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Russlands Justiz erteilte Humanität und Gerechtigkeit neue Ohrfeige


Dass Russlands Justiz schon seit langem zu einer schrecklichen Maschine degradiert ist, die im Grunde genommen nur noch Schuldsprüche kennt, belegt eine jüngst vorgelegte Statistik des Obersten Gerichts. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden wider dem Gerede von einer Humanisierung der Rechtsprechung nur in 0,26 Prozent aller Prozesse Freisprüche verkündet (https://www.ng.ru/politics/2024-11-07/1_9130_stability.html). Diese Tatsache wurde in den ersten zwei Tagen dieser Woche leider erneut bestätigt. Urteile werden im Land offenkundig gesprochen, nicht um die Schuldigen auf den Weg einer Besserung bzw. Reue zu bringen, sondern um abzuschrecken. Und dies mit Strafmaßnahmen, die nach Auffassung vieler Beobachter in keinem Verhältnis zu den angelasteten Straftaten stehen. Vor allem in Zeiten der sogenannten militärischen Sonderoperation, die bald 1000 Tage andauern wird.
In Petersburg entschied am Montag ein Berufungsgericht, dass das Urteil gegen Xenia Karelina vom 15. August dieses Jahres rechtens sei. Die Russin, die auch die US-Staatsbürgerschaft besitzt, wurde zu zwölf Jahren Lagerhaft wegen Hoch- bzw. Landesverrats verurteilt, weil sie am ersten Tag des Ukraine-Krieges (am 24. Februar 2022) umgerechnet 50 Euro als Spende an eine ukrainische Hilfsorganisation überwiesen hatte. Interessant ist dabei die Tatsache, dass die heute 33jährige Balletttänzerin diese Summe aus den USA überwiesen hatte. Anfang des Jahres wurde jedoch ihr Smartphone in Jekaterinburg während eines Familienbesuchs vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB gefilzt, der letztlich so Informationen über die Geldüberweisung gefunden hatte.
Diese Tendenz der extrem harten Bestrafungen erfuhr am Dienstag in Moskau ihre traurige Fortsetzung. Die 68jährige Kinderärztin Nadeschda Bujanowa wurde zu fünfeinhalb Jahren Lagerhaft aufgrund einer angeblichen Kritik an der russischen Sonderoperation in der Ukraine verurteilt. Die Medizinerin war ins Visier der Behörden geraten, nachdem die angebliche Witwe eines in der Ukraine getöteten Militärs sie beschuldigt hatte, Russland während eines privaten Gesprächs als „Aggressoren“ und ihren Ex-Gatten als ein „legitimes Ziel für die Ukraine“ bezeichnet zu haben. Erschreckend dabei ist der Umstand, dass Richterin Olga Fedina und Staatsanwalt Jewgenij Dudin wussten, dass es zwischen der Rentnerin und der „Informantin“ zu diesem Thema überhaupt kein Gespräch gegeben hatte, sondern nur eine Unterhaltung mit deren siebenjährigen Sohn. Und der wurde nicht einmal – selbst unter Ausschluss der Öffentlichkeit – im Verlauf des insgesamt zehn Verhandlungstage umfassenden Prozesses befragt. Überdies gab es nicht einen einzigen konkreten Beweis in Form einer Audioaufnahme hinsichtlich der angelasteten Aussagen.
Staatsanwalt Dudin hatte eigentlich sechs Jahre Freiheitsentzug verlangt, wobei er erklärt hatte, dass die Verbreitung von Militär-„Fakes“ aufgrund von Motiven politischen und nationalen Hasses durch die Ärztin eindeutig nachgewiesen worden sei. Dem Urteil am Dienstag waren erniedrigende Tage und Wochen für Nadeschda Bujanowa vorausgegangen. Zuerst wurde sie aus der Moskauer Kinderpoliklinik Nr. 140 fristlos entlassen. Einen Tag später, am 2. Februar, veranstalteten Vertreter der Untersuchungsbehörden in ihrer Wohnung eine Hausdurchsuchung, bei der nicht nur Möbel zerstört, sondern auch Tapeten und Teppiche von den Wänden gerissen wurden. Überdies zog man ihre russische Staatsbürgerschaft massiv in Frage, da sie 1996 von Lwiw nach Moskau umgezogen war. Ganz zu schweigen davon, dass die 68jährige mehrere Monate in einer der hauptstädtischen U-Haftanstalten zubringen musste (seit April), die dafür bekannt sind, dass die dortigen Zellen stets überbelegt sind.
Der Prozess gegen die Kinderärztin hatte unter Mitarbeitern des russischen Gesundheitswesens Empörung ausgelöst. Unübersehbar war die Sympathie für die Frau. Seit 1985 arbeitete sie als Ärztin, wurde in dieser Zeit nicht ein einziges Mal disziplinarisch zur Verantwortung gezogen. In ihrem Schlusswort beteuerte sie erneut ihre Unschuld und erklärte: „Bei meiner so angespannten und intensiven Arbeit, was kann es da noch für andere Gespräche geben?! Ich arbeitete acht Stunden ohne Mittagessen. Die Chefärztin, im Übrigens eine Abgeordnete, vermochte es nicht, für einen Arzt eine 30-Minuten-Pause zu organisieren. Was ist das für ein Mensch, diese Akinschina (Anastasia Akinschina, die Kronzeugin der Anklage – Anmerkung der Redaktion). Sie lebt mit einem Zorn. Für solche Menschen kann man nur Mitleid haben. Es gibt keine Beweise dafür, dass es irgendein Gespräch gegeben hatte. Hat es eine Audioaufnahme gegeben? Nein. …Warum glaubt man ihr und nicht mir?“.
Das Moskauer Tuschino-Stadtbezirksgericht hat der Humanität und Gerechtigkeit eine schallende Ohrfeige verpasst. „Das Urteil ist ein schrecklich hartes. Wir hatten so etwas nicht erwartet. Dies ist selbst für mich ein unerwartet hartes“, erklärte Bujanowa-Anwalt Oskar Tscherdschijew. Er kündigte überdies an, dass man in die Berufung gehen wird.
Derweil findet die russische Justiz keinen Stillstand im Vorgehen gegen Kritiker des gegenwärtigen Kurses des Staates und gegen Andersdenkende, schaut man sich nur einmal den Kalender der Prozesstermine auf der Internetseite des unabhängigen Menschenrechts- und Medienprojektes www.ovd.info an. Die renommierte Menschenrechtsorganisation „Memorial“ konstatierte, dass seit dem Beginn des Ukraine-Krieges in Russland hunderte Menschen wegen „Hochverrats“ und Sabotage inhaftiert worden sind. Zudem gebe es „tausende Strafverfahren wegen der Verweigerung, an der Front zu dienen“, erklärte der Leiter des Memorial-Hilfsprogramms für politische Gefangene, Sergej Davidis, der Nachrichtenagentur AFP. „Memorial“ selbst zählt derzeit 778 politische Gefangene in Russland. Laut Davidis beinhaltet diese Aufstellung jedoch nicht die Fälle, die im Geheimen verhandelt werden – eine Praxis, die in Russland stark verbreitet ist. Da überrascht es nicht, dass selbst Minderjährige in den Listen ausgewiesen werden. Seit Beginn des Jahres 2024 sollen in das Verzeichnis der „Terroristen und Extremisten“ der Aufsichtsbehörde Rosfinmonitoring 93 Minderjährige aufgenommen worden sein, berichtete im September die „Novaya Gazeta Evropa“.