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Russlands Offizielle können sich nicht entscheiden


Seit Tagen muss Russland sich mit seiner Ignoranz in Sachen COVID-19 herumschlagen. Die Zahlen der Neuinfektionen nehmen drastisch zu, vor allem Moskau und Sankt Petersburg sind dabei Spitzenreiter. Gleiches gilt für die Todesfälle, deren Anzahl an die Anfangszeiten der Pandemie erinnert. Die dritte Corona-Welle hat das Land nicht nur erreicht, sondern scheinbar auch fest in seinen Griff genommen. In der Teilrepublik Burjatien am Baikal wurde deshalb gar ein erneuter Lockdown verhängt. All dies erfolgt vor dem Hintergrund einer landesweiten Impfkampagne, zu der Präsident Wladimir Putin am 18. Januar den Startschuss gab. Freilich schien den keiner vernommen zu haben. Zumindest wenn man sich die Vakzinierungsstatistik anschaut. Bisher haben nach fünf Monaten nur etwa 21 Millionen Bürger Russlands mindestens eine Komponente eines der russischen Vakzine erhalten, und von denen knapp 17 Millionen gar die zweite. Dies wurde aber auch erst erreicht, nachdem mehrere Regionen in diesen Tagen die Notbremse gezogen haben. Ab Montag, dem 28. Juni gilt inzwischen für insgesamt 18 Landesregionen eine obligatorische Vakzinierung für zahlreiche Personenkategorien. Und damit wurde dem lange erklärten Prinzip, dass die COVID-Impfungen freiwilligen seien, ein schwerer Schlag versetzt. Vorbei ist es mit dem Spruch „Mein Körper ist meine Sache“.

In diesem Zusammenhang ergeben sich jedoch auch einige Fragen, deren Antworten zu denken geben. Sind die gegenwärtig steigenden neuen COVID-Zahlen in Russland wirklich nur die Folge der gewissen Verantwortungslosigkeit der Bürger Russlands? Haben sich die Offiziellen zu sehr im Erfolg gesonnt, da Russland weltweit das erste COVID-Vakzin entwickelte und registrierte? Sind wirksame und möglicherweise auch notwendige harte vorbeugende Maßnahmen dem Prestige des Landes und den kurzfristigen politischen Zielen geopfert worden? Und sind für diese Ziele antike römische Rituale im Stil von „Brot und Spielen“ oder Strafen das richtige Mittel?

Ja, wer in den russischen Millionenstädten unterwegs ist, gewinnt in der Tat den Eindruck, dass COVID-19 gar kein Thema mehr ist. (Schutz-) Masken wurden in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln zu einer Seltenheit. Andere Vorsichtsmaßnahmen wurden und werden arg vernachlässigt. Überdies waren die Grenzen weitestgehend geschlossen, so dass eine Einschleppung des Virus eingeschränkt werden konnte. Derweil wurde in den staatlichen Medien tagtäglich darüber berichtet, wie gut die russischen neuen Impfstoffe seien. Kritik oder Zweifel wurden dabei völlig unter den Teppich gekehrt. Die Sendezeit verwendete man im Funk und Fernsehen mehr dafür, um von Pannen und Problemen mit den Corona-Vakzinen westlicher Hersteller zu berichten (wobei mitunter der Eindruck entstand, dass eine gewisse Schadenfreude mitschwingt). Dazu kommt, dass die russische Wirtschaft relativ gut durch die Pandemie-Zeit kommt. Die Arbeitslosigkeit blieb mehr oder weniger stabil, der Export – vor allem von Gas und Waffen – bescherte reichliche Einnahmen für die Staatskasse. Gleiches gilt für die Landwirtschaft, die aktiv ins Ausland lieferte. Wenn auch die Regierung von Michail Mischustin eingreifen musste, da die Inlandspreise für Lebensmittel und andere Waren spürbar in die Höhe schnellten.

Parallel dazu bereitete man sich aktiv auf die anstehenden Wahlen zur Staatsduma vor, die am 19. September stattfinden werden. Die Offiziellen wollen erneut einen überwältigenden Triumph der Kremlpartei „Einiges Russland“. Dafür wurden im Schnellverfahren neue Gesetze verabschiedet, die jegliche Störfaktoren in Gestalt der außerparlamentarischen Opposition ausschalten sollen. Diese stellt zahlenmäßig nur einen geringen Teil der Bevölkerung dar, aber einen recht aktiven. Der Großteil des Elektorats sollte bis zum September stillgehalten und nicht gereizt werden. Aber da hatte man die Rechnung ohne das Coronavirus gemacht. Die aktuellen Zahlen beunruhigen und veranlassen die Behörden zum lange unterlassenen, jedoch eigentlich notwendigen Handeln, das aber stellenweise undurchdacht aussieht. Dies gilt unter anderem für die nun angeordnete obligatorische Vakzinierung. Die Arbeitgeber unter Androhung hoher Geldstrafen sollen jetzt für die Impfzahlen geradestehen (der Mittelstand und die Kleinunternehmen sind schockiert), da dies die Behörden des Staates in den vergangenen Wochen und Monaten nicht geschafft haben. Sie sollen ihre Beschäftigten ködern, beispielsweise mit Präferenzen. Das könnte eventuell klappen, wie eine jüngste Umfrage des digitalen medizinischen Service „Der Doktor nebenan“ demonstrierte. Über 60 Prozent der befragten russischen Bürger erklärten, bei einer entsprechenden Prämie (36 Prozent), einem freien Tag oder einen Tag Zusatzurlaub (12 bzw. 10 Prozent) oder einer anderen stimulierenden Aktion (vier Prozent) würden sie sich impfen lassen. Materielle Anreize sind für den einen oder anderen Ungeimpften sicher ein Grund für eine Vakzinierung, doch sie beseitigen nicht das Misstrauen und das mangelnde Wissen um die Wirkung der russischen Corona-Impfstoffe. Und sie geben auch keine Antworten auf berechtigte Fragen – vor allem hinsichtlich der Entwicklung von Antikörpern, der Nebenwirkungen und der Dauer des Schutzes durch „Sputnik V“, EpiVacCorona und CoviVac.

Der Zweck (bis Ende Sommer eine kollektive Immunität von 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Russlands) heiligt die Mittel, so dass man anderenorts noch weiter geht und die Existenz ganzer Wirtschaftszweige gefährdet. Im Gebiet Krasnodar dürfen die Touristen ab 1. Juli nur mit negativem PCR-Test und Impfzeugnis und aber 1. August nur noch mit Impfzeugnis ihre gebuchten Hotelzimmer beziehen. Ab Montag wird eine massive Stornierungswelle von den Reiseveranstaltern erwartet, denn die Tests sind kostenpflichtig und nicht billig. Viele werden es da verständlicherweise vorziehen, auf ihren Urlaub am Schwarzen Meer zu verzichten oder Urlaub in der in Sachen COVID-19 liberaleren Türkei machen. Kritiker bemerken in diesem Zusammenhang zurecht, dass die Krasnodarer Beamten mit ihrer Anordnung undurchdacht und kurzsichtig handeln. Moskauer Restaurant-, Café- und Barbetreiber denken dies auch über eine ähnliche Anordnung von Bürgermeister Sobjanin, der ihnen Besucher nur mit QR-Code über den Impfstatus oder negativen PCR-Test zubilligt. Zu verstehen daher auch deren Reaktion, dass es wirtschaftlicher sei, die Einrichtungen zu schließen als massive Verluste zu bekommen.

Der Beispiele für undurchdachtes Handeln russischer Behörden in diesen schweren Pandemiezeiten gibt es viele, wobei sie scheinbar eines vereint: Man will die Bevölkerung nicht noch mehr verärgern, denn die Wahlen rücken heran. Der Petersburger Gouverneur sah es am Wochenende wohl auch so und ließ die Schülerabschlussfeier „Purpurrote Segel“ zu. Ein riesiges Menschengedränge ohne Wahrung des sozialen Sicherheitsabstands im Herzen der Newa-Metropole – die Folge. Ob aber Feiern und Jubelveranstaltungen oder steigende Zahlen von Corona-Kranken und -Toten den Ausgang der Wahlen beeinflussen werden – lange müssen wir nicht auf eine Antwort zu dieser Frage warten.