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Russlands Justizministerium soll den „Plan GULAG“ fallen lassen


Die Gemeinschaft der Menschenrechtler führt eine Kampagne gegen den Gesetzentwurf des russischen Justizministeriums über die Erweiterung der Liste von Gründen für die Verhängung eines „Regimes besonderer Bedingungen“ in den Straflagern. Die maximale Aufgabe ist, das Ministerium von Konstantin Tschuitschenko davon zu überzeugen, diese Initiative zurückzuziehen. Experten verweisen darauf, dass sie sowohl den Empfehlungen der internationalen Organe für den Schutz der Menschenrechte als auch der eigentlichen Verfassung der Russischen Föderation widerspreche. Es ergibt sich, dass das Justizministerium den jüngsten und nach wie vor andauernden Folter-Skandal ignoriert und den Gefängnisbeamten erlaubt, faktisch aus jedem beliebigen Grund die Häftlinge zusätzlich entsprechend dem „Plan GULAG“ zu isolieren.

Vom Justizministerium fordert man, seine Gesetzesvorlage zurückzuziehen, die „die Rechte der Häftlinge in den Strafvollzugsanstalten übermäßig einschränkt“. In den negativen Reaktionen der Menschenrechtler wird darauf verwiesen, dass die vorgeschlagene Korrektur des Artikels 85 des Strafvollzugskodexes „breiten Spielraum für Willkür im Rahmen der Rechtsanwendung einräumt, bei der die Pandemie lediglich ein zusätzlicher Anlass für eine Einschränkung der Rechte der Häftlinge sein wird“.

Die angestrebten Änderungen des Justizministeriums vergleicht man gleichfalls mit dem bekannten Plan „Festung“, der die Polizeireviere vor dritten Personen aufgrund angeblicher Gefahren eines Überfalls, tatsächlich aber vor Anwälten und Anhängern der festgenommenen Personen schließt. Gemäß einer Analogie befürchten die Menschenrechtler, dass man jetzt unter formellen Vorwänden den Festgenommen auch jeglichen Kontakt mit Anwälten oder Verwandten zu verbieten beginnen werde. Dies aber „wird Bedingungen für Missbräuche, Foltern und einen die menschliche Würde erniedrigenden Umgang schaffen“.

Da die Häftlinge eine Gruppe von Menschen darstellen, die in den Rechten beschnitten worden sind, müssen zusätzliche Restriktionen für sie auf der Grundlage des Gesetzes erfolgen, das durch dieses Gesetz festgelegte Ziel verfolgen und ihm proportionale seine. Dies erklärt beispielsweise im Kontext mit der Coronavirus-Infektion das Europäische Komitee gegen Foltern und der UNO-Unterausschuss zur Verhinderung von Foltern in einer Zusammenfassung von Prinzipien für den Umgang mit den Personen, die sich in Haft befinden.

Im Erläuterungsschreiben zum Entwurf des Justizministeriums ist jedoch von den Zielen, noch von den Gründen der angestrebten Änderungen keine Rede, worauf beispielsweise die Experten der Organisation „Bürgerkontrolle“ (die in der Russischen Föderation als eine NGO gelabelt wurde, die angeblich die Funktionen eines ausländischen Agenten erfüllt) hingewiesen haben. Der Gesetzentwurf, der ein breites Spektrum der Rechte der Häftlinge im Zusammenhang mit Quarantänemaßnahmen einschränkt, „schlägt keinerlei kompensierende Möglichkeiten vor“. Mehr noch, gerade der Akzent auf die Situation mit dem Coronavirus macht die Regimes für eine Beschneidung der Rechte der Strafgefangenen de facto zu unbefristeten.

Der Gesetzentwurf weicht von den internationalen Standards und Empfehlungen ab, was durchaus offensichtlich ist, betätigte der „NG“ Anton Ryschow, Experte für die Arbeit mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Während aber die Umsetzung auswärtiger Empfehlungen vom Prinzip her schon lange out sei, so seien weitaus seriöser die potenziellen Verletzungen konkreter internationaler Verpflichtungen, die Russland übernommen hat. Nach seinen Worten könne beispielsweise „die Einführung neuer Beschränkungen für die Rechte der Strafgefangen, und dabei unbefristeter und nicht ausgewählter, einen zusätzlichen Strom von Klagen und Beschwerden an den EGMR auslösen“. Ryschow erläuterte: „Ein Abweichen von den Pflichten, die in der Europäischen (Menschenrechts-) Konvention verankert worden sind, kann nur im Falle eines Krieges oder unter anderen Umständen, die das „Leben der Nation“ bedrohen, zugelassen werden. Wie aber aus der Gesetzesvorlage zu sehen ist, gibt es weitaus mehr Fälle oder Regimes, bei denen vorgeschlagen wird, die Rechte der Strafgefangenen einzuschränken – jegliche Quarantäne, ein Terrorakt oder Unruhen der Strafgefangenen an sich sanktionieren vom Wesen her Isolierungsmaßnahmen. Daher wird der Vorbehalt des Artikels 15 der Konvention hier nicht angewandt, so dass es für die Offiziellen wohl kaum lohnt, auf ihn zu hoffen“.

Ein zweiter Aspekt ist die Behandlung individueller Fälle. Hinsichtlich eines jeden Falls wird der EGMR bei der Annahme von Klagen aufgrund einer Isolierung deren Zweckmäßigkeit und Angemessenheit bewerten. „Sagen wir einmal: Man hat keine Vertreter der Gesellschaftlichen Beobachterkommission oder einen Anwalt nicht zu einem Häftling gelassen, wobei man dies „mit besonderen Bedingungen“ im Verwaltungsgebiet motiviert. Man hat die Begegnungen mit Verwandten versagt oder Einschränkungen für den Erhalt von Briefen verhängt. Die Strasburger Richter müssen sich darüber Klarheit verschaffen, ob es einen drängenden Bedarf an solchen Maßnahmen gegeben hatte und wozu dies für den Menschen führte. Im Falle des Feststellens einer Unangemessenheit oder nicht bestehenden Zweckmäßigkeit konstatiert der EGMR eine Verletzung entweder des Rechts auf Verteidigung (Artikel 6 der Konvention) oder des Rechts auf Achtung des Familienlebens oder des Rechts auf die Achtung des Briefwechsels (dies alles ist der Artikel 8)“. Und wenn der EGMR der Auffassung ist, dass im Gesetz an sich Mängel sind, zum Beispiel, dass es da keine prozessualen Garantien für eine Anfechtung der auferlegten Restriktionen vor Gerichten gibt oder dass die Formulierungen zu zweideutige sind, so ist vom Prinzip her die Variante nicht ausgeschlossen, dass solch ein Gesetz als ein der Konvention widersprechendes anerkannt wird. Und obgleich Russland es wohl kaum aufheben wird, kann der EGMR derartige Fälle als sich wiederholende anerkennen. Das heißt: In Strasburg wird man beginnen, Entscheidungen in einem vereinfachten Verfahren zu treffen, indem buchstäblich dutzende Klagen zu einem Fall zusammengefasst werden.

Nach Meinung von Menschenrechtlern widersprechen die vorgeschlagenen Änderungen des Justizministeriums den internationalen Standards, die die „Wichtigkeit und Notwendigkeit der Fortsetzung eines Besuchs von Strafvollzugseinrichtungen selbst unter den Bedingungen einer Pandemie“ unterstreichen. Und sich diametral von der Praxis anderer Staaten unterscheidet. Beispielsweise gibt es die Gewährleistung eines Zugangs der Strafgefangenen zu Videokontakten per Internet oder zumindest eine Verlängerung der Zeit für Telefonate. Aber gar wichtiger sei, meinen die Menschenrechtler, dass die Änderungen nicht den Verfassungsgrundlagen der Russischen Föderation entsprechen würden. Wie der „NG“ das Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen Nikolaj Swanidse sagte, sei die finale Absicht dieser Projekte eine weitere Beeinträchtigung der menschlichen Würde. Und gerade dies sei im Artikel 21 der Verfassung verboten worden. „Es ist eine erstaunliche Sache. Es kommen Informationen über Foltern – über schreckliche, die uns in die Zeiten der Gestapo und des NKWD zurückbringen. Das heißt: Auch wenn man etwas im Besserungs-, tatsächlich aber im Strafsystem verändert, so müsste dies in Richtung dessen Humanisierung erfolgen. Oder es müsste zumindest eine Demonstration dessen Humanisierung erfolgen. Aber nein, alle Änderungen laufen stur auf eine Einschränkung der Rechte der Strafgefangenen und eine Beeinträchtigung ihrer Menschenwürde hinaus. Dies aber ist augenscheinlich für wenige interessant“.

Und in der Tat, erläuterte der „NG“ der Gründer des Menschenrechtsprojekts „Gulagu.net“, Wladimir Osetschkin, arbeite das Justizministerium seine Gesetzesänderungen zusammen mit dem Föderalen Dienst für den Strafvollzug auch „im Interesse der Vertreter der Rechtsschutzorgane“ bereits rund zwei Jahre aus. „Man hatte geplant, sie zu Beginn der Herbsttagungsserie in die Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) einzubringen, aber nach dem Skandal mit den Foltern in Saratow hat man sie für mehrere Wochen zurückgehalten, um die Stimmung der Öffentlichkeit zu sondieren“. Wie Osetschkin meint, „haben die Staatsbeamten weder massenhafte Protestaktionen noch ernsthafte Empörung diesbezüglich ausgemacht. Außerdem erliegen viele Bürger Russlands der Propaganda und billigen sogar die Anwendung von Foltern gegenüber Strafgefangenen“. Folglich könne man sagen, ist er sich gewiss, dass „die Offiziellen einfach ihre wahre Haltung zu dem Vorgefallenen demonstrierten und den weiteren Kurs zeigten: Wir haben Druck ausgeübt, üben ihn aus und werden ihn weiter ausüben“. Osetschkin nimmt an, dass der Prozess des Anziehens der Daumenschrauben bereits ein unumkehrbarer sei. Seine Einstellung könne nur in Gestalt einer vollkommenden Abschaffung der repressiven Gesetzgebung geschehen, was wiederum lediglich nach einem Wechsel des Regimes auf die eine oder andere Weise geschehen könne.

Dabei teilte Osetschkin der „NG“ mit, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt die internationale Gemeinschaft erst beginne, das Wesen des Geschehens in den russischen Gefängnissen zu begreifen, da die westlichen Menschenrechtler früher all ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich den politischen Gefangenen gewidmet hätten. Jetzt aber gehe es nicht um einzelne verstreute Verbrechen und Verfolgungen, sondern um ein ganzes Foltersystem praktisch im gesamten Land. Und große internationale Ereignisse würden bevorstehen, erklärte Osetschkin: „Über die UNO wird es unbedingt eine Überprüfung geben. Das, was wir veröffentlicht haben, ist ein kleiner Teil, bis zu zwei Prozent dessen, über das wir verfügen. Leider kann nicht darauf gehofft werden, dass der Kreml zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Vernunft kommt und etwas verändern wird. Wir sind zu der Schlussfolgerung gelangt, dass man dort bereits weder die Schitnaja (Moskauer Straße, in der sich der Sitz des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug befindet – Anmerkung der Redaktion) noch die Lubjanka (Platz in Moskau, an dem sich das Hauptquartier des Inlandsgeheimdienstes FSB befindet – Anmerkung der Redaktion) kontrolliert. Daher werden wir auf internationaler Ebene eine Untersuchung der Tätigkeit der hochrangigen Beamter aus den Geheimdiensten, die die „Foltern im Fließbandverfahren“ betreuten und verteidigten, zu erreichen suchen.

Wie Ilja Schablinskij, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe, annimmt, seien die Neuerungen des Justizministeriums die „erste fieberhafte Reaktion unseres Gesetzgebers auf die veröffentlichten Videoaufnahmen mit Foltern“. Er besteht darauf, dass gemäß Artikel 56 der Verfassung die Behörden unter außerordentlichen Bedingungen einzelne Beschränkungen mit Angaben der Grenzen und Dauer ihrer Geltung festlegen könnten. Es würden jedoch dennoch eine Reihe von Rechten und Freiheiten bleiben, die man nicht einschränken könne, „unter keinerlei Umständen“. „Nicht eingeschränkt werden können die Rechte und Freiheiten, die durch die Artikel 20, 21, 23 (Teil 1), 24, 28, 34 (Teil 1), 40 (Teil 1) sowie 46 bis 54 der Verfassung der Russischen Föderation vorgesehen worden sind“, erinnerte Schablinskij. Und es gehe insbesondere darum, dass keiner Foltern und anderen Handlungen, die die menschliche Würde beeinträchtigen, angewandt werden dürfen. Die Festgenommenen und Angeklagten haben das unbedingte Recht auf die Hilfe durch einen Verteidiger. „Der Anwalt muss darüber informiert sein, dass man seinen Mandaten Folterungen ausgesetzt hat. Diese Informationen können nicht a priori zu einem Staatsgeheimnis erklärt werden“, betont der Experte. Nach seiner Meinung müsse man, wenn es unmöglich sei, diesen (Gesetz-) Entwurf zurückzuziehen, ihn zumindest wesentlich korrigieren.

„Wichtig ist, die vernünftigen Maßnahmen von jenen zu trennen, die von Vornherein faktisch zweifache Standards vorsehen“, unterstrich der Vorsitzende der Bewegung „Bürgerkontrolle“, Georgij Fjodorow. Er beharrt darauf, dass man die Bestimmungen über eine Einschränkung des Zugangs von Anwälten und Vertretern der Gesellschaftlichen Beobachterkommissionen in die entsprechenden Einrichtungen revidieren müsse. „Besonders aktuell ist dies jetzt geworden, nachdem die Praxis des Regimes einer erhöhten Bereitschaft große Verbreitung gefunden hat“, sagte er der „NG“. Es sei klar, dass es Situationen gebe, die bestimmte einschränkende Maßnahmen verlangen würden. Wer und was hindere aber die Mitglieder der Gesellschaftlichen Beobachterkommissionen oder die Anwälte daran, die Strafvollzugseinrichtungen beispielsweise in Schutzanzügen aufzusuchen? „Wenn man sich aber in konkreten Räumlichkeiten überhaupt nicht befinden kann, wie kann man da diejenigen belassen, die eine Strafe verbüßen oder gegen die eine Untersuchung erfolgt“, merkte Fjodorow an.

Die Anwältin Olga Rogatschewa aus dem Anwaltskollegium „Borodin und Partner“ erinnerte die „NG“ daran, dass die Wichtigkeit der Gewährleistung der Rechte der in Haft genommenen und zu Freiheitsstrafen verurteilten Personen „darin besteht, dass sie bereits die negativen Konsequenzen der durch sie verübten Straftaten verspüren“. Und die Aufgabe des Staates sei es, die negativen Folgen ihres Aufenthaltes in einer Isolation von der Gesellschaft zu minimieren. Derzeit sei, wie sie berechnete, die Zahl der beim EGMR eingereichten Klagen ohnehin eine recht große. „Im Jahr 2020 sind in Bezug auf Russland durch den EGMR 185 Entscheidungen getroffen worden. Davon wurde in 173 zumindest ein Verstoß gegen die Konvention anerkannt, darunter Foltern – in 13 und ein brutaler Umgang – in 41. Wahrscheinlich wird mit der Verabschiedung der neuen Normen die Anzahl der Klagen zunehmen. Und alle Entscheidungen werden ganz und gar nicht zugunsten Russlands ausfallen“.