremsen. Und die Zentralbank wird die Inflation durch eine Anhebung des Leitzinses bekämpfen.

„Die Wahrscheinlichkeit einer Anhebung (des Leitzinses) bei der Freitagssitzung der Zentralbank gleich um 75 Basispunkte hat zugenommen“, erklärten die Autoren des Telegram-Kanals MMI, den der Direktor des Zentralbank-Departments für Geld- und Kreditpolitik Kirill Tremassow leitete. Und lagen mit ihrer Prognose etwas daneben. Die Zentralbank hat den Leitzins nur um 50 Basispunkte bis auf 5,5 Prozent angehoben. Experten prognostizieren bereits im Juli das Erreichen einer Jahresinflationsrate von 6,2 bis 6,3 Prozent. „Wenn sich solch eine Vorhersage bestätigt, können wir im Juli einen Leitzins von über 6 Prozent zu sehen bekommen“, sagen sie.

Laut der offiziellen Prognose der Mischustin-Regierung sollten die Realeinkommen der Bevölkerung zum Jahresende um drei Prozent ansteigen. Aber bei der gegenwärtigen hohen Inflationsrate wird solch eine Prognose zu einer absolut irrealen. Genau zu solchen irrealen werden auch die offiziellen Pläne hinsichtlich einer Verringerung der Armut (was man seit den Zeiten von Wladimir Putin als Präsident und der Kremlpartei „Einiges Russland“ als regierende inzwischen als eine Tatsache hingenommen hat – Anmerkung der Redaktion). Schließlich wird bei einer beschleunigten Verteuerung der Lebensmittel die Zahl der Armen größer und nicht geringer.

Theoretisch könnten die Offiziellen die Armut durch zielgerichtete Hilfszahlungen verringern. Schließlich wird der Haushaltsplan entsprechend den Jahresergebnissen wahrscheinlich mit einem großen Plus realisiert werden. Im Zeitraum Januar-Mai 2021 überstieg das Plus des russischen föderalen Haushalts 312 Milliarden Rubel. In den ersten vier Monaten machte es noch rund 205 Milliarden Rubel aus. Anders gesagt: Jeder Monat bringt der russischen Staatskasse immer mehr nichtgeplante Einnahmen. Vor allem weil die Weltpreise für Erdöl um etwa das 1,5fache höher sind als im Haushalt veranschlagt worden war.

„Wie im Fall mit dem Zucker und Sonnenblumenöl: Nach drei bis fünf Monaten Regulierung ist der Staat gezwungen, die Restriktionen aufzuheben. Andernfalls besteht das Risiko eines Verschwindens dieser Waren aus dem Handel, da keiner die Verluste den Erzeugern kompensieren wird“, erläutert das Vorgehen der Regierung Wladimir Tichomirow, Chefökonom der Investmentfirma „BCS Global Markets“. Er zweifelt nicht an, dass eine höhere Inflationsrate zu einer Verringerung der Realeinkommen der Bevölkerung führt, aber auch den Anteil der Menschen mit geringen Einkommen, das heißt der Armen erhöht. „Ein Anstieg der Realeinkommen der Bevölkerung kann auch überhaupt nicht erfolgen“, prognostiziert Tichomirow. Dabei schließt er nicht aus, dass die Offiziellen sich auf zusätzliche Zahlungen einlassen werden, besonders unter Berücksichtigung das Wahlzyklus und des Haushaltsplus. Diese Frage werde in den nächsten ein, zwei Monaten geklärt werden, vermutet der Experte.

„Die Erhöhung der sozialen Beihilfen wird bereits zu einer äußerst notwendigen Maßnahme. Ich hoffe, dass die Regierung diesen Schritt unternehmen wird“, sagt Daniil Petuchow, Lehrer an der Business-Schule „Synergie“.

„Eine Anhebung des Leitzinses bis mehr als 5,5 Prozent ist wenig wahrscheinlich, denn dies nimmt den Jahreswachstum des BIP rund 0,7 Prozent und macht das Erreichen der erklärten Entwicklungsparameter für die russische Wirtschaft im Jahr 2021 unmöglich“, urteilte Anton Grinstein, Experte des Informations- und analytischen Zentrums der Firma „Hamilton“, und lag mit seiner Vorhersage richtig. „Die Zentralbank hat derzeit zwei Optionen: Die erste ist eine Erhöhung des Leitzinses bis auf 5,25 Prozent. Und die zweite ist eine Anhebung bis 5,5 Prozent. Im ersten Fall wird dem Wirtschaftswachstum zum Schaden der Realeinkommen der Bevölkerung der Vorrang gegeben. Im zweiten dagegen wird der Inflationsbekämpfung dem Ansteigen der Realeinkommen zum Schaden des Wirtschaftswachstums der Vorrang eingeräumt. In Abhängigkeit von der Entscheidung der Zentralbank wird klar werden, was man von der Dynamik der Realeinkommen der Bürger Russlands im Jahr 2021 erwarten kann“, meint Grinstein. Nach seinen Worten werde es nicht gelingen, unter Berücksichtigung der höheren Inflationsrate, als im Ministerium für Wirtschaftsentwicklung prognostiziert worden war (6 Prozent anstelle von 4 bis 4,5 Prozent), das für das Jahr 2021 geplante Wachstum der Realeinkommen um drei Prozent zu erreichen.

Am Donnerstag dementierte übrigens das Landwirtschaftsministerium die Möglichkeit von Störungen bzw. Ausfällen bei den Zuckerlieferungen durch die Hersteller, die nicht die zugesagten Subventionen erhalten haben.