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Russlands Rückkehr zum „Getreide-Deal“ – was steht dahinter?


Die überraschende Bekanntgabe der Rückkehr zum „Getreide-Deal“ hat die eingeschränkten Möglichkeiten für eine Verteidigung der russischen Interessen in der Region des Schwarzen Meeres demonstriert. Nur wenige Stunden vor einer Aufgabe des Aussetzens des Getreideabkommens hatten die russischen Offiziellen noch Bedingungen für eine sorgfältige Untersuchung der Attacke gegen Sewastopol, aber auch für eine Beseitigung der direkten und indirekten Hindernisse für den Export russischer Düngemittel durch den Westen gestellt. In den Mittagsstunden des Mittwochs gaben jedoch der Präsident der Türkei und das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation fast synchron die Rückkehr Russlands zum „Getreide-Deal“ bekannt. Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation behauptet, dass es dank der Unterstützung der Türkei gelungen sei, von der Ukraine nötige schriftliche Garantien für „eine Nichtausnutzung des humanitären Korridors und der ukrainischen Häfen“ für die Führung von Kampfhandlungen gegen die Russische Föderation zu erhalten. Derweil warnte Landwirtschaftsminister Dmitrij Patruschew am Mittwoch vor Risiken hinsichtlich eines Rückgangs der kommenden Ernte aufgrund geringer Preise für Getreide und einer Reduzierung der Düngemittel-Einkäufe durch die russischen Agrarier.

Wenige Minuten vor der Mitteilung des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation über die Rückkehr zum Getreideabkommen mit der Ukraine (das am 22. Juli unter Vermittlung von Ankara und der UNO erreicht wurde – Anmerkung der Redaktion) hatte noch Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Staatsoberhauptes, vollmundig erklärt, dass die Bedingungen dafür die Liquidierung der Behinderungen auf dem Weg des russischen Exports von Düngemitteln und die Beendigung der Ausnutzung der Korridore durch die ukrainische Militärs für militärische Ziele bleiben würden. „Die Liquidierung dieser direkten und indirekten Hindernisse auf dem Weg des russischen Düngemittelexports in andere Länder ist das erste. Dies war ein integraler Teil des Deals. Dieser Teil des Abkommens war bisher nicht gelöst worden. Die Schwierigkeiten halten an. Die indirekten Restriktionen wirken auf die eine oder andere Weise negativ“, sagte Peskow bei der Beantwortung der Frage, welche Forderungen Russland für eine Rückkehr zum „Getreide-Deal“ stelle. „Die Handlungen der ukrainischen Militärs unter Ausnutzung der Korridore für ein Befahren durch kommerzielle Schiffe im Interesse militärischer Ziele gefährden die Sicherheit. Unter diesen Bedingungen kann Russland diese nicht für diese Schiffe garantieren. Und gerade solch eine Rolle eines Garanten hat Russland im Kontext des Deals übernommen“, fügte er hinzu. (Dabei hatten die Tage nach Russlands Ausstieg aus dem Getreideabkommen gezeigt, dass die aus den ukrainischen Häfen ausgelaufenen Schiffe mit Getreide sicher ihre Fahrt in Richtung Türkei vornahmen. – Anmerkung der Redaktion)

Am Vorabend hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in einem Telefonat mit dem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan erklärt, dass „eine detaillierte Untersuchung der Umstände dieses Zwischenfalls (die Attacken in einer Bucht und im Bereich der Reede von Sewastopol – „NG“) vorgenommen, aber auch von Kiew reale Garantien für eine strikte Einhaltung der Istanbuler Vereinbarungen, insbesondere hinsichtlich einer Nichtnutzung des humanitären Korridors für militärische Zwecke erhalten werden müssen. Nur danach könne man die Frage einer Wiederaufnahme der Arbeit im Rahmen dieser „Schwarzmeer-Initiative“ erörtern“.

Am Dienstag hatte Erdogan erklärt, dass er beabsichtige, am 2. November den Getreide-Korridor mit dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij zu besprechen. Erdogan hatte gleichfalls mitgeteilt, dass der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu mit dem Minister für nationale Verteidigung der Türkei, Hulusi Akar, telefoniert hätte. Nach Aussagen Erdogans hätte der russische Verteidigungsminister dem türkischen Amtskollegen mitgeteilt, dass die Lieferungen von Agrarerzeugnissen durch den Getreide-Korridor in den Mittagsstunden des 2. Novembers wiederaufgenommen werden würden.

Allerdings wurde, wie bereits erwähnt, der Frachtschiffverkehr durch den Getreide-Korridor nicht eingestellt. Und die Demarche der Russischen Föderation mit einer Aussetzung der Teilnahme am Getreideabkommen führte lediglich zu einem kurzzeitigen Ansteigen der Börsenpreise für Weizen und zu zeitweiligen Schwierigkeiten bei der Versicherung der Frachtschiffe. Dabei konnte die Russische Föderation faktisch in keiner Weise die Ausfuhr des ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer beeinflussen. Eine Verminung von Bereichen des Schwarzen Meeres, eine Blockade von Häfen oder ein Beschuss von Frachtschiffen hätten Russland nur noch größeren Schaden zugefügt. In diesem Sinne ist der „Getreide-Deal“ genau genommen kein Deal, da eine keine der Seiten die Möglichkeit hat, das Geschehen zu beeinflussen. Daher gibt die Ausgangsbezeichnung der Getreideabkommen – „Schwarzmeer-Getreide-Initiative“ – exakter die Realität wieder. Übrigens, am 18. November läuft die Geltungsdauer dieser Initiative formal aus. Und diese Tatsache versuchen russische Beamte, für eine Verteidigung der Interessen der Russischen Föderation auszunutzen. Die Ereignisse vom 2. November zeigen jedoch, dass es dafür keine besonderen Möglichkeiten gibt.

Die Entscheidung über eine Prolongierung des „Getreide-Deals“ wird bzw. soll in Abhängigkeit von der Umsetzung jenes Teils der Vereinbarungen, der den Export russischen Getreides und Düngers betrifft, getroffen werden. Damit gebe es bisher Probleme, gestand am Mittwoch der russische Vizeaußenminister Andrej Rudenko ein. „Wir kehren nicht zurück, wir haben einfach die Teilnahme ausgesetzt. Und jetzt haben wir sie wiederaufgenommen. Was aber die Klärung der Frage nach einer Verlängerung angeht, so ist dies ein gesondertes Thema, zu dem eine Entscheidung unter Berücksichtigung aller begleitenden Faktoren getroffen wird“, sagte Rudenko. „Leider sehen wir hier eine große Disproportion. Der russische Teil – zur Ausfuhr russischer Lebens- und Düngemittel – wird außerordentlich schlecht realisiert“, betonte der Vizeminister. Er begann nicht, die Frage zu kommentieren, was das für ein Dokument war, das die Nichtnutzung des humanitären Korridors für militärische Zwecke durch die Ukraine garantiert, und wem es durch Kiew übergeben worden war. „Wir haben aber klare Garantien seitens der Ukraine über eine Nichtwiederholung derartiger Attacken unter Ausnutzung unter anderem der Infrastruktur und Korridore, die mit der Ausfuhr des Getreides in Verbindung stehen“, sagte der stellvertretende russische Außenminister.

Folglich ist es recht wahrscheinlich, dass für die russischen Hersteller von Dünger und die Agrarier die Schwierigkeiten mit der Herstellung und dem Absatz ihrer Erzeugnisse anhalten werden. Solch eine Schlussfolgerung kann man nach den Mittwoch-Erklärungen von Landwirtschaftsminister Dmitrij Patruschew ziehen. „Der signifikante Rückgang der Preise für Agrarerzeugnisse hat vor dem Hintergrund recht hoher Düngemittelpreise in der laufenden Saison zu einer Verringerung ihrer Erschwinglichkeit für die Agrarier geführt. Als ein Ergebnis wird seit August ein Nachlassen des Tempos beim Erwerb von Düngemitteln registriert. Und dies zieht Risiken für ein Nichterreichen der Planzahlen hinsichtlich des Einbringens von Dünger in die Böden und kann – das Wichtigste – zur Ursache für einen Rückgang der Ernteerträge des kommenden Jahres werden“, erklärte der Landwirtschaftsminister während einer Regierungssitzung.

Nach seinen Worten hätten die Agrarier zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon 4,4 Millionen Tonnen Mineraldünger erworben. „Es sei daran erinnert, dass der wissenschaftlich begründete Bedarf für ein Einbringen von Dünger rund 80 Kilogramm je Hektar beträgt. Und wir gehen in den letzten Jahren zielgerichtet auf diesen Wert zu. Im Jahr 2019 lag der Wert bei 46 Kilogramm. Im Jahr 2022 soll er 60 Kilogramm übertreffen“, teilte Dmitrij Patruschew mit.