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Russlands Justizministerium führt im Osten der Ukraine eine juristische Sonderoperation durch


Die faktische Angliederung ukrainischer Territorien an Russland dauert auch ohne Referenda an. So schlagen die neuen (prorussischen) Offiziellen der Verwaltungsgebiete Cherson und Saporoschje den einheimischen Anwälten und Notaren, sich in russische umschulen zu lassen. Wie die „NG“ herausgefunden hat, können sie nach den entsprechenden Lehrgängen ein einfaches Qualifikationsexamen ablegen und die praktische Arbeit fortführen. Damit befasst sich das Justizministerium der Russischen Föderation mit Hilfe führender Anwaltsvereinigungen. Die am 24. Februar begonnene russische Sonderoperation in der Ukraine hat sich somit auf den Bereich der Jurisprudenz ausgedehnt, obgleich diese sich auch in die Rahmen keinerlei Gesetze einfügt. Nach Aussagen von Experten gebe es dafür aber die Krim-Erfahrungen, als man begonnen hatte, Spezialisten auf das andere Rechtssystem noch vor der offiziellen Rückkehr der Halbinsel in den Bestand Russlands auszubilden. Auf der Krim hatte ab doch eine formelle Abstimmung für eine Integration stattgefunden.

„Eine kostenlose Schulung in der Russischen Föderation zu absolvieren“ ruft man beispielsweise in Melitopol auf, der zeitweiligen Hauptstadt des Verwaltungsgebietes Saporoschje, das Russland noch nicht vollkommen unter seine Kontrolle gebracht hat. Die Verwaltung der Stadt verweist in ihrem Telegram-Kanal darauf, dass dies „zwecks einer schnelleren Integration in das Rechtsfeld der Russischen Föderation“ getan werde. Die von Moskau kontrollierte Militär- und Zivilverwaltung betont gleichfalls, dass die Schulung der Anwälte und Notare des Verwaltungsgebietes „bei den besten Fachleuten der Russischen Föderation“ erfolgen werde. Folglich werden sie nach Ablegen einer Qualifikationsprüfung „das Recht haben, ihre Tätigkeit auf dem Territorium des Verwaltungsgebietes Saporoschje vorzunehmen“. (Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Ausbildung keine vollwertige sein wird, da nach den Prüfungen nur im bisherigen Verwaltungsgebiet und nicht in der gesamten Russischen Föderation gearbeitet werden kann. – Anmerkung der Redaktion)

Analoge Angebote und Mitteilungen kann man auch im Telegram-Kanal der Verwaltung des von Russland kontrollierten Gebietes Cherson sehen. Beispielsweise ist in den letzten von ihnen über die Entscheidung informiert worden, die Annahme von Anträgen bis zum 1. September zu verlängern. „Fortgesetzt wird die Integration von Vertretern des Anwalts- und Notariatsbereich des Verwaltungsgebietes Cherson in das Rechtsfeld Russlands“, betonen die neuen Offiziellen. Dabei wird in der Bekanntmachung nicht präzisiert, wer diese Schulung vornehmen wird. Und erneut sind die sattsam bekannten besten Spezialisten der Russischen Föderation erwähnt worden. Die „NG“ hat jedoch ermittelt, dass die in allen Bekanntmachungen ausgewiesene Telefonnummer für eine Anmeldung zur Umschulung einem der Spezialisten der Föderalen Anwaltskammer (FAK) der Russischen Föderation gehört.

In der FAK hat man der „NG“ jedoch diese Information weder bestätigt noch dementiert. Und man teilte buchstäblich Folgendes mit: Die Schulungswebinare der FAK würden in der Regel Anwälte und Juristen aus mindestens zwei Dutzend Ländern – von Chile und bis nach Kasachstan — verfolgen. Der Anteil der ausländischen Teilnehmer der Webinare sei stets ein spürbarer. Dies seien mehrere Dutzend Personen, was vom hohen Niveau sowohl der Lektoren als auch der Organisation zeuge. „Das Interesse für eine Anwaltsausbildung und die russische Anwaltschaft kann man nur begrüßen“, unterstrich man in der FAK.

Derweil sei, wie der „NG“ jene Gesprächspartner mitteilten, die über bedeutsame Ereignisse in der Anwaltscommunity auf dem Laufenden sind, dieses Thema noch am Rande des Internationalen Petersburger Rechtsforums diskutiert worden, das Ende Juni/Anfang Juli dieses Jahres stattfand. Damals hatten Vertreter des Justizministeriums von der Absicht gesprochen, sich mit einer Umschulung von Anwälten aus den sogenannten befreiten ukrainischen Gebieten, unter anderem auch aus den Donbass-Republiken DVR und LVR, zu befassen. Es sei daran erinnert, dass einer der Frontmänner und Redner dieses Forums der russische Justizminister Konstantin Tschuitschenko gewesen war. Daher wird sich laut Angaben der „NG“ natürlich sein Ministerium mit der Umschulung befassen. Es kann aber in keiner Weise entsprechende Lehrgänge ohne die Hilfe von Jura-Hochschulen, führenden Anwaltsvereinigungen und Notariatskammern anschieben.

Einerseits muss man für den Erhalt des Status eines russischen Anwalts nicht unbedingt die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation besitzen. Jeglicher Ausländer mit einem Hochschuldiplom, das auf dem Territorium unseres Landes anerkannt wird, kann zu einer Qualifikationsprüfung zugelassen werden. Andererseits geht es hier jedoch um einen massenhaften Transfer von Juristen aus den bisher noch de jure ukrainischen Regionen in das russische Rechtssystem. Es ist klar, dass dies Teil des Plans zu deren faktischen Anbindung an die Russische Föderation ist, ohne Referenda abzuwarten, deren Termine – und umso mehr deren Verlauf und Ergebnisse – schwer voraussagbar bleiben. Somit erstreckt sich die Sonderoperation, die bereits in den siebenten Monat gekommen ist, auch auf solch einen besonderen Bereich, in dem es ganz und gar nicht einfach sein wird, außerhalb von irgendwelchen gesetzlichen Rahmen zu agieren. Dennoch aber hat das Justizministerium beschlossen, sich gerade auch damit zu befassen. Allem nach zu urteilen, ist Tschuitschenko der Annahme, dass, da für die Militärs und politischen Administratoren ein Befehl von oben ausreicht, dies auch für die Anwälte und Notare genug sein werde.

Nach Aussagen der Juristen, mit denen die „NG“ gesprochen hat, sei offensichtlich, dass die erörterte Angliederung von ukrainischen Territorien „die Notwendigkeit einer Integrierung und Unifizierung deren Rechtssysteme in das russische nach sich ziehen wird“. Dies müsse man durch schnelle Handlungen erreichen (um Fakten auch für das offizielle Kiew zu schaffen – Anmerkung der Redaktion). Und zu solchen gehören eine erneute Prüfung und Qualifikationsexamen. Die Richter, Staatsanwälte und Anwälte aus den neuen Regionen, die sich in den Dienst der russischen Seite stellen, sind hinsichtlich dessen zu überprüfen, ob sie die entsprechende Qualifikation besitzen – die Kenntnis der Gesetzgebung der Russischen Föderation, der Grundlagen der Ethik (der richterlichen, staatsanwaltliche und Anwaltsethik), der grundlegenden Vorgehensweisen, die durch die Gerichtspraxis in den verschiedenen Bereichen des russischen Rechts ausgearbeitet worden sind. „In solch einem Fall wird der Kompetenzgrad der neurussischen Spezialisten mit dem gesamtrussischen harmonisiert. Um sie aber zu überprüfen bzw. testen, sind Hochschullehrer aus den entsprechenden Bereichen erforderlich, die imstande sind, das notwendige Ausbildungsniveau zu sichern. Die Sache ist die, dass sich die Gesetzgebungen beider Länder bis zum Jahr 2014 nicht stark unterschieden hatte. Danach aber begann ein erhebliches Auseinanderdriften“. Obgleich, wie einer der „NG“-Gesprächspartner anmerkte, die dortigen Militär- und Zivilverwaltungen bereits Erlasse und Beschlüsse herausgeben würden, die in Vielem Bestimmungen der Gesetze der Russischen Föderation kopieren würden.

Wie Maria Spiridonowa, Mitglied der Vereinigung der Juristen Russlands, der „NG“ erklärte, würden die Ukraine und Russland eine ähnliche Gesetzgebung besitzen, da beide zum romanisch-germanischen System gehören würden, für das die Hauptquelle des Rechts ein normativer Rechtsakt sei. Folglich müsste nach ihrer Meinung die Umschulung der Anwälte und Notare ohne besondere Komplikationen erfolgen. „Probleme können nur hinsichtlich des Verstehens der Besonderheiten der Anwendung der russischen Gesetzgebung oder – beispielsweise — des Aufbaus und der Modalitäten für die Arbeit der Gerichte auftreten, die sich unterscheiden können, obgleich ihre Aufgaben und Ziele natürlich identisch sind“.

Der Anwalt Andrej Rassomakin von der Krim absolvierte eine Umschuldung, als die Halbinsel gerade in den Bestand Russlands aufgenommen wurde, aber als Mitarbeiter des Apparates eines Schiedsgerichts. Er berichtete der „NG“, wie dies gewesen war: „Man organisierte eine interne Arbeit zur Weiterbildung, zum Studium des Prozess- und materiellen Rechts durch Vorlesungen und wissenschaftliche Arbeiten durch die Mitarbeiter an sich. Einmal in der Woche erfolgte zu einer festgelegten Zeit die Schulung von Richtern, Assistenten oder Sekretären“. In der Anfangsetappe hingen die hauptsächlichen Schwierigkeiten mit dem Nichtverstehen dessen zusammen, was für Normen bei der Lösung des einen oder anderen Streitfalls anzuwenden sind – die ukrainischen oder russischen, wenn die Rechtsbeziehungen vor dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation entstanden sind. „Derartige Unklarheiten wurden anfangs auf inoffizieller Ebene durch Konsultationen mit der Leitung des Obersten Gerichts und einzelnen Abgeordneten der Staatsduma geklärt, im Weiteren aber – sowohl durch konkrete föderale Gesetze oder aber durch Erläuterungen und Beschlüsse des Plenums des Obersten Gerichts der Russischen Föderation“, unterstrich Rassomakin.

Letzten Endes hat sich im Rahmen der zivilen Rechtsprechung eine folgende Gerichtspraxis herausgebildet: „Einer Anwendung unterliegen die Normen des materiellen Rechts der Ukraine nur in dem Teil, der nicht den Normen des Gesetzes der Russischen Föderation widerspricht (mit Ausnahme des Erbrechts)“. Hinsichtlich von Strafrechtsfällen hatte aber der Artikel 10 des Strafgesetzbuches („Die rückwirkende Kraft des Strafrechts“) eine wesentliche Rolle gespielt. Die Fälle, in deren Hinsicht eine Vor- oder gerichtliche Untersuchung erfolgte und die bis zum Beitritt zu Russland eingeleitet worden waren, unterlagen nur nach einer Neubewertung des Tatbestands entsprechend dem StGB der RF einer weiteren Behandlung. Wenn dort aber keine identische Straftat vorgesehen worden war, so wurde die jeweilige Person von einer strafrechtlichen Haftung befreit.

Derweil gibt es nach Schätzungen von Rassomakin im Verwaltungsgebiet Cherson etwa 650 Anwälte, im Verwaltungsgebiet Saporoschje seien es mehr, rund 2000. Viele seien aber bereits weggegangen. Und daher könnten nach seiner Prognose etwa 50 Prozent der Anwälte von Cherson und ca. ein Drittel der Verteidiger in Saporoschje eine Umschulung durchlaufen. Dabei unterstrich er, dass alle eine Prüfung ablegen würden, die kommen, wie dies auch auf der Krim gewesen war. Die Richter werden keine Tests durchlaufen müssen, da sie zu speziell angereisten Prüfungskommissionen aus der Russischen Föderation kommen werden, bei denen jene amtierende Richter als Kandidaten geprüft werden, die diesen Wunsch bekunden. Hinsichtlich eines jeden wird es eine Überprüfung geben. Und danach die Entscheidung der jeweiligen Kommission – ja oder nein. Und wahrscheinlich werden alle ihre Tätigkeit fortsetzen, betonte der Anwalt von der Krim. „Dies wird augenscheinlich auch im Gesetz über den Beitritt der einen oder anderen Region zur Russischen Föderation vorgesehen werden, wie dies seinerzeit mit dem föderalen Verfassungsgesetz Nr. 6 zur Krim gewesen war“.