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Russlands Oberstes Gericht gibt sich weiter liberal


Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat den nachgeordneten Instanzen untersagt, entscheidende Zeugen seitens der Verteidigung zu ignorieren. Die Anträge der Verteidiger auf Vorladung von Zeugen, die das Wesen des Urteils beeinflussen könnten, werden oft abgewiesen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die russische Justiz mehrfach auf diesen Mangel hingewiesen. Die Experten der „NG“ sind sich gewiss, dass die Haltung des Obersten Gerichts vor Ort so lang nicht erhört wird, solang sich die Offiziellen nicht mit einer Ausbesserung der Strafprozessordnung befassen. Das heißt der Notwendigkeit zumindest einer Liberalisierung der Strafprozessordnung zustimmen, wenn nicht gar einer ernsthaften Gerichtsreform. Früher hatte das Oberste Gericht schon Änderungen vorgeschlagen, die seine Zustimmung zur Kritik aus dem Straßburger Gericht widerspiegeln. Durch die Gesetzgeber sind sie jedoch nach wie vor nicht behandelt worden.

Wie es in einem speziellen Übersichtsbericht des Obersten Gerichts zur Gerichtspraxis heißt, sollten sich die Richter in der Frage nach der Vorladung von Zeugen auf die Position des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stützen. Der hatte bereits mehrfach unterstrichen, dass, wenn die Aussagen eines Zeugens die Lage des Angeklagten verbessern oder ihm gar ein Alibi sichern können, so sind solche Zeugen als bedeutsame Prima Facie anzusehen, das heißt, man dürfe sie nicht ignorieren. Einfach so können die Richter wirklich nicht eine Ablehnung aussprechen. Zuerst muss man überzeugend begründen, aus welchem Grund es unmöglich sei, solch einen Zeugen vorzuladen, bekräftigte das Oberste Gericht.

Nach Aussagen von Experten sehe die Sache in der Realität anders aus: Die Richter weisen oft einfach die Anträge, einen Zeugen oder beispielsweise einen aus der Ortsbevölkerung hinzugezogenen (Zufalls-) Zeugen zu befragen, ab. Es komme vor, dass die Justizdiener sich auch gänzlich auf eine Bekanntgabe von Zeugenaussagen beschränken, die im Verlauf der Untersuchungsarbeiten gemacht wurden. Und unter solchen seien praktisch keine Beweise zugunsten des Angeklagten anzutreffen. Der geschäftsführende Partner der Rechtsfirma AVG Legal, Alexej Gawrischew, erinnerte, dass sich bei den Gerichtsverfahren solch eine Praxis ergeben habe: „Alle Gerichte gehen von jenem Prinzip aus, dass der Fall im Verlauf der Nachforschungen oder Ermittlungen von allen Seiten und in vollem Umfang behandelt wurde und es keine zusätzlichen Zeugen geben kann“. Die Haltung des Obersten Gerichts sei dazu bestimmt, meint er, die Loyalität der Rechtsprechung gegenüber allen Beteiligten von Strafrechtsprozessen zu demonstrieren, wozu „sich die Position des Obersten Gerichts auch mit der Meinung des EGMR deckt, die seit dem Zeitpunkt der Vornahme von Änderungen an der Verfassung (im Sommer 2020 – Anmerkung der Redaktion) für die Russische Föderation zu keiner verbindlichen geworden ist“. Dabei, erinnerte Gawrischew, würden die Entscheidungen des Obersten Gerichts durch die nachgeordneten Gerichte vielleicht gerade einmal zur Kenntnis genommen werden. All dies signalisiere nach seiner Meinung die Notwendigkeit der Durchführung einer ernsthaften Gerichtsreform, die erstens das Prinzip der Unabhängigkeit der Gerichte realisiert und zweitens eine für alle klare und verständliche Gerichtshierarchie gestaltet, in der die Anweisungen des Obersten Gerichts zu verbindlichen werden. Nach Aussagen des Juristen Sergej Sawtschenko würden in der letzten Zeit durch das Oberste Gericht recht oft „positive“ Entscheidungen in Bezug auf Verurteilte, Personen, gegen die eine Untersuchung läuft, und Angeklagten getroffen werden. Bisher bestätige dies aber vor allem nur das Bestehen von „verknöcherten Systemproblemen“. Das heißt: Es erinnert mehr an Versuche, die nicht endenden Löcher in Sachen Rechtsprechung und Rechtsanwendung zu flicken. Obgleich andererseits, wie Sawtschenko anmerkte, solche Entscheidungen einen notwendigen informationsseitigen Background für die Erörterung grundlegenderer Veränderungen der russischen Rechtsprechung schaffen würden.

Wie der Vizepräsident der Juristen-Assoziation für Registrierung, Liquidierung, Insolvenzen und Gerichtsvertretung, Wladimir Kusnezow, der „NG“ erklärte, habe bereits im Jahr 2014 die Regierung scheinbar einen Gesetzentwurf des Obersten Gerichts unterstützt, der den Gerichten untersagt, Fernaussagen von Zeugen der Anklage unbesehen Glauben zu schenken. Sie in schriftlicher Form von einer Person anzunehmen, die nicht persönlich vor Gericht erschienen ist, wurde nur in dem Fall erlaubt, wenn es früher seine direkte Gegenüberstellung mit dem Angeklagten gegeben hat. Das heißt, das Oberste Gericht hatte bereits damals begonnen, einzelne europäische Normen zu implementieren. Doch die vorgeschlagene Änderung für Artikel 281 der Strafprozessordnung wurde letztlich nicht realisiert. Dabei sind Zeugenaussagen oft der einzige Beweis, der einem Urteil zugrunde gelegt werden kann. Gerade daher bestehen der EGMR, aber auch das Verfassungsgericht darauf, dass der Angeklagte die Möglichkeit haben muss, die gegen ihn aussagenden Zeugen zu befragen. „Im Jahr 2017 hat jedoch das Verfassungsgericht nur die Norm der Strafprozessordnung erläutert, aber doch nicht als verfassungswidrig anerkannt, die erlaubt, im Verlauf von Prozessen schriftliche Aussagen zu verwenden die bei der Voruntersuchung gemacht worden waren. Gesagt wurde, dass es Fernzeugen nur in Ausnahmefällen geben könne. Das Problem besteht darin, dass die Beurteilung der „Ausschließlichkeit“ dem Gericht überlassen wird“, erläuterte der Experte. Und die Aussagen der Zeitungen werden durch den Untersuchungsbeamten mit einer subjektiven Auslegung und einem anklagenden Charakter fixiert. Oder solche Zeugen unterschreiben das Befragungsprotokoll, ohne in dessen Sinn einzudringen, konstatierte Kusnezow. Daraus ergebe sich die Situation, in der bei weitem nicht alle ordnungsgemäßen Beweise in den Gerichten untersucht werden würden. Und eine große Anzahl von Urteilen werden entsprechend formeller Grundlagen gefällt. „Die Übersichten des Obersten Gerichts bestimmen den Vektor für die notwendige Gerichtsreform“. Aber man könne sich nicht nur von ihnen leiten lassen. Gebraucht werden Gesetze und Kodexe. Und da muss etwa Folgendes festgeschrieben werden: „Es können einem Schuldspruch nicht die Aussagen von der Voruntersuchung zu Grunde gelegt werden, wenn dem Angeklagten keine adäquate und ordnungsgemäße Möglichkeit eingeräumt wurde, die Aussagen eines Zeugens oder Betroffenen anzufechten und deren Befragung zum Zeitpunkt der Vornahme von Aussagen durchzuführen, aber auch nicht das Recht gewährleistet worden ist, einen Verteidiger zu haben“.

In einem Gespräch mit der „NG“ unterstrich Timur Ragimow, Mitglied der Juristenvereinigung Russlands, dass die Untersuchungsbeamten ständig versuchen würden, sich der Zeugen der Verteidigung zu entledigen. In Wirklichkeit ist den Untersuchungsbehörden das Recht gegeben worden, praktisch jeglichen Antrag auf ein Hinzufügen von Beweisen oder für die Organisierung eines Gutachtens abzulehnen. Dabei wird die Ablehnung der Untersuchungsbehörden durch eine nichteinzureißende Mauer der Gesetzgebung geschützt. Der Artikel 38 der Strafprozessordnung garantiert das Recht der Untersuchungsbehörden und der Vorermittlungskräfte, eigenständig den Verlauf der Untersuchung zu lenken sowie Entscheidungen über die Vornahme von Untersuchungs- und anderen prozessualen Handlungen zu treffen. „Das Verfassungsgericht erläutert, dass durch das Gesetz die Möglichkeit einer willkürlichen Ablehnung, Beweise seitens der Verteidigung den Materialien des jeweiligen Falls hinzuzufügen, ausgeschlossen wird. Die Untersuchungsorgane sind verpflichtet, die Ablehnung eines Hinzufügens von Beweisen zu motivieren. Jedoch etwas weiter erläutert das gleiche Verfassungsgericht, dass derartige Entscheidungen des Untersuchungsrichters nicht als den Zugang der Bürger zur Rechtsprechung erschwerende anerkannt werden können, da die Seite der Verteidigung nicht des Rechts beraubt worden ist, solch einen Antrag bei der Behandlung der Strafsache vor Gericht der ersten Instanz zu stellen. Ja, und da ergibt sich, dass es praktisch irreal ist, die Ablehnung der Stattgabe eines Antrags mit jeglicher erbärmlichen Motivierung der Untersuchungsbehörden gemäß Artikel 125 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation anzufechten und notwendige Beweise den Materialien des Falls hinzuzufügen“, erklärte Ragimow gegenüber der „NG“. Er stimmt dem zu, dass die akute Notwendigkeit einer Reformierung der Normen der Strafprozessordnung herangereift sei, da „zum gegenwärtigen Zeitpunkt alles nicht auf die Suche nach der Wahrheit fokussiert ist, sondern auf eine maximal schnelle Abfertigung mit einem anklagenden Charakter“.