Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Schachspieler bereicherten die Galerie von Kino-Superhelden aus dem russischen Sport


Kurz vor dem Jahreswechsel ist „Der Weltmeister“ in die russischen Kinos gekommen, ein Film des Regisseurs und Drehbuchautors Alexej Sidorow (bekannt durch den Streifen „T-34“) und des von Nikita Michalkow geleiteten „Studios TRITÉ“ (das für alle großen russischen Filmpremieren der letzten Jahre verantwortlich ist), der dem Match zwischen den Schachspielern Viktor Kortschnoi und Anatolij Karpow von 1978 gewidmet ist. Die Hauptrollen spielen Konstantin Chabenskij bzw. Iwan Jankowskij, ja und die Nebenrollen – nicht weniger berühmte russische Schauspieler (Wladimir Wdowitschenkow, Viktor Suchorukow, Fjodor und Viktor Dobronrawow, Diana Poscharskaja, Michail Troinik und Alexander Filippenko).

Einst hatte den kleinen Buben Tolja Karpow, den der Papa (Fjodor Dobronrawow) in einen Schachzirkel gebracht hatte, der Großmeister Viktor Kortschnoi (Chabenskij) bei einem Show-Match arrogant und „unsportlich“ bezwungen. Das Kind wurde erwachsen, wurde selbst zu einem professionellen Sportler und traf zu irgendeiner Zeit erneut am Schachbrett auf seinen Widersacher… Und besiegte ihn im entscheidenden Kandidatenmatch um den Titel eines Herausforderers des amtierenden Weltmeisters. Allerdings werden sie sich schon bald wieder auseinanderzusetzen haben, beim turnusmäßigen Championat, das 1978 in Chile ausgetragen wird. Karpow war zu dieser Zeit als „Papier-Champion“ bekannt geworden. Ein Jahr zuvor hatte er den Titel errungen, ohne einmal die abschließende Partie zu spielen, da sein Kontrahent, der Amerikaner Bobby Fischer, wegen der Nichteinhaltung mehrere Regeln aus dem Wettbewerb genommen worden war. Kortschnoi aber, der sich nach einer Niederlage in der Presse unbedacht wenig schmeichelhaft geäußert hatte und mit einer Rubelstrafe belegt worden war, bat im Ausland um politisches Asyl, begann für ein anderes Land anzutreten und wurde wie auch Karpow zu einem Anwärter (auf den WM-Titel). Das Match auf den Philippinen fällt in die Regenzeit, dauert drei Monate und wird voller Wasser, Medienskandale, Nervenzusammenbrüche sowie Zwischenerfolgen und Niederlagen. Und natürlich voll von patriotischem Pathos.

Von letzterem gibt es stets genug in den russischen Sportdramen. Im „Weltmeister“ ersetzt er jedoch den künstlerischen Wert. Kortschnoi verwandelt sich rasant aus einem Kontrahenten in einen Feind, wobei nicht des einzelnen Karpows, sondern der Heimat. Die Geschichte seiner Flucht aus der UdSSR ist in den ideologisch richtigen Winkel gedreht worden, in Vielem dadurch, wie diese Figur konzipiert und gespielt worden ist. Konstantin Chabenskij, an dessen schauspielerischem Talent scheinbar schon lange nicht gezweifelt werden muss, stellt in „Der Weltmeister“ etwas Groteskes dar. Und dies ist leider keine virtuose Clownerie im Geiste von Joker (aus dem Film von Todd Phillips aus dem Jahre 2019 – Anmerkung der Redaktion). Von den Fakten her gibt es dabei nichts zu bekritteln. Die Autoren sind genau in den Details, sogar in den äußeren, wie beispielsweise der Spiegelbrille von Kortschnoi, wegen der man ihn des Versuchs der Ausübung von psychologischem Druck bezichtigte. Dennoch sieht er besonders im Kontrast zu dem Helden von Jankowskij – und dies ist wohl eine herausragende Rolle – wie eine bis ans Komische grenzende negative Figur aus. Und nicht einmal wie ein grandioser Antiheld, sondern wie eine Parodie, eine Karikatur. Diese Leinwand-Rhetorik ähnelt so sehr der sowjetischen. Ist dies ein Zufall?

Allerdings ist es mit Kortschnoi allein nicht getan. Als eine einzelne Handlungslinie (und dies auch mit einer kleinen Lebensgeschichte) existiert im „Weltmeister“ ein Duett obligatorischer Parteifunktionäre, des Ministers Gradow (Wdowitschenkow) und des mit Sprichwörtern und Redewendungen parlierenden Geheimdienstlers Boris (David Brodskij). Ihr in Büros erfolgendes Produktionsdrama könnte durchaus zu einem mehrteiligen Spin-Off zu dem Film werden. Ohne Fans ist auch kein Auskommen. Und dieses Mal ist ihre Zusammensetzung recht mannigfaltig (im Vergleich zu den zwei stereotypen Amerikanern aus dem russischen Basketball-Drama „Bewegung nach oben“ von 2017 um das Münchner Olympiafinale USA-UdSSR). Und dies ist gleichfalls eine historische Tatsache. Hellseher, Sektanten … Wen es da nur nicht alles gibt. Außer Frauen. Formal gibt es natürlich Heldinnen. Bei Karpow ist es sowohl die Mutter (Larisa Schachworostowa) als auch die Ehefrau (Diana Poscharskaja), bei Kortschnoi – ein Vamp, eine Frau, die nicht schlechter als die erwähnten Hellseher einen mit ihrem Blick durchbohrt. Nur an Worten hat man ihnen allen leider nur ein Minimum zugebilligt. Poscharskaja und Jankowskij spielen zumindest eine Liebeslinie, die übrigen hüllen sich in Schweigen.

Schach ist an und für sich ein wortkarges Spiel und kann im Vergleich zum Fußball, Basketball und Eishockey als kein so dynamisches erscheinen. Ein Spielfeld oder eine Eisfläche sowie Mannschaften, die um den Ball oder den Puck kämpfen, zu drehen, haben die russischen Filmemacher gelernt, indem sie von Jahr zu Jahr die Meisterschaft durch eine neue „Legende“ („Legende Nr. 17“, russischer Spielfilm über den sowjetischen Eishockeyspieler Valerij Charlamow aus dem Jahr 2013 – Anmerkung der Redaktion) verfeinerten. Mit dem „Weltmeister“ stand von Anfang an eine kompliziertere Aufgabe. Die Autoren des Films versuchten, sich auf den dramatischen Background des schicksalsschweren Matches zu konzentrieren, auf den historischen Kontext und den politischen Hintergrund des gesamten Geschehens. Dem laienhaften Zuschauer wird es wohl kaum gelingen, sich in den eigentlichen Partien (die von beiden Schachspielern offenkundig virtuos gespielt wurden), in den Feinheiten und der Finesse des Spielprozesses zurechtzufinden. In den Buchstaben, Ziffern, mitunter verbotenen Sticheleien als ein Echo eben jenes Trubels rund um das Match. Die Action erfolgt in der Abfolge der Bilder, die die Gedanken der Großmeister visualisiert, wobei sie (die Gedanken) in chaotische grafische Darstellungen, in Kampfszenen, in denen sich „Springer, Menschen und Läufer vermischten“, und andere malerische grafische Bilder verwandelt werden. Die unsichtbare gemalte Welt kontrastiert meistens zu dem statischen Bild mit dem Schachbrett in der Mitte, in dem mitunter ein rasantes und manchmal ein langsames Spiel der Hände, Augen und Hirne erfolgt, wo größtenteils der Körper spricht und ein verbotenes Flüstern lediglich in den Minuten größter Anspannung hervorbricht.

Den schwerfälligen und plumpen Koloss des neuen großen Kinos setzt beinahe im Alleingang Iwan Jankowskij auf seinen zerbrechlichen Schultern in Bewegung. Ja, dies ist wahrhaft der Schachzug eines Königs. Gerade in dem Streifen „Der Weltmeister“ wird, was erstaunlich ist, seine feine künstlerische Natur offensichtlich. Sein Held spielt Schach und kämpft ausschließlich gegen sich selbst, wobei er sich in einen Übermenschen verwandelt, in einen Superhelden, wenn man den Film, in dem keinen geringen Anteil nicht von ungefähr Fußball- und Basketball-Aufnahmen sowie Szenen mit Fans, die an Radiogeräten klebten, ausmachen, als einen Teil des russischen superheroischen Kino-Universums darstellt.