Die Staatsduma (das russische Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) bereitet sich vor, ein Verbot zu verabschieden, wonach keine Kinder von Migranten, die die russische Sprache nicht beherrschen, eingeschult werden sollen. Die entsprechende Gesetzesvorlage wird gleichfalls verpflichten, eine Prüfung von Minderjährigen hinsichtlich der Beherrschung der Staatssprache bei der Aufnahme in allgemeinbildende Einrichtungen vorzunehmen. Auf welche Art und Weise diese Restriktionen helfen werden, den Umfang der illegalen Einwanderung zu verringern und zwischennationale Konflikte in der Gesellschaft zu verhindern, ist ein Rätsel. Es wird eher das Gegenteil erfolgen: Die Umsetzung der Idee wird zu entgegengesetzten Ergebnissen führen. Im Endergebnis werden wir eine noch geringere Integration und noch mehr Risiken bekommen.
Gerade die Schule ist der Hauptkanal für eine soziale und kulturelle Anpassung der Kinder von Migranten. Und die produktivste Form für ein Studium der Sprache ist das Eintauchen in das sprachliche Umfeld des Aufnahmelandes. Und je früher die Kinder in dieses Umfeld gelangen, desto leichter erfolgt der Prozess ihrer Integrierung in die Gesellschaft. Die meisten Kinder erlernen die Sprache im Prozess der Ausbildung und des täglichen Zusammenwirkens mit den Klassenkameraden und Lehrern.
Mehr noch, über die Schule erfolgt auch eine Sozialisierung der Eltern. Für viele Hausfrauen aus den Einwandererfamilien ist die Schule das einzige Fenster zur Außenwelt. Dank der Kommunikation mit den Kindern und deren Lehrern machen sich die Mütter mit den Regeln, Werten und Praktiken des Aufnahmestaates vertraut. Und wenn wir wollen, dass sich die Einwanderer unsere kulturellen Normen und Vorstellungen von der Welt aneignen, muss man die Türen der Bildungseinrichtungen öffnen und keine Mauern errichten.
Sprachprobleme ergeben sich aufgrund des Fehlens effektiver Programme für eine Anpassung der Migranten – sowohl der erwachsenen als auch der minderjährigen. In unseren Schulen gibt es keine zusätzlichen oder vorbereitenden Russisch-Lehrgänge für die Kinder von Migranten. In unserem Land erfolgt eine schwache Ausbildung von Lehrern für ein Arbeiten mit multiethnischen Klassen.
Es darf nicht vergessen werden, dass unter denjenigen, die schlecht Russisch sprechen, nicht wenige russische Staatsbürger sind. Laut der Bevölkerungszählung des Jahres 2020 erreicht der Anteil der nicht die russische Sprache beherrschenden Menschen in einer Reihe von Regionen 10 bis 15 Prozent. Außerdem erhalten jährlich rund 500.000 Ausländer aus dem nahen Ausland die Staatsbürgerschaft Russlands. Und mit Ausnahme eines Dienstes in der Armee sind für sie keinerlei Mechanismen für eine Sozialisierung vorgesehen.
Derweil verringern sich die schulischen Leistungen der Kinder, wenn sie keine adäquate sprachliche Unterstützung erhalten, und ihre soziale Integration wird erschwert. Dagegen unterscheiden sich dort, wo es derartige Programme gibt, die schulischen Leistungen, die Lebens- und Karrierestrategien der Migrantenkinder nicht von der Mehrheit ihrer Klassenkameraden.
Restriktionen für eine Einschulung bedeuten in der Praxis, dass die Kinder der Einwanderer zu Hause bleiben, wobei sie überhaupt keinerlei Ausbildung erhalten und sich in ihrem Mikrokosmos einschließen. Indem man ihnen die Perspektive für ein Kommunizieren mit den Altersgefährten nimmt, berauben wir sie der Stimuli, zu erlernen, die russische Sprache zu verstehen und soziale Kontakte in der neuen Gesellschaft anzubahnen. Nach Erreichen der Volljährigkeit werden diese Menschen mit weitaus größeren Barrieren und Unverständnis konfrontiert. Gerade auf solch einem Boden entstehen Ghettos, gedeihen religiöser Fundamentalismus und extremistische Überzeugungen.
Somit löst der vorgeschlagene Gesetzentwurf nicht ein einziges Problem – weder das der sozialen Spannungen in den Schulen (denn die polyethnischen Klassen werden nicht verschwinden) noch das der Einsparung von Haushaltsmitteln (während ein Rubel bei der Ausbildung von Migranten eingespart wird, wird der Staat zehn für eine Sicherheitsprophylaxe und das Funktionieren des Strafvollzugssystems aufwenden) oder das der Adaptierung der Migranten (die Möglichkeiten, Teil der Gesellschaft zu werden, werden sich für sie verringern und die Chancen, mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert zu werden, zunehmen).
In den europäischen Ländern sind alle verpflichtet, zur Schule zu gehen. Mit Stand vom März dieses Jahres sieht die Gesetzgebung von 14 EU-Ländern eine strafrechtliche Verantwortung für die Eltern aufgrund eines Nichtbesuchens der Schule durch deren Kinder vor. Für diejenigen, die die Sprache nicht beherrschen, wird ein zusätzlicher Lehrer vorgesehen. Leider verwirft der russische Staat heute alles Westliche. Und Europa hört auf, für uns ein Orientierungspunkt zu sein.
Freilich läuft die gegenwärtige Kampagne gegen Einwanderer auch der Wende Russlands gen Osten zuwider. Einerseits verstärken wir die Kontakte mit den Partnern aus der GUS und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Die Regierung lädt aktiv Arbeitsmigranten ein. Das Arbeitsministerium bittet sogar, die Quote für ausländische Arbeitnehmer für das kommende Jahr zu verdoppeln. Andererseits werden Verbote für Bürger aus der Liste der „freundlichen Länder“ vorbereitet. Ungeachtet der zwei Jahrzehnte eines Lebens mit einer Machtvertikale weiß die linke Hand des Staates nach wie vor nicht, was die rechte tut.
Laut Verfassung hat jeder ein Recht auf Bildung. Im Zusammenhang damit gerät die Initiative der Abgeordneten auch noch in einen Widerspruch mit der geltenden Gesetzgebung. Das föderale Gesetz „Über die Bildung“ garantiert das Recht auf Bildung – unabhängig vom Geschlecht, der Rasse, der Nationalität, der Sprache und von anderen Umständen. Artikel 78 dieses Gesetzes erläutert speziell: „Ausländische Bürger verfügen die gleichen Rechte auf den Erhalt einer Vorschul-, einen allgemeinen Grundschul-, einer allgemeinen Grund- und allgemeinen Mittelschulausbildung wie die Bürger der Russischen Föderation“. Das Prinzip des inklusiven Charakters ist in offiziellen Dokumenten festgeschrieben worden. Die Konzeption für die staatliche Einwanderungspolitik und die Strategie für die staatliche Nationalitätenpolitik heben als eine Hauptpriorität die Unterstützung für Einwanderer bei der sozialen und kulturellen Anpassung sowie Integration inklusiver der Ausbildung zur Vermittlung der russischen Sprache hervor.
Ob wir dies wollen oder nicht, die internationale Migration ist unausweichlich. Laut einer Schätzung der Weltbank wird in den nächsten Jahrzehnten der Migrationsdruck zunehmen. Russland erhebt den Anspruch auf den Status eines der weltweiten Entwicklungszentren. Und die Menschen, die im Geburtsland weniger Glück gehabt haben, werden stets hierher auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen streben. Man kann sich dem mittels Verbote und Restriktionen widersetzen, wobei Zeit und Möglichkeiten verpasst werden. In der langfristigen Perspektive wird es richtiger sein, sich auf das Unumgängliche vorzubereiten, wobei eine wahre Integration der Einwanderer mit einem maximalen Nutzen für die Wirtschaft und die Menschen gewährleistet wird.
Russlands Schulen – nicht für Migranten?
14:59 18.11.2024