Im dritten Quartal dieses Jahres hat sich die Anzahl der Armen in Russland laut offizieller Statistik drastisch verringert. Die Hauptursache dafür ist die Korrektur der Berechnungen für die Armutsgrenzen. Dem statistischen Sieg über die Armut haben auch die einmaligen finanziellen Zuwendungen für die Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane und Rentner unmittelbar vor den Septemberwahlen geholfen. In der Realität ist jedoch das Problem der zurückgehenden Einkommen und der hohen Inflationsrate nirgendwohin verschwunden. Die Einkommen von etwa einem Drittel der russischen Bevölkerung liegen nach wie vor unter 19.000 Rubel im Monat (umgerechnet ca. 228 Euro).
Im Zeitraum Januar-September des Jahres 2021 machte in Russland die Anzahl der Menschen mit Einkommen unterhalb des Existenzminimums 17,6 Millionen aus, meldete das Statistikamt Rosstat. Somit wird die Armut im Land jetzt auf 12,1 Prozent geschätzt, erklärt man in der Behörde von Pawel Malkow. Entsprechend den Ergebnissen des dritten Quartals lebten 16 Millionen oder elf Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Zum Vergleich: Im Quartal zuvor hatten laut Messungen von Rosstat 18,2 Millionen Menschen oder 12,5 Prozent der Bevölkerung weniger als das Existenzminimum bekommen. Laut den Ergebnissen des ersten Quartals – 20,8 Millionen oder 14,2 Prozent. Im vergangenen Jahr gab es im Vergleichszeitraum (neun Monate) 19,6 Millionen arme Menschen. Und damit lebten laut offiziellen Schätzungen 13,3 Prozent der Bevölkerung in Armut.
Für die Bestimmung der Armut im Zeitraum Januar-September verwendete Rosstat die Einkommensgrenze von 12.700 Rubel im Monat für die arbeitsfähige Bevölkerung, 9.700 Rubel für Rentner und 11.500 Rubel für Kinder.
Das Statistikamt teilte mit, dass es erstmals den Begriff der „Armutsgrenze“ anwendet. Diese Grenze „wird durch eine Multiplikation der Werte für die Basisgrenzen der Armut um den Index der Verbraucherpreise für das Berichtsquartal oder das Jahr zum vierten Quartal des Jahres 2020, der durch das Kettenverfahren gewonnen wird, bestimmt“. Dabei sind die Werte für die Basisgrenzen der Armut auf dem Stand der Größen für das Existenzminimum für das vierte Quartal des Jahres 2020 festgelegt worden.
Die Neuerung hinsichtlich der Armutsgrenze hat sich aufgrund eines neuen Schemas für die Bestimmung des Existenzminimums ergeben. Die neue Berechnungsformel hat faktisch das Existenzminimum von der Inflationsrate und den aktuellen Lebensmittelpreisen losgelöst. Dadurch gibt es keine Möglichkeit mehr, um korrekt die Zahlen für die Armut auf der Grundlage des Existenzminimums mit den Angaben der vorangegangenen Jahre zu vergleichen.
Ende November hatte die Regierung von Michail Mischustin einen speziellen Beschluss gefasst, in dem sie die Regeln für eine Bestimmung der Armutsgrenzen in Russland bestätigte, die bei den Bewertungen des Parameters „Armutsrate“ beginnend ab dem ersten Quartal des Jahres 2021 verwendet werden. Jetzt werden die Daten hinsichtlich der Armut wieder mit den vorangegangenen zu relativ vergleichbaren.
Es sei daran erinnert, dass der russische Präsident Wladimir Putin in einem Mai-Erlass von 2018 der Regierung die Aufgabe gestellt hatte, die Armut in Russland bis zum Jahr 2024 um die Hälfte zu verringern. (Wenn man als Grundlage das Jahr 2017 mit 12,9 Prozent nimmt, so bedeutet dies eine Reduzierung bis auf 6,5 Prozent). Im Juli vergangenen Jahres unterzeichnete das Staatsoberhaupt einen neuen Erlass über die sogenannten nationalen Ziele bis zum Jahr 2030, denen entsprechend in Russland die Armutsbekämpfung verlangsamt wird, da die Armut nun nicht bis zum Jahr 2024, sondern bis zum Jahr 2030 im Vergleich zum Stand von 2017 halbiert werden soll.
Arbeits- und Sozialminister Anton Kotjakow musste damals eingestehen, dass es recht schwer werden würde, das gestellte Ziel bis zum Jahr 2024 zu erreichen. Laut Rosstat-Angaben betrug die Zahl der Bürger Russlands, deren Einkommen unterhalb des Existenzminimums lagen, im Jahr 2017 18,9 Millionen oder 12,9 Prozent der Bevölkerung der Russischen Föderation. Bis zum Jahr 2030 soll also die Zahl der Armen im Land bis auf 6,5 Prozent, das heißt bis auf 9,5 Millionen reduziert werden.
Außer über die Änderung der Methodik zur Berechnung der Armut berichtete Rosstat auch über eine erhebliche Zunahme der Bevölkerungseinkommen. So seien laut einer Schätzung des Amtes von Pawel Malkow innerhalb eines Jahres die nominellen Pro-Kopf-Geldeinnahmen der Bürger Russlands um 15,5 Prozent bis auf 40.400 Rubel im dritten Quartal des Jahres 2021 angestiegen. Das bedeutet einen Anstieg um 4,1 Prozent. Im Statistikamt an sich bringt man solch eine Dynamik unter anderem mit der Anhebung der Sozialbeihilfen und der Wiederherstellung der wirtschaftlichen Aktivität, die zu einer Zunahme des Beschäftigungsgrades und der Erhöhung der Löhne und Gehälter führte, in einen Zusammenhang.
Unter anderem erhöhte sich der Anteil der sozialen Beihilfen an der Einkommensstruktur bis auf 23,1 Prozent. In absoluten Zahlen um 704,5 Milliarden Rubel von 3,4 Billionen Rubel im 3. Quartal des Jahres 2020 bis auf 4,1 Billionen im dritten Quartal des laufenden Jahres. Diese Zunahme förderten die zahlreichen „Helikopter“-Auszahlungen des Staates an die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Beispielsweise hatten allein in den Monaten Juli bis September dieses Jahres die Eltern von etwa 21 Millionen Kindern einmalige Beihilfe für die Kinder im Schulalter in einer Höhe von 10.000 Rubel erhalten. Und vor den Duma-Wahlen wurden allen Rentnern (43 Millionen Menschen) gleichfalls jeweils 10.000 Rubel ausgezahlt. Damals hatte Putin auch angewiesen, den Militärs sowie Angehörigen der Rechtsschutzorgane und Offiziersschülern jeweils 15.000 Rubel auszuzahlen.
Laut Angaben der offiziellen Statistiker wurden insgesamt in den ersten neun Monaten dieses Jahres 10,5 Billionen Rubel für soziale Beihilfen ausgegeben. Der Anteil der sozialen Beihilfen an der Einkommensstruktur der Bevölkerung ist damit fast um einen Prozentpunkt von 22,15 bis auf die bereits erwähnten 23,1 Prozent angestiegen. Experten hatten zuvor dem zugestimmt, dass die „Helikopter“-Gelder in der Russischen Föderation ein „Wirtschaftswunder“ bewirkt und zu einer Zunahme der real zur Verfügung stehenden Einkommen der Bürger Russlands nach dem mehrjährigen Rückgang geführt hätten.
Die Beurteilung der Armut hänge stark von der Bestimmung ihrer Grenzen ab, erläutert Maxim Schejin vom Investitionsunternehmen „BKS – Welt der Investitionen“. „Daher ist es nützlich, sich nicht nur die absoluten Werte anzuschauen, sondern auch die relative Armut zu beurteilen. In diesem Sinne bleibt die Kluft zwischen den Reichen und Armen in Russland eine sehr große, was nicht mit den absoluten Zahlen hinsichtlich einer Verringerung der Armut zusammenpasst“, weist er hin.
Entsprechend den Ergebnissen für die ersten neun Monate dieses Jahres waren die Monatseinkommen bei drei Prozent der Bürger Russlands geringer als 7.000 Rubel. Innerhalb eines Jahres hat sich die Zahl derjenigen, die mit solch einer Summe leben, um 0,8 Prozent verringert. Zur gleichen Zeit erhalten monatliche Einkommen im Bereich von 7.000 bis 10.000 Rubel rund fünf Prozent der Bevölkerung. Etwa 9,2 Prozent der Bürger Russlands erhalten im Monat 10.000 bis 14.000 Rubel. Weitere 12,5 Prozent haben Einkommen von 14.000 bis 19.000 Rubel. Insgesamt leben mit weniger als 20.000 Rubel im Monat fast 30 Prozent der Bevölkerung Russlands. Vor einem Jahr lag diese Zahl noch bei 34,5 Prozent. Zur gleichen Zeit hat sich der Anteil der Bürger, die mit 19.000 bis 27.000 Rubel im Monat auskommen müssen, gleichfalls verringert und macht 18 Prozent aus. In den Gruppen mit einem höheren Einkommen war eine Zunahme ihres Anteils an der Gesamtzahl der Bürger Russlands zu beobachten, insgesamt jedoch hauptsächlich im Bereich von einem Prozentpunkt.
Nach Meinung des Ökonomen Andrej Loboda seien Russlands Bürger insgesamt keine so armen Menschen gewesen, wie sehr auch Fachexperten und Methodiker dieses Thema untersucht hätten. „Man muss sich daran erinnern, dass laut Schätzungen der Weltbank der Umfang der Löhne und Gehälter in Couverts nach wie vor 14 Billionen Rubel im Land ausmacht. Und die auf ausländische Bankkonten gebrachten Mittel des Business und von Privatpersonen 1,3 Billionen Dollar erreichen“, berichtete er. Dennoch ist der Wirtschaftsexperte der Auffassung, dass solch eine zielgerichtete finanzielle Unterstützung der Offiziellen eine Verstärkung des sozialen Vektors der Landesentwicklung symbolisiere und mit großer Wahrscheinlichkeit solche Auszahlungen auch im nächsten Jahr bei einem Haushaltsplus fortgesetzt werden würden. „Die höchsten Führungskräfte des Landes sehen durchaus offenkundig den großen Unterschied zwischen der offiziellen und der persönlichen Inflation“, urteilt er, wobei er unterstreicht, dass die persönliche Inflation fast dreimal höher als die offiziellen Zahlen sei und ernsthaft die Rentner und die anderen sozial schwachen Bürger beuteln würden. „Gerade für sie ist diese Hilfe sehr zeitgemäß, um über die Runden zu kommen“, konstatiert der Experte. Übrigens, laut Schätzungen erweist sich die sogenannte persönliche Inflationsrate, das heißt die Inflation „in der Geldbörse“ des jeweiligen konkreten Bürger Russlands, oft als eine höhere als die offizielle, was unter anderem auch die extrem ansteigenden Ausgaben belegen. Die Situation wird durch eine Zunahme der generellen Kreditbelastung der Bürger Russlands verschlimmert.
Wahrscheinlich ist ebenfalls, dass auch die Belebung der Wirtschaftsaktivität in der Russischen Föderation einen geringen Einfluss auf die Verringerung der Armut ausüben konnte. So hat die Zahl der berufstätigen Bevölkerung im dritten Quartal dieses Jahres um 2,6 Prozent zugenommen und machte 72,2 Millionen Menschen aus, während die Arbeitslosenrate bis auf minimale 4,4 Prozent zurückgegangen ist. Dabei ist der berechnete nominelle Durchschnittslohn in den ersten neun Monaten dieses Jahres um neun Prozent angestiegen, der reale – um drei Prozent.
Unklar ist dabei, ob diese Trends im kommenden Jahr anhalten werden. Die Weltbank erwartet, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2022 nur um ganze 2,4 Prozent anstelle von 2,8 Prozent wachsen werde. Die Weltbank geht von der Annahme aus, dass das russische Programm zur Vakzinierung gegen COVID-19 im kommenden Jahr mit etwa dem gleichen Tempo wie im zu Ende gehenden Jahr umgesetzt werde. Im Ergebnis dessen werde ein erheblicher Teil der Bevölkerung im Verlauf eines Großteils des Jahres ungeimpft bleiben. Dementsprechend könne man erwarten, dass ständige und regelmäßige Maßnahmen zur COVID-19-Bekämpfung gebraucht werden, was das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen werde.
„Das Wirtschaftsmodell für die Entwicklung des Landes bleibt das bisherige. Aus Russland werden alljährlich hunderte Milliarden Dollar geschafft, der Rubel verliert ständig an Wert. Die Sanktionen sind nirgendwohin verschwunden. Und in der Russischen Föderation investieren nur das lokale Business und der Staat an sich. Unter solchen Bedingungen ist selbst ein bescheidenes Wachstum im Bereich von zwei bis drei Prozent schon eine gute Nachricht“, sagt Andrej Loboda.