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Russlands politischer Plan für die Ukraine ist bisher unwirksam geblieben


Fast nach einem Monat seit Beginn der von Präsident Putin angeordneten Sonderoperation auf dem Territorium der Ukraine haben die Offiziellen der Russischen Föderation nach wie vor nichts über irgendeinen Plan für die politische Umgestaltung dieses Landes mitgeteilt. Gesetzt wird nach wie vor auf eine militärische Kontrolle und die propagandistische Arbeit, zu der man lediglich teilweise prorussische Aktivisten vor Ort heranzieht. Im Verwaltungsgebiet Cherson beispielsweise scheint ein gewisses Rettungskomitee „Für Frieden und Ordnung“ zu agieren. Nach der Ermordung eines seiner Aktivisten und dem Auseinanderjagen eines proukrainischen Meetings mit Schüssen ist dort am 21. März ein nächtliches Ausgehverbot verhängt worden.

In den ukrainischen sozialen Netzwerken werden aktiv Videos aus Cherson über ein angeblich gewaltsames Auseinandertreiben eines Meetings gegen die russische Sonderoperation verbreitet. Im offiziellen Telegram-Kanal ist ein Appell des Militärkommandanten der Stadt an dessen Einwohner über die Einführung einer Reihe von Verboten und Restriktionen, unter anderem für Straßenaktionen, veröffentlicht worden.

Von 20.00 bis 07.00 Uhr soll in Cherson ein nächtliches Ausgehverbot gelten. Dieses ukrainische Verwaltungsgebiet wurde dieser Tage als ein vollkommen von ukrainischen Truppen befreites ausgerufen. Die russischen Streitkräfte leisten der Bevölkerung dort Hilfe in Form von Lebensmitteln. Und es wurde sogar ein Komitee zur Rettung des Gebietes Cherson „Für Frieden und Ordnung“ etabliert. Zu ihm gehören im Verwaltungsgebiet bekannte prorussische Politiker, darunter einige einheimische Abgeordnete. Und der Chef des Komitees, der 45jährige Kirill Stremousow (aus der Sozialistischen Partei, die auch dieser Tage durch einen Erlass von Präsident Wladimir Selenskij in der Ukraine verboten wurde – Anmerkung der Redaktion), veröffentlicht regelmäßig Appelle und Erklärungen im Internet, wonach es an der Zeit sei, Ordnung zu schaffen, dass die Herrschaft für immer abgelöst worden sei. Und die Einwohner der Stadt müssten beginnen, sich an die neue Wende im Leben zu gewöhnen.

Am Vorabend wurde jedoch der Assistent eines der Komiteemitglieder – Pawel Slobodtschikow, gleichfalls ein prorussischer Aktivist – mit seiner Ehefrau im Auto unter Beschuss genommen. Er kam dabei ums Leben, und seine Gattin befindet sich in einem schweren Zustand im Krankenhaus. Als Organisatoren für das Attentat wurden Diversanten aus der Hauptverwaltung für Aufklärung der ukrainischen Streitkräfte genannt, obgleich keine Beweise vorgelegt wurden. Jedoch haben die Ereignisse vom 21. März gezeigt, dass die ukrainischen Streitkräfte in Cherson mit einem ernsthaften proukrainischen Untergrund rechnen können. Zumindest veröffentlicht das prorussische Rettungskomitee bereits Videos darüber, wie Vertreter russischer Sicherheitsorgane in gewissen Räumen Durchsuchungen vornehmen und dort Literatur, Flugblätter und angeblich sogar Sprengsätze finden.

Und die Rhetorik des Rettungskomitees, insbesondere die der Mitteilungen in seinem Namen über ungesetzliche Aktionen von Gegnern der Sonderoperation, hat sich innerhalb weniger Tage grundlegend verändert. Während man noch vor kurzem den Menschen ein besseres Leben versprochen hatte, für dessen Erreichen man die ukrainischen Realitäten bereits vergessen müsste, so werden jetzt an die Adresse jener, die dies nicht tun möchten, drohende Warnungen laut. Die Militärbehörden würden mit den Untergrundkämpfern und Maidan-Anhängern nicht viel Federlesen machen. Eben so schnell haben die prorussischen Aktivisten in Cherson den Weg von gewissen Agitatoren für eine „russische Welt“ zu deren Gendarmen zurückgelegt.

Und dies ist nicht so sehr ihre Schuld als vielmehr ihr Unglück, das sie allem nach zu urteilen ausschließlich aufgrund der russischen Herrschenden erleben. Seit Beginn der Sonderoperation ist fast ein Monat ins Land gegangen, doch den Einwohnern der Ukraine – wie auch den Bürgern Russlands – hat man nach wie vor keine Konturen der sie erwartenden Zukunft (oder der von Moskau festgelegten Zukunft? – Anmerkung der Redaktion) vorgestellt. Beispielsweise war im Verwaltungsgebiet Cherson offenkundig ein Testfall vorgesehen worden, auf denen das gesamte übrige Land schauen und begreifen werde, dass es gut sei, mit Russland freund zu sein. Doch anstelle massiver materieller Investitionen, die sich nicht nur auf eine humanitäre Hilfe beschränken würden, hat man das prorussische Aktiv an die Informationsfront geworfen. Zum Beispiel veröffentlichen die Accounts des Komitees zur Rettung des Gebietes Cherson im Internet eigentlich wenig einheimische Informationen. Dafür gibt es dort eine Menge allgemein propagandistischer Materialien und Nachdrucke von Nachrichten über eine angeblich unweigerliche Niederlage der Streitkräfte der Ukraine. Dabei ist bisher unklar, ob dieses Komitee wirklich aus denjenigen besteht, die aufrichtig beschlossen haben, auf die Seite der neuen Herrschenden zu gehen, oder ob dort vor allem Bürger sind, die vorhaben, schnell Geld zu verdienen. Übrigens, das Vorhandensein von Ex-Abgeordneten spricht – wie es scheint – mehr zugunsten der zweiten Version.

Und der Kreml schweigt nach wie vor hinsichtlich des politischen Plans für die Umgestaltung der Ukraine nach deren Demilitarisierung und Entnazifizierung, die von Wladimir Putin als Hauptaufgaben der gegenwärtigen Militäroperation formuliert wurden. Wenn man nicht schon jetzt beginnt, den staatlichen Status und das Verwaltungssystem dieses Landes (nach den Moskauer Wünschen – Anmerkung der Redaktion) zu verändern, werden die Meetings ähnlich dem von Cherson andauern. Und möglicherweise wird man dann nicht nur in die Luft schießen müssen.