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Russlands Rechnungshof ermittelte Ausmaß der Vorruhestandsarmut


Ein neuer Bericht des Rechnungshofs demonstriert ein schockierendes Bild von der russischen Armut, die jedoch in der Statistik keinen Niederschlag findet. Mehr als die Hälfte der in Rente gehenden Bürger Russlands hatten ein Arbeitseinkommen von maximal 20.000 Rubel im Monat (etwa 231 Euro), fanden die Rechnungsprüfer heraus. Wie Experten erläuterten, sind die älteren Menschen gezwungen, nicht gerade den attraktivsten Bedingungen und einem geringen Lohn zuzustimmen. Auch wirkt sich der Faktor der halblegalen Lohnauszahlungen aus. Im Ergebnis dessen erlauben die geringen Arbeitseinkommen nicht, mit einer würdigen Rente zu rechnen. Wenn es nicht die Beihilfen des Staates geben würde, würfen faktisch alljährlich hunderttausende Bürger Russlands, die in Rente gehen, die Reihen der Armen auffüllen.

Russlands Rentenfonds hatte im vergangenen Jahr rund 1,2 Millionen Rentenfälle. Und der Großteil von ihnen – fast 781.000 – waren Altersrenten. Im Jahr 2020 hatte für die überwiegende Mehrheit der in Rente gegangenen älteren Arbeitnehmer – es ging dabei um 87 Prozent bzw. rund 679.000 Menschen – die Sozialrente 40 Prozent ihres bisherigen Arbeitslohnes ausgemacht. Jedoch lag bei den meisten von ihnen (75 Prozent) „der Arbeitsverdienst vor der Pensionierung bei maximal 20.000 Rubel im Monat“. Solche Daten weist der Rechnungshof im Fazit zu dem Bericht aus, der hinsichtlich der Ergebnisse der Realisierung des Haushalts des Rentenfonds Russlands im Jahr 2020 vorbereitet wurde.

Im Pressedienst des Rechnungshofs erläuterte man der „NG“, dass die Angaben über den Arbeitsverdienst der Bürger entsprechend den Angaben analysiert wurden, die im System der personifizierten Erfassung des russischen Rentenfonds enthalten sind. In diesem werden der Lohn oder das Einkommen erfasst, zu denen Versicherungsbeiträge berechnet wurden.

Es sei präzisiert, dass in den Materialien des Rechnungshofs dieser Wert – 40 Prozent vom verlorengegangenen Arbeitsverdienst eines jeden neuen Rentners – als „Koeffizient des Ersetzens“ bezeichnet worden ist. Derweil hat sich in der russischen Praxis ein terminologischer Wirrwarr hinsichtlich dessen ergeben, was man als „Koeffizient des Ersetzens“ bezeichnen muss. Es gibt unterschiedliche Versionen darüber, welche Rente man mit welchem Lohn vergleichen muss, um einzuschätzen, inwieweit das Rentensystem der Russischen Föderation den Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entspricht. Wie aus Erläuterungen des Arbeitsministeriums folgte, wird faktisch im Land bisher kein solcher Koeffizient des Ersetzens, mit dem gerade die ILO arbeitet, berechnet.

Der neue Bericht des Rechnungshofs ist aber nicht durch diese Rückkehr zur Diskussion über die Termini interessant. Er offenbart noch ein wesentliches Problem. Aus den von den Rechnungsprüfern ausgewiesenen Angaben kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass einen Arbeitslohn, der keine 20.000 Rubel im Monat übersteigt, fast zwei Drittel – oder 65 Prozent – der älteren Bürger erhalten haben, denen im vergangenen Jahr eine Alterssozialrente festgelegt worden war.

Wobei auch im Jahr 2019 ein analoges Bild zu beobachten war. Der Großteil der damals in den Ruhestand gegangenen Arbeitnehmer hatte auch nicht mehr als 20.000 Rubel im Monat verdient. Und damals hatten die Auditoren erläutert, dass die für solche Rentenempfänger berechneten Pensionen „die Höhe der Sozialrente faktisch nicht überschritten hatten“.

Formal gelten diese Menschen nicht als arme. Schließlich betrug beispielsweise das Existenzminimum Ende vergangenen Jahres für die arbeitsfähige Bevölkerung der Russischen Föderation etwa 12.000 Rubel im Monat (für Rentner lag es noch niedriger, bei ungefähr 9.000 Rubel). Das Ausmaß des Problems beeindruckt jedoch: Alljährlich treten hunderttausende ältere Bürger Russlands mit solch einem Stand der Arbeitslöhne in den Ruhestand, der ihnen kein vollwertiges Renteneinkommen sichert.

Wie Dozentin Ludmilla Iwanowa-Schwez aus der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität erläuterte, hänge die Höhe der Rente in größerem Maße von der Anzahl erhaltener Punkte ab. „Je höher der Lon bzw. das Gehalt, umso mehr Punkte werden angerechnet. Und bei einem Arbeitslohn von bis zu 20.000 Rubeln werden einem Arbeitnehmer nicht mehr als zwei Punkte angerechnet“, sagte die Expertin. „Und die Bürger, die mit solch einem Lohn in Rente gehen, erhalten oft zusätzliche Zahlungen bis zum garantierten (Existenz-) Minimum in Abhängigkeit von der Region“.

Wie man der „NG“ im Pressedienst des Rechnungshofs mitteilte, haben insgesamt mit Stand vom 1. Januar 2021 fast 2,9 Millionen Menschen eine föderale soziale Beihilfe zur Rente in 54 Subjekten der Russischen Föderation erhalten. „Die durchschnittliche Höhe der Beihilfe betrug 2184 Rubel (umgerechnet etwa 25 Euro). Die Struktur der Beihilfe-Empfänger unter Berücksichtigung der Festlegung der Rente für sie ist nicht untersucht worden“, fügte man im Rechnungshof mit, der von Alexej Kudrin geleitet wird. Wenn es solche Beihilfen nicht geben würde, würden jährlich hunderttausende ehemalige Arbeitnehmer, die zu heutigen Rentnern geworden sind, die Reihe der offiziell anerkannten Armen auffüllen. Aber dank der Beihilfen sind sie formal aus der Kategorie der sozialschwachen Bürger ausgeklammert worden, obwohl sie faktisch sowohl vor Erreichen des Rentenalters als auch danach an der Überlebensgrenze balancieren.

Befragte Experten führen mehrere Erklärungen an, warum viele Vorruheständler in Russland solch geringe Löhne haben. Wie Iwanowa-Schwez erklärte, beginne der Statistik nach zu urteilen das Lohnniveau der Arbeitnehmer ab dem 45. bis 50. Lebensjahr zurückzugehen. Darüber hatte frühere auch die „NG“ geschrieben, wonach der Lohn- bzw. Gehaltshöhepunkt der Bürger Russlands auf das Alter 30 bis 34 Jahre falle. Danach aber gehe das durchschnittliche Lohnniveau zurück. Im Ergebnis dessen verdienen 30jährige beinahe zehn Prozent mehr als 40jährige und um 20 Prozent mehr als 50jährige.

„Dies erfolgt aufgrund dessen, dass es für ältere Arbeitnehmer schwieriger ist, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Und sie stimmen einem geringeren Lohn und einem Job nicht gemäß der Spezialisierung zu“, erläuterte Ludmilla Iwanowa-Schwez. „Und viele sind aufgrund des Gesundheitszustands gezwungen, auf gering vergüteten Arbeitsplätzen zu arbeiten“.

Außerdem muss berücksichtigt werden, dass in einer Reihe von Branchen das Lohn- und Gehaltsniveau ganz und gar nicht so hoch ist, wie üblicherweise gedacht wird. Die Regierung arbeitet gewöhnlich mit einem Wert, der das Landesdurchschnitt entspricht. Nach Aussagen der Expertin habe jedoch der größte Teil der Beschäftigten einen Lohn im Bereich von drei Existenzminimums. Im Bereich des Einzel- und Großhandels sowie der Kfz.-Serviceleistungen übersteige beispielsweise der Anteil solcher Arbeitnehmer die 56-Prozent-Marke, wenn man anhand der Daten von Iwanowa-Schwez urteilt, im Hotelbusiness und in der Gastronomie – die 73-Prozent-Marke. Folglich kann man annehmen, dass auch vor Erreichen des Vorruhestandsalters all diese Beschäftigten geringe Löhne erhielten.

Obgleich es auch andere Erklärungen für die besondere Situation der Vorruheständler gibt. Einer der Faktoren, die das Lohnniveau in den verschiedenen Altersgruppen beeinflussen, ist die Aktualität des Wissens, über das die Beschäftigten verfügen. „Eine Untersuchung der Arbeitseinstellungen der Arbeitnehmer zeigt, dass 49 Prozent der arbeitenden Bürger im Alter von bis zu 30 Jahren bereit sind, auf Kosten des Staates oder das Arbeitgebers zu lernen/studieren. Und 41 Prozent sind bereit, zusätzlich auch auf eigene Kosten zu studieren. Unter den arbeitenden Bürgern in der Altersgruppe von 40 bis 50 Jahren liegt dieses Verhältnis bei 47 bzw. 21 Prozent. Und unter den Bürgern über 50 Jahre – bei 35 bzw. 18 Prozent“, teilte man der „NG“ im Gesamtrussischen Forschungsinstitut für Arbeit beim Arbeitsministerium mit.

Dabei konstatieren die Befragten in allen Altersgruppen, dass sich der Inhalt der Arbeitsfunktion verändere. Das sagten unter anderem über 53 Prozent der Bürger über 50 Jahre. In dieser Altersgruppe betonen auch über 60 Prozent, dass die Anforderungen an den Beruf in ihrem Bereich insgesamt zugenommen hätten.

„Somit werden die Bürger, die ihr Berufswissen nach Abschluss der Ausbildung nicht aktualisieren, auf dem Arbeitsmarkt zu weniger konkurrenzfähigen“, erläuterte man im erwähnten Institut. „Unter Berücksichtigung des Trends zum Bedürfnis nach einer Aktualisierung des Wissens im Verlauf des Berufslebens wird in den Zentren für Berufstätigkeit ein Service hinsichtlich eines Karriere-Consultings entwickelt, der den Bürgern zu bestimmen hilft, welche Fertigkeit erhalten oder verstärkt werden muss, um den professionellen Bedarf an ihnen zu erhöhen“.

Und natürlich muss auch der Faktor der Löhne in Couverts erwähnt werden. „Es gibt einen bestimmten Prozentsatz jener, die im „Graubereich“ den Lohn bekommen“, sagte Ludmilla Iwanowa-Schwez. Diese Praxis komme im Handel, Bauwesen, in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereich vor, erklärte die Expertin. Obgleich laut Angaben des staatlichen Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM in diesem Jahr nur elf Prozent der befragten Arbeitnehmer eingestanden, dass sie den Lohn teilweise oder vollkommen in Couverts erhalten würden (insgesamt wurden 1600 Bürger von der entsprechenden Befragung erfasst, doch nicht alle von ihnen hatten zum Zeitpunkt der Untersuchung gearbeitet). Zum Vergleich: Im Jahr 2014 hatten 26 Prozent der befragten Arbeitnehmer solch ein Eingeständnis vorgenommen.

Derweil haben die Spezialisten des analytischen Kanals Macro Markets Inside die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass der Statistik des russischen Statistikamtes Rosstat nach zu urteilen im zweiten Quartal des laufenden Jahres der Anteil der „anderen Einnahmen“ in der Struktur der Bevölkerungseinkommen im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorkrisenjahres 2019 drastisch zugenommen hat. Und wie die Analytiker präzisieren, würden diese anderen oder nicht direkt zu beobachtenden Einnahmen von einem Graubereich der Wirtschaft zeugen.