Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Russlands Wirtschaft wird bis zum Juni ausgebremst


Die Regierungspläne für die Einführung von QR-Codes als einen zweiten Pass löst schwierige Fragen aus. Sind die Bürger bereit, die Unbequemlichkeiten im Interesse einer Zügelung der COVID-Epidemie und Bewahrung des Lebens hunderttausender Bürger Russlands zu akzeptieren? Werden die QR-Codes helfen, die Epidemie zu zügeln und Leben zu bewahren? Oder hat die Ausstattung mit neuen „Pässen“ fast gar nichts mit der Bekämpfung des Coronavirus zu tun? Antworten auf diese Fragen gibt es bisher keine. Jedoch ist schon jetzt klar, dass das Auftauchen eines QR-Passes die wirtschaftlichen Aktivitäten im Land einschränken sowie die Nachfrage im Transportwesen und im gesamten Dienstleistungsbereich verringern wird. Bemerkenswert ist, dass selbst in der neuen Zusammensetzung der Staatsduma (des Unterhauses des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion), die eine harte administrative Auswahl durchlief, schon radikale Proteste gegen die Ausstattung mit neuen „Pässen“, sprich: QR-Codes laut werden.

Das Zertifikat über die Impfung gegen das Coronavirus müsse zu einem genau solch wichtigen Dokument im Leben unserer Bürger wie der Pass werden, erklärte Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa. Der Gesetzentwurf über die Einführung eines Systems von QR-Codes für geimpfte und die Krankheit überstandenen Bürger Russlands soll operativ durch die Staatsduma, aber erst nach dem 14. Dezember behandelt und mit der Mehrheit der Kremlpartei „Einiges Russland“ durch das Unterhaus gewunken werden.

Dabei bereiten sich die Sektoren für Luftfahrt und Bahntransporte, aber auch die Gastronomie und andere Dienstleistungsbereiche vor, die Verluste aufgrund der Einführung der obligatorischen QR-Codes zu berechnen. In den ersten Monaten des Funktionierens des neuen Kontrollsystems könne man einen Einbruch der Nachfrage seitens der Bevölkerung zumindest um 50 Prozent erwarten, warnen einige Experten. Der Gesamtverlust könne viele hunderte Milliarden Rubel ausmachen.

Mehrere Regionen haben bereits die Liste der Einrichtungen und Organisationen verlängert, für deren Besuch ein QR-Code erforderlich ist. So haben die Behörden des Verwaltungsgebietes Kirow am Montag bekanntgegeben, dass er für das Aufsuchen von Schneidereien, Geschäften für Baumaterialien, Möbelläden und Geschäfte für Autoersatzteile, für Salons der Anbieter mobiler Telefonverbindungen, Schmuck- und Lederwarenläden, Pelzgeschäfte, Sportartikelläden und andere Einrichtungen ab dem 22. November notwendig sein werde.

In Petersburg sind seit dem 15. November QR-Codes für den Besuch von Schwimmbädern, Fitness-Clubs, Freizeiteinrichtungen, aber auch für feierliche Eheschließungen in den Standesämtern notwendig. Ab dem 1. Dezember werden Codes für den Besuch gastronomischer Einrichtungen (mit Ausnahme von Betriebskantinen sowie gastronomischen Einrichtungen auf Bahnhöfen und in Flughäfen) und Einzelhandelsobjekten (außer Apotheken, Tankstellen und Lebensmittelgeschäften) erforderlich sein.

Mehrere Parlamentarier sind der Meinung, dass sich der Bereich der Anwendung von QR-Codes auch weiter ausdehnen werde. Und daher empfiehlt man den Bürgern, „die Möglichkeit des Abhebens einer für sie kritisch wichtigen Geldsumme von den Bankkonten zu prüfen und dieses Geld in bar zu Hause aufzubewahren“. Solche Empfehlungen gab unter anderem am Montag der stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Wirtschaftspolitik Michail Deljagin. Er schloss eine weitere Erweiterung der Regeln für die Nutzung von QR-Codes bishin zu Bankdienstleistungen nicht aus.

Ende letzter Woche hatte bekanntlich die Regierung von Premier Michail Mischustin Gesetzesvorlagen über die Verwendung von QR-Codes an öffentlichen Orten und in eineigen Arten des Transportwesens in die Staatsduma eingebracht. Vorgesehen ist, dass die Gesetzesnormen bis zum 1. Juni kommenden Jahres gelten werden. So heißt es im Entwurf für das Gesetz „Über die Vornahme von Änderungen am föderalen Gesetz „Über das sanitär-epidemiologische Wohlergehen der Bevölkerung“, dass die Bürger Orte für die Durchführung von Massenveranstaltungen, Kultureinrichtungen sowie Objekte der Gastronomie und des Einzelhandels bei Vorhandensein eines QR-Codes über die Vakzinierung, eines Dokuments über eine medizinische Begründung für eine Nichtvakzinierung oder eine überstandene COVID-19-Erkrankung besuchen werden können. Bis zum 1. Februar werde bei Nichtvorhandensein dieser Dokumente auch ein PCR-Test ausreichend sein. Nach dem 1. Februar werde es jedoch diese Ausnahme nur für die Menschen geben, die medizinische Gegenindikationen aufweisen.

Die Entscheidung über die Anwendung der QR-Codes und die Liste der Objekte, wo sie gebraucht werden, werden die regionalen Behörden treffen, verheißt man in der Regierung. Und man sagt zu, dass der Zutritt zu Apotheken und Geschäften für Waren des täglichen Bedarfs ein freier bleiben werde.

Im zweiten Gesetzentwurf „Über die Vornahme von Änderungen am Artikel 107 des Luftfahrtkodexes der Russischen Föderation und am föderalen Gesetz „Statut des Eisenbahntransports der Russischen Föderation““ ist von der Notwendigkeit die Rede, einen QR-Code für die Nutzung von Fernreisezügen und für Flüge (Inlands- und Auslandsflüge) vorzuweisen.

Nach Inkrafttreten der neuen Normen werden die Fluggesellschaften und die Eisenbahn die Beförderung der Passagiere einstellen müssen, die beim Boarding keinen QR-Code über eine Vakzinierung, eine überstandene Erkrankung, Beleg über medizinische Gegenindikationen oder einen aktuellen negativen PCR-Test vorweisen können.

Die Airlines warnen vor einem Einbruch der Passagierzahlen nach Einführung der Codes. So erwartet man in der Fluggesellschaft S7, dass die Beförderungszahlen um die Hälfte zurückgehen werden. Der Generaldirektor der Airline Utair und Vorstandsvorsitzende der Vereinigung der Betreiber von Flugzeugen, Andrej Martirosow, schloss in den Medien auch einen stärkeren Rückgang des Traffics auf den Inlandslinien nicht aus.

Übrigens, im September hatten die russischen Fluggesellschaften 12,3 Millionen Passagiere befördert, was nur um ganze vier Prozent weniger als die Werte des Jahres 2019, also vor COVID-19 war, informierte man in der zuständigen russischen Behörde Rosaviazija. Dies bedeutet, dass die Airlines nunmehr bis zu sechs Millionen Menschen weniger im Monat befördern können. Bei der Bahn und im Transportministerium will man aber keine Risiken im Zusammenhang mit der Einführung der obligatorischen QR-Codes ausgemacht haben.

Einbrüche für den Erlös und sogar massenhafte Insolvenzen erwartet man auch in anderen Bereichen der kostenpflichtigen Dienstleistungen. So teilte der Vorsitzende der Assoziation der Kino-Besitzer Oleg Beresin mit, dass die Einführung der QR-Codes zur Schließung von Kinos im ganzen Land führen könne.

Nach seinen Worten führe der Rückgang der Anzahl der Kinobesucher zur Schließung eines Teils der Lichtspielhäuser, was wiederum die Produzenten veranlassen werde, keine neuen Filme in den Verleih zu bringen. Und die Kinos „werden einfach nichts zu zeigen haben“.

Der geschäftsführende Direktor des Russischen Rates der Einkaufszentren Oleg Woizechowskij erwartet, dass der Rückgang der Besucherzahlen und dementsprechend der Einbruch der Erlöse der Einkaufszentren in der ersten Zeit nach Einführung der QR-Codes 50 Prozent und mehr ausmachen werde.

Einzelne Regionen fixieren auch einen stärkeren Rückgang. So hat sich in Tjumen in den Einkaufszentren der Erlös um 60 bis 80 Prozent nach der Einführung von QR-Codes für Geimpfte oder einst an COVID-19 Erkrankte verringert, teilen einheimische Geschäftsleute mit. Die Präsidentin der Assoziation der Fitness-Industrie Olga Kiseljowa erwartet einen Rückgang des Traffics und des Bruttoerlöses im Bereich „um die 80 Prozent“. Nach ihren Aussagen beliefen sich die Verluste der Branche innerhalb von drei Wochen in Russland aufgrund der Einführung der QR-Codes auf etwa fünf Milliarden Rubel. Wenn die Schließung fast ein halbes Jahr andauern wird, werden die Verluste der Branche mit den Verlusten des Jahres 2020 vergleichbar sein, als die Fitness-Clubs wegen des Lockdowns schließen mussten.

Die Restaurantbesitzer weisen darauf hin, dass im vergangenen Jahr die Besucherzahl aufgrund der Einführung der Restriktionen um mehr als 80 Prozent zurückgegangen war. Jetzt kann man unter Berücksichtigung der umfassenderen Vakzinierung der Bevölkerung einen Rückgang von 60 Prozent prognostizieren.

Jegliche Beschränkung für irgendwelche Handlungen der Käufer führt zu negativen Folgen – zuerst für den Traffic, dann für die Verkaufszahlen, warnt Iwan Fedjakow, Generaldirektor der analytischen Agentur InfoLine.

Laut Angaben des Operativen Stabs für die Bekämpfung des Coronavirus sind bis heute in der Russischen Föderation zumindest mit einer Komponente über 63 Millionen Menschen vakziniert worden, weitere 7,8 Millionen erkrankten an der Coronavirus-Infektion. Grob gerechnet kann man annehmen, dass nicht mehr als 70 Millionen Menschen in Russland potenziell Besitzer von QR-Codes sein können. Dabei hatte man im zuständigen Fachministerium noch Ende Juni mitgeteilt, dass lediglich elf Millionen Einwohner einen Code hätten.

Derweil sind die Bürger nicht von den Regierungsinitiativen begeistert. Laut einer Umfrage, die durch das Internetportal www.superjob.ru durchgeführt wurde, unterstützen nur ganze 18 Prozent der Bürger Russlands die Idee einer obligatorischen Einführung von QR-Codes in Geschäften und im öffentlichen Transportwesen. Und 68 Prozent sind vom Prinzip her gegen die Codes, was freilich die Regierung nicht zur Aufgabe ihrer Pläne veranlassen wird. Und in den Regionen nehmen bereits die Stimmungen gegen eine aufgezwungene Vakzinierung zu.

Das Business werde Verluste aufgrund der Restriktionen für den Besuch öffentlicher Ort nur mit QR-Codes erleiden, gesteht Alexej Korenjew, Analytiker des Unternehmens „Finam“, ein. Bisher sei es aber schwierig, die realen Verluste der Wirtschaft dadurch zu berechnen, fährt er fort. Wenn man sich aber theoretisch vorstelle, dass man die Nichtgeimpften auch von den Bankdienstleistungen ausklammert, so werde erstens sofort der Markt illegaler Finanzdienstleistungen üppig wachsen. Und zweitens würde auch noch der Bankensektor beginnen, finanzielle Verluste zu erleiden, urteilt der Analytiker. „Und wenn derzeit unter den am meisten leidenden Unternehmern vor allem die Vertreter des Kleinunternehmertums und des Mittelstands sind, auf die der Löwenanteil des Dienstleistungsbereichs entfällt, so werden die Restriktionen im Finanzbereich bereits die staatlichen Banken treffen“, prognostiziert der Experte.

„Die Einführung der obligatorischen QR-Codes ist in der Lage, den Bereich der Transportdienstleistungen lokal negativ zu beeinflussen, da sie den Passagierstrom spürbar verlangsamen kann. In geringerem Maße tangieren die Folgen die Gastronomie“, meint Sergej Kutschin aus dem Investitionsunternehmen „BKS – Welt der Investitionen“. Er merkt an: Die gefährliche COVID-19-Pandemie sei bisher nirgendwohin zurückgewichen. Und folglich müssten sich das Business und die Bevölkerung für eine gewisse an die einschränkenden Maßnahmen im Interesse des Gemeinwohls gewöhnen.

Der Chefanalytiker der Firma „TeleTrade“ Pjotr Puschkarjow bezweifelt, dass die Maßnahmen die Bevölkerung zu Impfungen stimulieren werden. Er glaubt nicht, dass die Impfgegner im Interesse eines Besuchs von Restaurants und Einkaufszentren sich vakzinieren lassen werden. „Und selbst im Transportwesen werden die QR-Codes die Anzahl der Passagiere um ein Drittel bzw. bis um die Hälfte verringern. Fahrten werden nach Möglichkeit auf einen späteren Zeitpunkt verlegt“, vermutet der Experte.

Der Schaden für die Umsätze der großen Geschäfte und der Gastronomie könne ein katastrophaler sein. „Der Erlös kann mit einem Schlage um das 3- bis 4fache einbrechen, und die Gesamtverluste können innerhalb eines halben Jahres hunderte Milliarden Rubel im Land ausmachen, wenn nicht gar Billionen, was auch die Offiziellen wahrscheinlich letztlich veranlassen wird, die obligatorische Wirkung der QR-Codes nicht für den Sommer zu verlängern“, erwartet Puschkarjow.

Freilich sei auch ein anderes Szenario möglich. Wenn die Offiziellen die Wirkungslosigkeit der QR-Codes am Beispiel der zu 70 bis 90 Prozent geimpften europäischen Länder sehen und mit einem größeren Verlust im Land konfrontiert werden, könnten sie das System der Codes gar früher aufheben, ohne bis zum 1. Juni zu warten, nimmt der Analytiker an. „Die Statistik zeigt schon heute große Anstiege sowohl für die Zahl der Infizierten als auch für die Sterberate in Großbritannien, in den Niederlanden und in Deutschland. In Europa beginnt man erneut, selektive Lockdowns zu verhängen, vermutlich aufgrund dessen, dass es das Virus schafft, sich schneller anzupassen, als dass die Vakzine vervollkommnet werden. Folglich kann sich das Ziel an sich, im Land einen riesigen Prozentsatz an Vakzinierten zu bekommen, bereits in drei bis sechs Monaten als ein nicht so bedeutendes erweisen, um dafür das Wirtschaftsleben zu untergraben“, urteilt Puschkarjow.

Es sei durchaus möglich, dass die Einführung der obligatorischen QR-Codes den Erlös des Transportwesens um 12 bis 15 Prozent und der Gastronomie um zehn Prozent verringert, sagt Anna Bodrowa, Senior Analytikerin des analytischen Zentrums „Alpari“. Nach ihrer Meinung könne die Reduzierung der Verbraucherausgaben auf solch eine Weise der Wirtschaft rund 0,5 Prozent an Gewicht nehmen.

Der Leiter der Verwaltung für Handelsoperationen im Investitionsunternehmen „Freedom Finance“ Georgij Wastschenko betont, dass COVID-19 an und für sich der Wirtschaft schade. Er nimmt an, dass mit der Einführung der QR-Codes in den Regionen mit einer hohen Erkrankungsrate solch eine Wirkung auftreten werde: Ihre Einführung werde zu einer Zunahme der Zahl der Geimpften und zu einer Verringerung der Erkrankungsrate führen, was wiederum einer „Gesundung“ der Wirtschaft helfen werde.