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Russlands Kirche geht zum Kriegszustand über


Der Synod der Russischen orthodoxen Kirche hat bei einer Tagung am Dienstag Schluss mit der zweideutigen Lage der Kirche vor dem Hintergrund der militärischen Sonderoperation in der Ukraine gemacht. Das Moskauer Patriarchat, welches nicht mehr durch Pflichten gegenüber seinen ukrainischen Gläubigen gebunden ist, bringt die eigene Konfiguration mit den Grenzen des Einflusses des russischen Staates in Übereinstimmung. Die Mitglieder des Synods verabschiedeten revolutionäre Entscheidungen: Sie setzten den Vorsitzenden der Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen, Metropolit Hilarion (Alfejew), ab,d er in der Russischen orthodoxen Kirche für den „Pazifismus“ zuständig war, und verstärkten dabei die geistlich-patriotische Komponente der Kirchenpolitik.

Die Tagung des Synods erfolgt in einem Blitz-Regime und ging mit frappierenden Entscheidungen zu Ende. Vor allem wurde Metropolit Hilarion all seiner hauptsächlichen Ämter enthoben. Außer der Tätigkeit als wichtigster Kirchendiplomat war Alfejew für die Theologie verantwortlich. Nunmehr wird er sich auf den Posten des Metropoliten von Budapest und Ungarn zurückziehen (müssen).

Schlüsselämter im Moskauer Patriarchat bekleidete Hilarion praktisch seit eben jener Zeit, als Patriarch Kirill auf den Thron gekommen war. Bis dahin hatte Alfejew die Eparchie (Diözese) von Wien und Österreich geleitet, zu der damals noch Ungarn gehört hatte. Nunmehr hat er scheinbar lediglich ein Bruchstück selbst jenes Einflusses erhalten, über den er bis zum Jahr 2009 verfügt hatte. In den Journalen (Protokollen – Anmerkung der Redaktion) des Synods bekundete man ihm keinen Dank „für die geleisteten Arbeiten“. Es gibt solch eine traditionelle Redefigur in der Kirchenbürokratie. Und schließlich galt er lange Zeit als wahrscheinlichster Nachfolger von Patriarch Kirill.

Es macht Sinn, daran zu erinnern, dass kurze Zeit vor Beginn der militärischen Sonderoperation der Russischen Föderation in der Ukraine Hilarion gesagt hatte: „Ich persönlich fürchte einen Krieg. Ich bin der Auffassung, dass wir alles dafür tun müssen, damit es keinen Krieg gibt – weder einen großen noch einen kleinen, weder einen Weltkrieg noch einen lokalen Krieg. Es gibt sehr viele Kräfte, die uns in irgendeinen Krieg hineinziehen wollen. Wobei es sie nicht nur außerhalb unseres Landes gibt, sondern auch in dessen Innern. Es gibt jene, die mit den Säbeln rasseln wollen, die sagen: Wir sind ja unbesiegbar, unbezwingbar. Wir werden jedem Feind eine Abfuhr erteilen“. Im März begann er überraschenderweise, Grigorij Rasputin zu rechtfertigen. „Rasputin war ein leidenschaftlicher Gegner eines Kriegsbeitritts von Russland. Und er hatte den Zaren davor gewarnt, dass, wenn Russland in den Krieg eintreten werde, dies für das ganze Land katastrophale Folgen haben würde. Der Zar hatte ihm kein Gehör geschenkt. Russland trat in den Krieg ein. Russland hatte alle Chancen gehabt, mit militärischen Mitteln zu siegen. Aber im Verlauf der Geschichte kamen andere Faktoren zur Wirkung. Und im Endergebnis verloren wir nicht nur einen Teil der russischen Gebiete, sondern verloren Russlands als solches“, hatte der Metropolit erklärt.

Die „Entfernung“ von Hilarion nach Ungarn bedeutet jedoch ganz und gar nicht unbedingt eine Ungnade des Patriarchen oder der politischen Offiziellen. Am Vorabend des Synods weilte Alfejew in Budapest. Es sei angemerkt, dass jüngst gerade die Offiziellen Ungarns der Europäischen Union nicht erlaubt hatten, Restriktionen gegen Patriarch Kirill im Rahmen des sechsten EU-Sanktionspakets zu verkünden. Es ist möglich, dass genauso wie Ungarn die Rolle eines latenten Verbündeten Russlands in der EU spielt, so auch Hilarion ein „Mann der Patriarchie“ in den Tiefen des „russophoben“ Europas bleibt. Und dafür wird der Metropolit möglichen Schlägen der Brüsseler Bürokratie entzogen.

Indem sich der einst mächtige „Außenminister der Moskauer Patriarchie“ nach Budapest begeben wird, hat er nicht einmal das Amt des Leiters des Patriarchen-Exarchat von Westeuropa erhalten. Diesen Posten beließ man dem Metropoliten Antonij (Sewrjuk), der jetzt die Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen leiten wird. Sewrjuk hat auch den Platz von Alfejew unter den ständigen Mitgliedern des Synods eingenommen. Antonij war im Jahr 2009 zum persönlichen Sekretär des Patriarchen wenige Tage nach der Inthronisierung von Kirill geworden. Danach machte der Geistliche, der heute 37 Jahre alt ist, eine schwindelerregende und rasante Karriere, wobei er im Verlauf einer kurzen Zeit mehrere europäische Diözesen der Russischen orthodoxen Kirche leitete.

Der Verzicht auf eine sanfte Kirchengewalt hat sich auch in anderen Entscheidungen des Synods vom 7. Juni niedergeschlagen. Die Russische orthodoxe Kirche reagierte eigenartig auf die jüngste Unabhängigkeitserklärung der Ukrainischen orthodoxen Kirche – vor allem durch die Stimmen jener Teilnehmer des Konzils der Ukrainischen orthodoxen Kirche vom 27. Mai, die sich auf dem von den Kiewer Offiziellen kontrollierten Landesterritorium befinden. Lange Zeit hatte das Moskauer Patriarchat, beginnend ab dem sogenannten russischen Frühling von 2014, eine demonstrative Unabhängigkeit von der politischen Konjunktur gewahrt und die drei Eparchien der Krim unter der Jurisdiktion der Ukrainischen orthodoxen Kirche belassen.

Jetzt jedoch, nachdem die Kirchenorganisation des Kiewer Metropoliten Onufrij (Beresowskij) mit Moskau gebrochen hatte, hat sich die Möglichkeit ergeben, das Visier anzuheben. „Als Antwort auf die Bitten der hochheiligen Metropoliten von Feodossija und Kertsch Platon und von Simferopol und der Krim Lazar sowie des Bischofs von Dschankoj und Rasdolnoje Alexij, ausgehend von der Notwendigkeit der Bewahrung funktionierender kanonischer und administrativer Verbindungen mit der zentralen Kirchenführung für einen wohlbehaltenen Verlauf des kirchlichen Lebens in den von den Eparchien, die von den erwähnten Hochheiligen seelsorgerisch betreut werden, und unter Berücksichtigung der praktischen Unmöglichkeit regelmäßiger Kontakte dieser Eparchien mit der Kiewer Metropolie sind die Eparchien von Dschankoj, Simferopol und Feodossija unmittelbar dem Patriarchen von Moskau und Ganz Russland sowie dem Heiligen Synod der Russischen orthodoxen Kirche kanonisch und administrativ zu unterstellen“, heißt es in den Kirchen-Journalen. „Zu bilden ist auf dem Territorium der Republik Krim und der Stadt Sewastopol die Krim-Metropolie im Bestand der Eparchien von Dschankoj, Simferopol und Feodossija“. Wahrscheinlich wird in der nahen Zukunft Derartiges mit den Eparchien von Cherson, Saporoschje, Donezk und Lugansk geschehen – mit einem zeitlichen Abstand nach den entsprechenden politischen Entscheidungen über einen Beitritt dieser Territorien zur Russischen Föderation. Das Konzil der Ukrainischen orthodoxen Kirche hatte den Eparchien die Möglichkeit einer derartigen Selbstbestimmung gewährt.

Last but not least hat der Synod in einer gewissen Weise die Geschichte zurückgeholt. Er stellte das Amt eines Protopresbyter (eines Erzpriesters) des Militär- und Flottenklerus wieder her, das 1918 abgeschafft worden war. Das Institut von Geistlichen in der Armee und der Flotte existierte seit den Zeiten von Peter dem Großen und war in das System zur Verwaltung des Imperiums integriert gewesen. Der Hauptmilitärgeistliche war einem General gleichgestellt gewesen. Das Amt gerade eines Protopresbyter der Armee und Flotte war 1890 etabliert worden.

Die Aufmerksamkeit des Synods für die Armee-Thematik überrascht nicht. Nach Beginn der Sonderoperation in der Ukraine, die inzwischen den 105. Tag andauert, besuchte der Patriarch mehrfach die Hauptkirche der russischen Armee in Kubinka vor den Toren Moskaus, hielt dort Predigten über die Wichtigkeit des Militärdienstes. Gerade diese Predigten wurden zum Grund für die Aufrufe zu Sanktionen gegen das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche, denn er hatte aus der Sicht der Kritiker in der christlichen Welt die Sonderoperation in der Ukraine „gesegnet“ und damit erheblich an Ansehen weltweit verloren. „Die Kirche betet besonders auch in Friedenszeiten, ganz zu schweigen von Kriegszeiten, für die Herrschenden, die die Hauptverantwortung für das Geschehen im Land tragen, und für die Krieger, von denen die Freiheit, die Unabhängigkeit und das Wohlergehen unseres Vaterlandes abhängen“, erklärte der Patriarch am Vorabend des Tages des Sieges.

Die gegenseitige Anziehung von Russischer orthodoxer Kirche und des Verteidigungsministeriums ist auch anhand anderer Anzeichen zu bemerken. Der Vorsitzende der Synodalkommission für Heiligsprechung des Moskauer Patriarchats, Bischof Pankratij (Scherdjew) von Troizk, berichtete Ende Mai, dass sich Verteidigungsminister Sergej Schoigu an die Kirchenführung mit dem Vorschlag gewandt hätte, Generalissimus Alexander Suworow heilig zu sprechen. In der Russischen orthodoxen Kirche hatte man zugesagt, Materialien über mögliche Wundertaten, die durch den legendären Kriegsherrn erfolgt seien, zusammenzutragen. Seine wichtigsten Wundertaten hatte Suworow jedoch auf Schlachtfeldern geleistet, darunter auch an jenen Orten, wo heute der Ukraine-Konflikt tobt.

Somit hat also die generelle Mobilisierung der russischen Gesellschaft auch das Moskauer Patriarchat tangiert. Patriarch Kirill kann jetzt mit vollem Recht sagen: „Die Krim ist unsere!“. Aber auch erklären, dass die Geistlichen der Russischen orthodoxen Kirche bereit seien, auf einem wahren Gefechtsposten im Geiste von Jesus Christus zu handeln: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannes-Evangelium — Kapitel 15, Vers 13).