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Russlands soziale Neuschichtung erinnert an die 90er


Das Problem der sozialen Neu- bzw. Umschichtung ist genauso aktuell wie zu Beginn der 90er, ergibt sich aus einer Umfrage des kremlnahen Allrussischen Meinungsforschungszentrums (VTsIOM). Rund 70 Prozent der Bürger Russlands bezeichnen derzeit die Ungleichheit als eine zu große. Vor dreißig Jahren hatten dies fast 80 Prozent gemeint. Laut anderen Angaben entspricht das aktuelle Niveau der Löhne und Gehälter offenkundig nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung. Es liegt um etwa zwei Drittel unter dem gewünschten. Vor dem Hintergrund der Sanktionen nehmen die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt zu, fixierte Russlands Arbeitsministerium. Eine populäre Form, um in Krisenzeiten den Familienetat aufzubessern bzw. zu unterstützen, sind Nebenjobs. Spezialisten für die Gewinnung von Personal haben die Situation verschiedenen beurteilt. Die einen verwiesen auf eine Verringerung der Angebote für Nebenjobs im Vergleich zur Pandemiezeit, andere – auf eine Zunahme.

Im Arbeitsministerium hat man mitgeteilt, dass die „aktuelle Lage der Dinge, der Sanktionsdruck, der auf die Russische Föderation ausgeübt wird, sich auf den Arbeitsmarkt auswirkt“. Wie Ministeriumschef Anton Kotjakow bei einer erweiterten Tagung des sozialpolitischen Ausschusses des Föderationsrates (des russischen Oberhauses – Anmerkung der Redaktion) erläuterte, würden einerseits die Zahlen, die die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt charakterisieren, mehr oder weniger dem allgemeinen Trend entsprechen.

„Wenn wir uns die Dynamik der registrierten Arbeitslosigkeit für den Zeitraum ab dem 1. März bis einschließlich 1. Juni anschauen, so befand sich die Anzahl der gemeldeten Arbeitslosen in einem Korridor von 660.000 bis 680.000 Arbeitslosen. Dies ist vom Prinzip her für die russische Wirtschaft ein sehr geringer Wert“, betonte der Minister.

Andererseits aber „sehen wir, dass die Spannung auf dem Arbeitsmarkt allmählich zuzunehmen beginnt“. „In den letzten Zeitabschnitten, bereits im Juni, beginnen wir eine bestimmte Zunahme  der Anzahl der Arbeitslosen zu beobachten, die in den Beschäftigungszentren gemeldet werden… In Vielem über die Unternehmen mit einer ausländischen Beteiligung Druck auf den Arbeitsmarkt aus“.

Bestätigt wurde dies am Freitag, als im Apparat von Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa neue Arbeitslosenzahlen vorgelegt wurden. Mit Stand vom 20. Juni waren offiziell bereits 699.000 Menschen als arbeitslose gemeldet gewesen. Und die Anzahl der Bürger, die verkürzt arbeiten müssen, belief sich auf 129.000 Menschen. Dazu kommen weitere 128.400 Menschen, die nicht arbeiten können, aber weiter eine (eingeschränkte) Lohnfortzahlung erhalten.

Bereits im März-April waren durch die Regierung zusätzliche Maßnahmen ergriffen worden, die ein Halten von Beschäftigten in konkreten Unternehmen fördern sollen. „Und vom Prinzip her brachte dies ein bestimmtes Ergebnis“. „Der Druck auf die Unternehmer-Community dauert aber an“, sagte Kotjakow.

Und folglich ergeben sich auch Risiken für eine neue Verschlimmerung des Problems der Ungleichheit, welches der eingangs erwähnten VTsIOM-Umfrage nach zu urteilen für die Bevölkerung immer noch fast genau solch ein Problem wie auch zu Beginn der 90er Jahre bleibt. Mit der Meinung, dass die Unterschiede in den Einkommen in Russland zu groß seien, sind derzeit 69 Prozent der Befragten vollkommen oder wahrscheinlich einverstanden. 1992, vor dreißig Jahren, hatten 78 Prozent der Befragten solch eine Antwort gegeben.

Das Bestehen des Problems ermittelt auch die Statistik. Laut dem russischen Statistikamt Rosstat machte 1992 der Koeffizient der Fonds im Land ein 8faches aus, 1993 – das 13,5fache und im Jahr 2019 beispielsweise das 15,6fache und im Jahr 2021 das 15,1fache. Gemeint ist mit diesen Zahlen das Verhältnis der Geldeinnahmen der zwei Gruppen, die zehn Prozent der reichsten und zehn Prozent der sozial schwächsten Vertreter der Landesbevölkerung ausmachen. Die Zunahme dieses Parameters belegt eine Vertiefung der Ungleichheit.

Der Gini-Koeffizient (statistisches Maß für die Ungleichverteilungen in einer Gesellschaft, das vom italienischen Statistiker Corrado Gini entwickelt wurde – Anmerkung der Redaktion) machte 1992 0,289 aus, und 1993 – 0,407. Als Vergleich sei angeführt: 2019 – 0,412 und 2021 – 0,408. Dies ist ein Index für die Konzentration der Einkommen. Wenn angenommen wird, dass die Einkommen bei allen Bürgern gleiche sind, so entspricht der Index dem Wert „0“. Wenn man aber einräumt, dass sich die gesamten Einkommen im Land bei einem Menschen konzentrieren, so kommt der Koeffizient dem Wert „1“ gleich. Die Zunahme des Wertes bedeutet eine Verstärkung der Ungleichheit.

Der aktuelle Stand der Löhne und Gehälter entspricht offenkundig nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung. Laut Rosstat machte im März der durchschnittliche Lohn im Land fast 67.000 Rubel (umgerechnet etwa 1170 Euro) im Monat aus. Dieser Wert müsste aber um etwa das 2,5fache höher sein. „Im Durchschnitt würden Russlands Bürger gern einen Lohn bzw. ein Gehalt von 169.000 Rubel erhalten“, teilten Vertreter des Internetservice www.rabota.ru entsprechend den Ergebnissen einer im Juni vorgenommenen Befragung von 3.000 volljährigen Respondenten mit.

Laut den Angaben, die der geschäftsführende Direktor der Internetplattform Avito.Rabota, Artjom Kumpel, der „NG“ nannte, „erwies sich im Mai dieses Jahres als die populärste Form für die Interessenten, die das Monatseinkommen erhöhen wollten, eine Nebentätigkeit (46 Prozent)“. Und diese Variante dominiert in allen Altersgruppen.

„Laut einer Untersuchung von www.hh.ru, die im März 2022 vorgenommen wurde, arbeitet die überwältigende Mehrheit der Befragten (88 Prozent) für eine Aufstockung der Einkommen nebenher“, teilte Maria Ignatowa, Leiterin des Dienstes für Studien des Portals „Headhunter“, der „NG“ mit. Und einer relativen Mehrheit der Umfrageteilnehmer (39 Prozent) bringt die Nebenarbeit einen Zusatz von zehn bis 30 Prozent zum Grundeinkommen. „Jedem fünften (23 Prozent) – 30 bis 50 Prozent zum eigentlichen Einkommen. Fast genauso vielen (22 Prozent) – bis zu zehn Prozent der Grundeinkommens. Jedem sechsten (16 Prozent) – mehr als die Hälfte des Grundeinkommens“, fügte sie hinzu.

Wie sieht aber die Situation mit offenen Stellen aus? „Die Sommersaison des Jahres 2022 zeichnet sich durch eine starke Zunahme des Bedarfs an einem Zusatzverdienst aus. Entgegen der generellen Tendenz auf dem Arbeitsmarkt, die mit einer fließenden Verringerung der offenen Stellen verbunden ist, nimmt das Interesse für Nebenverdienste sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Arbeitnehmern zu“, teilte Ignatowa mit. „In der Zeit ab Mai bis Anfang Juni des Jahres 2022 erreicht die Gesamtzahl der offenen Stellen für Nebenverdienste auf www.hh.ru 140.000, was um 57 Prozent über dem Wert des analogen Zeitraums des Vorjahres liegt, als ein Teil der mit COVID-19 verbundenen Restriktionen galten“.

„Auf Avito hat sich im Zeitraum vom April bis Anfang Mai 2022 die Anzahl der offenen Stellen für Arbeitnehmer ohne Erfahrungen in solchen Berufen wie Bäcker (Zunahme um 73 Prozent), Nunny (um 55 Prozent), Kellner (um 31 Prozent), Merchandiser (um 27 Prozent) und Berater-Verkäufer (um 24 Prozent) im Vergleich zum analogen Zeitraum des vergangenen Jahres erhöht“, erklärte Kumpel.

Wie Ignatowa erläuterte, würden die Arbeitgeber in der Sommersaison traditionell kommunale und Landarbeiter, Betreuer in Kinderlagern, Promoter suchen. Dank der aktiven Entwicklung des Inlandstourismus würden gleichfalls Beschäftigte für das Hotel- und Restaurantbusiness besondere Nachfrage erfahren.

„Traditionell gibt es etwa 70 Prozent der Sommerjobs in den südlichen und Kurortregionen mit einem entwickelten Agra-Industriekomplex und einer Tourismus- sowie Sommerurlaubsindustrie, aber auch in den Großstädten, wo sich im Sommer objektiv eine saisonbedingte Rotation des Front-Personals vollzieht“, sagte Nadeschda Michin aus der Personalagentur ProPersonnel. „In diesem Jahr sind Kuriere und Fahrer (besonders in den Großstädten), Mitarbeiter von Internet-Shops (Manager und Verpackungspersonal), Verkäufer, Gruppenleiter, Betreuer und Instrukteure für Sommerlager und Tourismus-Stützpunkte, Landschaftsingenieure, Kellner und Administratoren, Ärzte, aber auch Bauarbeiter ohne besondere Spezialkenntnisse am meisten gefragt“.

„Zum Sommer ergibt sich eine große Anzahl von Saisonjobs, die keine speziellen Kenntnisse und Fertigkeiten verlangen. Wir sehen, dass eine große Anzahl solcher Jobs im Bereich der Agrar-Industrie angeboten werden. Gesucht werden Beeren-Pflücker, Spezialisten zur Pflege von landwirtschaftlichen Kulturen usw. Gebraucht werden gleichfalls erfahrener Spezialisten, beispielsweise im Tourismusbereich“, teilte Julia Sanina, Personaldirektorin des Service www.rabota.ru.

Aber laut Angaben von Maria Ignatowa sei im Sommer 2022 der verbreitetste Nebenjob der eines Verkaufsberaters oder Verkäufers-Kassierers (fast zehn Prozent der offenen Stellen). Weiter folgen Kellner, Barkeeper, Köche, Bäcker u. a. Laut ihren Aussagen habe entgegen den Befürchtungen hinsichtlich einer Verringerung der Anzahl der Sommerjobs aufgrund des Weggangs oder der Einstellung der Tätigkeit einer Reihe von Unternehmen im Bereich des Einzelhandels und der Gastronomie „in diesem Jahr die Anzahl der Angebote für eine Nebenarbeit in ihnen gleichfalls um ein Mehrfaches zugenommen. Die Anzahl solcher offenen Stellen von Handelsketten hat innerhalb eines Jahres um mehr als das 5fache zugenommen. Im Gastronomiebereich gibt es eine analoge Zunahme“.

„In diesem Jahr gibt es auch eine wesentliche Zunahme des Bedarfs an Nebenjobs seitens IT-Unternehmen, seitens Zustelldienste und Lager. Heute kann ein Vertreter praktisch jeglichen Berufs eine Variante für eine Nebentätigkeit finden“, betonte Ignatowa. „Die einzigen Berufsbereiche mit einem Rückgang der Angebote für eine Nebentätigkeit sind in diesem Jahr die Auto-Spezialisten (Rückgang um 32 Prozent) und Versicherungsvertreter (ein Einbruch um 57 Prozent)“.

„Aufgrund der Krise kann derzeit der Bedarf an Zeitarbeitskräften in verschiedenen Bereichen ein instabiler sein“, sagte Albina Nanumjan, Manager für die Bereitstellung von Zeitarbeitskräfte der Firma ANCOR. „Im ersten Quartal 2022 ist aber laut ANCOR-Angaben die Nachfrage nach Kurzzeitarbeitskräften um 70 Prozent im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorjahres angestiegen“. Und dies sein ein langfristiger Trend, meint die Expertin.

Obgleich es auch andere Einschätzungen gibt. Michina teilte der „NG“ mit, dass „im Vergleich zum Pandemie-Zeitraum die Anzahl der Sommerjobs in Russland im Jahr 2022 um ein Drittel zurückgegangen ist, wobei sich die Nebenjobs für Minderjährige bzw. junge Leute um mehr als die Hälfte verringerten. Die Unternehmen bieten den jungen Menschen fast keine Möglichkeit für bezahlte Praktika“.

„Die Arbeitgeber haben auch begonnen, seltener Projekt- („Sommer“-) Arbeiten für qualifizierte Spezialisten anzubieten. Es besteht ein Trend in Richtung der Linien-Spezialisten, der Newcomer-Spezialisten bei Verschönerungsarbeiten, in der Agrar-Industrie und im Tourismus“, fuhr sie fort.

„Der Sommer-Arbeitsmarkt in den Jahren 2020-2021 war inhomogen“, erläuterte Michina. „Während es zum Sommer 2020 den stärksten Rückgang der Anzahl von offenen Stellen für den gesamten Zeitraum (Mai) gegeben hatte, hatte sich im Jahr 2021 die Situation praktisch bis auf den Stand vor der Pandemie ausgeglichen“. Jetzt aber hätten die Folgen all jener Ereignisse zu wirken begonnen, die auf die eine oder andere Art und Weise mit den Sanktionen, mit der Unbestimmtheit der Situation zusammenhängen, wie sich aus dem Kommentar der Expertin ergibt.