Nach dem neuen Theaterskandal – dieses Mal im Zusammenhang mit der Premiere des Stücks „Das erste Brot“ im Moskauer Theater „Sowremennik“ („Der Zeitgenosse“) – führt der gesellschaftliche Rat beim Kulturministerium Anhörungen zum Repertoire der Theater hinsichtlich dessen Übereinstimmung mit der Strategie für die nationale Sicherheit durch.
Nach Aussagen des Vorsitzenden dieses Gremiums Michail Lermontow gibt es in der jüngst durch den Präsidenten bestätigten Strategie für die nationale Sicherheit „einen riesigen Abschnitt, der die Bewahrung der geistig-moralischen und patriotischen Werten betrifft. All dies ist konkret festgeschrieben worden“. Nach Meinung von Lermontow „sollen gerade gesellschaftliche Strukturen heute die Rolle gesellschaftlicher Kontrolleure übernehmen, nicht Zensoren, sondern Kontrolleure der Übereinstimmung des informationsseitigen Umfeldes mit jenen Parametern, die jetzt auch im Erlass des Präsidenten vorgegeben worden sind“.
Sind aber die gesellschaftlichen Strukturen an sich zu solch einer Tätigkeit bereit? Haben sie eine Vorstellung von der Spezifik der Theater- (und einer anderen) Kunst, von der Freiheit der kreativen Selbstdarstellung? Oder werden sie auf einen banalen Vergleich des Textes (Films) mit den Gesetzesbuchstaben ausgerichtet sein?
Da haben wir den letzten Fall (an den ersten erinnern wir uns alle; dies waren Gläubige, die ein Plakat in der Oper „Tannhäuser“ in der Inszenierung des Nowosibirsker Opernhauses vom Februar 2015 kränkte). Die gesellschaftliche Organisation „Offiziere Russlands“ hatte sich für Veteranen beleidigt gefühlt. Die „Veteranen Russlands“ schlossen sich an. Aufgesetzt wurde eine Beschwerde an das Untersuchungskomitee, das eine Überprüfung der Aufführung im Moskauer Theater „Sowremennik“ initiierte.
Da möchte man gern fragen: Was aber hat die Veteranen gerade so gekränkt, die „Veteranen“ und die „Offiziere“? Der hysterische Anfall einer Großmutter-Alkoholikerin an einem Soldatengrab, die eine Vorahnung hat, dass der nächste Krieg ihr den einzigen Enkel nehmen wird – nachdem er sich alle Männer in der Familie geholt hatte? Selbst Psychologen werden sagen, dass Wut (und der Ausgangsmonolog ist in der Tat von Zorn erfüllt) ein normales Stadium bei der Akzeptanz von Trauer ist. Nicht das letzte. Es ist aber unmöglich, daraus der Frau einen Vorwurf zu machen. Es ist schwer, zu dem Stadium des Annehmens des Todes von Nächsten im Krieg zu gelangen. Oder sollte sie, nachdem sie zusehen musste, dass man den halben Friedhof für das Fundament eines Großbetriebs für Brotherstellung bereitstellte, die unsterbliche Heldentat der Sowjetsoldaten im Kampf gegen den Faschismus preisen? Letzten Endes trauert jeder auf seine Weise. Und die Aufgabe des Theaters (bisher ist es so) besteht nicht darin, dass aufgezwungene Werte falsch, unaufrichtig aufgepfropft bzw. verbreitet werden.
Ja, in dem Stück des jungen Jekaterinburger Dramaturgen und Schülers von Nikolaj Koljada, Rinat Taschimow, gibt es Schimpfworte. Im Theater erklärt man, dass man den Text korrigiert hätte. In der Aufführung werden auch andere Themen tangiert – das nationale (dies wird sofort als Aufwiegelung markiert) und LGBT (hier versteht sich, dass man sofort eine Propagierung vorwirft). Aber die Altersbegrenzung ist auf der Internetseite des Theaters „Sowremennik“ klar ausgewiesen worden – eine Aufführung für Erwachsene, 18+.
Möglicherweise ist die Inszenierung an sich (der polnische Regisseur Benjamin Koz debütierte auf der Moskauer Bühne) eine misslungene. Sie aber zu analysieren, ihre künstlerischen Vorzüge und Mängel zu finden, ist eine Sache von Theaterkritikern. Und der Zuschauer, die bekanntlich mit barer Münze zahlen. Oder sie können sich wirklich an ein Gericht wenden, wenn sie in dem Stück widerrechtliche Szenen gefunden haben. Wahrscheinlich muss man in diesem Fall die Eintrittskarte dem Antrag beifügen, um zu bestätigen, dass man sich die Aufführung angesehen hat.
Es kommen Zweifel auf, dass irgendwer von den Veteranen bei einer der drei Premierenaufführungen zugegen war. Wenn man von Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges spricht, so haben sie wohl kaum das Video gesehen, dass die durch das Theater „Sowremmenik“ Beleidigten angeblich einander zugeschickt hatten. Oder dass sie dieses Video in Umlauf gebracht haben.
Diesen Gedanken äußert indirekt Lija Achedshakowa, die Darstellerin der Hauptrolle. Im Grunde genommen kommentiert nur sie öffentlich die Situation, wobei sie die Auffassung vertritt, dass der Skandal durch ehemalige Mitarbeiter des Theaters provoziert worden sei, die mit der künstlerischen Politik des gegenwärtigen künstlerischen Leiters Viktor Rashakow nicht einverstanden sind. Übrigens, Ryshakow hatte dieses Stück nach seiner erfolgreichen Labor-Inszenierung im Petersburger Theater an der Wassiljewskaja genommen. Es erklang auch bei szenischen Lesungen. Man kann es im Internet finden. Das heißt, das Material ist kein neues.
Am Tag der Premiere hatte die Bewegung SERB (South East Radical Block — radikal-nationalistischen Bewegung, die vor allem durch gewalttätige Übergriffe bekannt geworden ist und für die „russische Welt und ihre traditionellen Werte“ kämpfe – Anmerkung der Redaktion) Trauerkränze zum Theater herangeschafft (das „Sowremennik“ ist gestorben). Und darauf hatte es sich beschränkt. Die Aufführung fand statt. Glücklicherweise – möchte man gern schreiben, da wir uns in den letzten Jahren so sehr an die Attacken der SERB-Aktivisten gewöhnt haben, die mehrfach gerade Aufführungen in verschiedenen Theatern platzen ließen. Eine nicht allzu erfreuliche Tendenz zeichnet sich da ab: Einen gewichtigen Anteil bei der Beurteilung von Kunst und der Beeinflussung des Schicksals von Theateraufführungen beginnen gesellschaftliche Organisationen zu übernehmen. Und das Kulturministerium nimmt dabei eine unvorteilhafte Position ein, wobei es vom Wesen her den Weg zu einer informellen Zensur freimacht und nicht das legitime Recht der Theater auf eine eigenständige Bestimmung des Repertoires und der künstlerischen Entscheidungen und Lösungen verteidigt.