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Russlands Ultra-Patrioten sind mit der höchsten Armeeführung unzufrieden


In Petersburg wurde dieser Tage der Organisator einer Aktion gegen das russische Verteidigungsministerium mit 15 Tagen Haft bestraft, die eher wie ein Appell an die Landesführung, Ordnung zu schaffen, ausgesehen hatte. Der ultra-patriotisch aufgepushte Teil der Gesellschaft, darunter dank der Staatspropaganda, artikuliert jetzt direkt Beanstandungen gerade in Bezug auf den obersten Befehlshaber. Und dies verhindern nicht die bestehenden harten Widersprüche zwischen den verschiedenen Gruppen der Radikalen. Es ist klar, dass die politische Zuspitzung nicht ohne eine Beachtung seitens der Herrschenden und der Rechtsschützer bleiben konnte. Daher wird man wahrscheinlich den zu großen Kreis der „erzürnten Patrioten“ doch einengen, versuchen wird man aber, die Proteste ohne besondere Repressalien abzukühlen. Experten sind sich einig, dass man die aufgeheizten Stimmungen vorerst nur mit punktuellen prophylaktischen Maßnahmen zu einer Norm bringen werde.

Der bei der Protestaktion festgenommene Aktivist der nichtregistrierten Partei „Anderes Russland von E. W. Limonow“, Vlad Baljasnikow, erhielt am 13. Juli 15 Tage Ordnungshaft, da er bereits aufgrund analoger Rechtsverletzungen durch die Polizei zur Verantwortung gezogen worden war. Vom Prinzip her hatte das Gericht eine Alternative ohne eine Inhaftierung gehabt, 150.000 Rubel Geldstrafe (ca. 1480 Euro). Aber erstens war klar, dass die Mitstreiter und Anhänger innerhalb weniger Minuten solch eine Summe gesammelt hätten. Und zweitens war eine Verschärfung der Ahndung für den hartgesottenen Radikalen augenscheinlich auch die Hauptaufgabe (zumal die Petersburger Richter dabei nicht viel Federlesen machen, schaut man sich andere Gerichtsverfahren in der Newa-Metropole an – Anmerkung der Redaktion).

Es sei daran erinnert, dass zu Wochenbeginn die Petersburger Limonow-Anhänger am Hauptstab der Streitkräfte auf dem Schlossplatz eine nichtsanktionierte Aktion durchgeführt hatten, wobei sie eine Absetzung von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Valerij Gerassimow gefordert hatten. Die Protestierten plädierten gleichfalls für eine Reformierung der Armee. Einen genauen Adressaten der Forderungen hatten sie nicht ausgewiesen, doch es war auch so klar gewesen, dass der Appell an Präsident Wladimir Putin gerichtet war. Auf den Internetseiten von „Anderes Russland“ tauchte solch eine Erklärung auf: „Die Partei „Anderes Russland von Eduard Limonow“ hatte ab den ersten Tagen die Sonderoperation unterstützt. Wir leisten der Front im Rahmen der Bewegung „Interbrigaden“ Hilfe. Unsere Parteimitglieder kämpfen an der vordersten Frontlinie. Wir haben verwundete und gefallene Aktivisten.

Daher haben wir ein moralisches Recht, den Rücktritt der insolventen Armeeführung zu fordern. Wir sind uns sicher, dass es in den Streitkräften Russlands, aber auch im Klub der erzürnten Patrioten nicht wenige würdige Militärspezialisten gibt, die in der Lage sind, die Führung des Verteidigungsministeriums auszuwechseln“.

Der Klub der erzürnten Patrioten, als dessen Anführer der einstige Chef der Donbass-Bürgerwehr Igor Strelkow auftritt, war in der Erklärung der Limonow-Vertreter nicht einfach so erwähnt worden. Letztere bestehen in einem aus zwei Hauptlagern, in die sich jetzt die ultra-patriotische Community aufgespalten hat. Das erste sind sozusagen die Verehrer von Strelkow, das zweite sogenannte „Zeugen Wagners“. Wobei dieses Lager wie auch das erste allerdings überhaupt kein homogenes ist. Da gibt es jene, die nach wie den Chef der Söldnerfirma Jewgenij Prigoschin preisen. Es gibt aber solche, die nach wie vor nicht Namen Beachtung schenken, sondern Taten und Heldentaten der „weltweit besten Sturm-Infanterie“. Im Zusammenhang mit der scheinbaren Aussöhnung des Kremls mit der Führung der „Musiker“ (Synonym für die „Wagner“-Vertreter – Anmerkung der Redaktion) haben sich die Widersprüche zwischen den Lagern stark zugespitzt, zumal die Herrschenden scheinbar Prigoschin mehr gesonnen sind. Zum Beispiel hingen im bereits erwähnten Petersburg die Ereignisse rund um den patriotischen Bücherladen „Laub“ gerade mit der Absicht von Strelkow zusammen, sich öffentlich über eine Regieführung der Ereignisse vom 23. und 24. Juni zu äußern.

Allerdings ist es bezeichnend, dass in den letzten Tagen die Absicht der Herrschenden besonders spürbar geworden ist, beide Lager in den Schatten zu stellen und als die Hauptsprachrohre für eine patriotische Stimmung der Bürger die offiziellen Militärkorrespondenten hinzustellen. Das heißt jene, die für die föderalen Fernsehkanäle arbeiten oder große Blogs im Internet führen. Kurz gesagt jene, mit denen sich der Kremlchef bereits getroffen hatte, der erklärt hatte, dass es auch weiterhin solche Veranstaltungen geben würde. Der Skandal um die Absetzung des Befehlshabers der 58. Armee, von Generalmajor Iwan Popow, hat gezeigt, dass ein Großteil solcher Militärkorrespondenten Positionen eingenommen haben, von denen aus sie das Ansehen des Verteidigungsministeriums schönen und verteidigen.

Die „NG“ interessierte sich bei Experten, inwieweit die „erzürnten Patrioten“ im weiten Sinne dieses Terminus den Krem beunruhigen, Und werden die Herrschenden versuchen, dieses Spektrum der Gesellschaft unter ihre Kontrolle zu bringen oder zumindest es operativ abzukühlen. Die Mehrheit war sich in der Meinung einig, dass dies auch teilweise bereits erfolgen würde. Bisher würden aber lediglich punktuelle Maßnahmen zur Anwendung kommen.

Das Mitglied des Zentralrates der Partei „Gerechte Russland – Für die Wahrheit“, Michail Jemeljanow, sagte der „NG“: „Es ist logisch, dass sich im Verlauf der militärischen Sonderoperation eine politische Krise ergeben hat. Denn traditionell war es früher so: Die Patrioten für Putin, die Liberalen – sind dagegen. Jetzt aber kritisieren Patrioten, wobei gar jene außenpolitischen Handlungen, die man traditionell unterstützt hatte. Und die Herrschenden haben wie immer zwei Lösungsvarianten – entweder Druck ausüben oder anpassen“. Der Vertreter der Mironow-Partei betonte, dass beide Gruppen für die Offiziellen unbequem seien. „Wenn aber Russland schnell in der militärischen Sonderoperation siegt, werden alle Fragen aufgehoben. Der Sieg wird alles überdecken. Wenn es aber eine Stagnation gibt, so können sich die Widersprüche nur verstärken“. Jemeljanow hegt keinen Zweifel daran, dass man versuchen werde, das patriotische Spektrum letzten Endes unter Kontrolle zu bekommen. Vorerst aber plane man wirklich, die Radikalen abzukühlen, damit sie wenig die politischen Prozesse beeinflussen. „Während die Liberalen für die Herrschenden für immer verloren worden sind, so die Patrioten aller Schattierungen – nicht. Folglich muss man mit ihnen einen Dialog führen. Das Auswachsen der patriotischen Gemeinschaft aber und das Schüren radikaler Stimmungen werden die Offiziellen einer prophylaktischen Bearbeitung unterziehen“, betonte er.

Emilia Slabunowa, Mitglied des Politkomitees der „Jabloko“-Partei, erläuterte der „NG“: „Zweifellos beunruhigt die Hitzköpfigkeit der „erzürnten Patrioten“ die Offiziellen. Das gesellschaftspolitische System verliert die Stabilität. Die Liberalen sind schon längst in Opposition gegangen, die Patrioten aber – vor kurzem. Und es ergibt sich, dass die Herrschenden in einer Einsamkeit sind. Dabei sind die Turbopatrioten gefährlicher. Ihren offenen Zorn lösen die Ereignisse und Entscheidungen aus, die nicht zu den Zielen führen, die sie erwarten. Dass man versucht, sich mit diesem Spektrum zu einigen, demonstrieren auch die Ereignisse um Prigoschin“. Nach ihrer Meinung werde die Prophylaxe mit „punktuellen halb an Repressalien erinnernde Maßnahmen“ vorgenommen. Slabunowa ist jedoch der Auffassung, dass die Herrschenden derzeit mit Schwierigkeiten in der Informationsarbeit konfrontiert worden seien. Die Situation verändere sich rasant, und die Propagandisten hätten keine Möglichkeit, in der Gesellschaft irgendwelche Aussagen zu verankern und das Negativ en passant zu kupieren.

Der Präsident der Stiftung „Petersburger Politik“, Michail Winogradow, sagte der „NG“: „Ich denke, dass die Einstellung auf eine Zügelung der Möglichkeit eines Formulierens der politischen Position unabhängig davon bewahrt wird, ob sie einen pazifistischen Charakter oder einen für den Krieg trägt. Erstens ist es für die Offiziellen wichtig, die Freiheit für ein Manövrieren zu bewahren. Und in den letzten Tagen kämpfen sie besonders aktiv darum. Zweitens ist es bei der Regelung des politischen Raums wichtig, dass er keine Quelle für Alternativen ist. Allerdings sichert dies nicht vollends vor der Schaffung lenkbarer Plattformen ab, von kontrollierbaren, aber strengeren als die existierenden Parteien. Jedoch wird auch dies eher den Charakter von Bewegungen von oben aus tragen“. Nach seinen Worten würden die Herrschenden insgesamt davon ausgehen, dass der radikal-militaristische Trend in der Gesellschaft eher ein übertriebener sei. Es könnten aber dann Risiken auftreten, wenn die Träger des Trends eine flexiblere Position einnehmen: „Wie dies auch mit Prigoschin der Fall gewesen war, der von einem Nischen-Bedürfnis nach militärischen Erfolgen „bis zum siegreichen Ende“ zu einem größeren Bedürfnis nach Veränderungen übergegangen war“. Nach Meinung von Winogradow „sind selektive Repressalien möglich. Das Wichtigste ist, dass die Grenzen des Zulässigen verwaschene sind und man sie bei Bedarf jedes Mal aufs Neue bestimmen kann“.

Alexej Makarkin, der 1. Vizepräsident des Zentrums für politische Technologien, erinnerte die „NG“ daran, dass es bisher nur eine Reaktion auf konkrete Aktionen der Ultrapatrioten und keinen Kampf gegen sie gebe. Schließlich hätte Strelkow ja doch sein Treffen durchgeführt, wenn auch an einem anderen Ort: „Bisher gibt es in den Handlungen der Offiziellen hinsichtlich der „erzürnten Patrioten“ nichts, was auch nur ungefähr etwas mit den Handlungen gegen die liberale Opposition gemein hat. Im Weiteren aber wird alles von diesem Spektrum an sich abhängen. Wird es sich anpassen und ein moderates Verhalten demonstrieren oder wird es sich radikalisieren? Wenn letzteres der Fall sein wird, so werden auch die Herrschenden dementsprechend härter vorgehen“. Nach seiner Meinung sei es offensichtlich geworden, dass die Offiziellen unter einer Radikalisierung persönliche Angriffe gegen die Landesführung und die Führung des Verteidigungsministeriums verstehen, beispielsweise Rücktrittsforderungen. „Wenn aber alles auf eine Freiwilligen-Arbeit reduziert wird, so wird dies akzeptabel sein“, unterstrich er. Der Experte ist sich gewiss, dass bereits der Prozess erfolge, die Patrioten unter eine Kontrolle zu stellen. Dies sei besonders sichtbar, wenn man die Publikationen der meisten Militärkorrespondenten von vor einem Jahr und von heute durchlese. Und die Geschichte um Prigoschin hätten alle akkurat gecovert. Makarkin erinnerte daran, dass der Begriff „Militärkorrespondent“ in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges aufgekommen sei. Die Journalisten seien Offiziere gewesen und agierten nur mit Billigung des Kommandos. „Augenscheinlich haben die Offiziellen das Ziel, jenes Bild wiederherzustellen, damit die Militärkorrespondenten von der Position des Staates aus die Berichterstattung vornehmen und alle Anmerkungen in einem geschlossenen Regime abgeben oder sie im Falle von Publikationen abstimmen“, erläuterte der Experte. Kurz gesagt: „Gegenwärtig senden die Offiziellen alle „erzürnten Patrioten“ das Signal, nicht aus dem Online- zum Offline-Regime überzugehen, sich nicht mit Protesten zu befassen und das Volk in Verlegenheit zu bringen“.

Der Chef der Politischen Expertengruppe, Konstantin Kalatschjow, erklärte gegenüber der „NG“: „Die erzürnten Patrioten werden für die Herrschenden gefährlich, wenn sie versuchen werden, sich der Sympathien der Menschen in Uniformen zu versichern. Heutzutage muss zu einem alle verallgemeinernden und zusammenführenden Faktor die Armee werden, die Unterstützung für die militärische Sonderoperation. Das Instrumentarium für eine Kontrolle dieses Spektrums ist ein verschiedenes. Wenn man da in der Art von Prigoschin beginnen wird, aktiv um die „Hirne und Herzen“ zu kämpfen, so wird dies zu einer Bedrohung für die Offiziellen. Denn im Verständnis des Kremls muss es eine Alleinherrschaft geben, eine Subordination. Und es besteht das Ziel, dass die zerstreuten Anführer und Bewegungen der „erzürnten Patrioten“ nicht aus dem (ihnen eingeräumten) Reservat herauskommen und sich nicht zu einer geschlossenen Bewegung erweitern“. Nach Meinung des Experten gebe es bisher keinerlei Verfolgungen in Bezug auf dieses Lager, im Unterschied zum pazifistischen. Und es gebe dies nicht einmal nach der „Meuterei“, denn die Herrschenden fassen alle Patrioten, wenn auch erzürnten als ideell nahe auf. Dabei gestand Kalatschjow ein, dass gegen besonders aktive Radikale eine bestimmte Prophylaxe erfolge, um ihnen zu verstehen zu geben: Eine Sache ist das Internet und gar der Informationsraum, eine andere aber eine aktive und umso mehr Straßenpolitik. „Das heißt: Den „erzürnten Patrioten“ wird nicht erlaubt, die Politik und die Menschen über eben jene Meetings und Versammlungen zu beeinflussen. Besonders im Verlauf der militärischen Sonderoperation gebe es nach dem Verständnis der Offiziellen keine Zeit für Meetings mit einer Kritik selbst nur eines Teils der Machtvertikale. Die Maßnahmen gegen die Aktivisten werden vorerst als punktuelle und prophylaktische ergriffen. Natürlich ist es das globale Ziel, diese Bewegung auszubalancieren und unter eine eigene Kontrolle zu stellen. Danach kann es ausgehend von den weiteren Aufgaben andere Entscheidungen geben“, unterstrich Kalatschjow.