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Schließung von Medien in Russland – auch ohne Gerichtsbeschluss künftig kein Problem


Die Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) hat in erster Lesung – mit der Empfehlung, Änderungen vorzunehmen – eine Gesetzesvorlage angenommen, die erlaubt, unter anderem einem Massenmedium die Lizenz auf Beschluss der Generalstaatsanwaltschaft – ohne einen Gerichtsbeschluss – zu entziehen. Dies kann erfolgen, wenn ein Massenmedium „unter dem Anschein glaubwürdiger Angaben“ „unglaubwürdige gesellschaftlich bedeutsame Informationen“, die das Leben, die Gesundheit und die Sicherheit der Bürger bedrohen, verbreitet. Man wird sich nicht gegen einen Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation im Interesse des Schutzes der Interessen des Landes und seiner Bürger sowie der Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit aussprechen dürfen. Dies bedeutet unter anderem, dass jegliche Kritik an der sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine die Existenz des jeweiligen Massenmediums in Gefahr bringt.

Die Medien können gleichfalls aufgrund einer „Verbreitung von Informationen, die in einer unanständigen Form, die die menschliche Würde und die öffentliche Moral beleidigt, eine offenkundige Missachtung gegenüber der Gesellschaft, dem Staat, offiziellen staatlichen Symbolen der Russischen Föderation, der Verfassung der Russischen Föderation und den Organen, die die Staatsmacht in der Russischen Föderation vornehmen, zum Ausdruck bringen“, zu Schaden kommen. Das gleiche betrifft auch die Informationen, die Aufrufe zu nichtsanktionierten Aktionen oder zur Verhängung von Sanktionen gegen Bürger Russlands beinhalten.

Alles oben Aufgezählte verschafft den bevollmächtigten Organen gewaltigen Raum für eine Interpretation und für Handlungen. Es macht Sinn, noch einmal zu unterstreichen: Gemäß dem Gesetzentwurf ist es durchaus hinreichend, dass einen Verstoß der Generalstaatsanwalt oder seine Gehilfen bemerken. Vorgesehen sind weder ein Gerichtsprozess noch eine öffentliche Diskussion. Das entsprechende exekutive Machtorgan wird unverzüglich dem entsprechenden Massenmedium die Lizenz entziehen. Auf dem Gerichtsweg kann diese Entscheidung angefochten werden, aber bereits nach der Schließung! Die russische Praxis – besonders in der gegenwärtigen nicht einfachen Zeit – zeigt, dass derartige Berufungen wenig Perspektiven besitzen.

Kritiker des Gesetzentwurfs schlagen vor, für die russischen Massenmedien ein Moratorium hinsichtlich einer Schließung zu verhängen. Das heißt, den Medien nicht die Lizenz zu entziehen, sondern die Tätigkeit bis zur Beseitigung der Verstöße auszusetzen. Die Autoren der Gesetzesvorlage und dessen Anhänger sind der Auffassung, dass es keine zeitlichen Aufschübe geben dürfe. Nach ihren Worten erfolge ein Informationskrieg, Fakes würden sich sehr rasch verbreiten. Daher müsse man die Medien, die Schuld auf sich geladen haben, unverzüglich mundtot machen. Der Abgeordnete Andrej Lugowoi (von der LDPR und laut einer Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes einer der Mörder von Alexander Litwinenko, der durch Polonium im November 2006 in London vergiftet wurde und ums Leben kam – Anmerkung der Redaktion) erklärte ganz und gar, dass die russischen Offiziellen mit dieser Maßnahme zu spät seien. Man hätte sie am 25. Februar einführen müssen.

Die Logik der Autoren der Gesetzesvorlage ist eine durchaus konjunkturelle. Dies ist die Logik des Moments, einer besonderen Zeit. Was wird aber sein, wenn diese Zeit vorbei sein wird? Die Generalstaatsanwaltschaft soll gemäß solch einem Gesetz unbefristete Sondervollmachten erhalten. Sie werden nicht durch den Zeitraum der bereits den 93. Tag andauernden Sonderoperation oder der mit Sanktionen einhergehenden Konfrontation eingeschränkt. Dies bedeutet, dass in Russland einfach neue Normen für ein Zusammenwirken des Staates und der Massenmedien verabschiedet werden. Medien können durch die Entscheidung eines konkreten Organs oder gar einer konkreten Person, die in ein hohes Amt gehievt wurde, geschlossen werden. Die Autoren des Gesetzentwurfs sind sich dessen gewiss, dass dies absolut legitim sei. Könne sich etwa ein Generalstaatsanwalt irren?

Geschaffen wird ein gefährlicher Präzedenzfall für andere gesellschaftliche Institute und einfach die Bürger. Dies ist ein einzelner, aber leicht in anderen Bereichen anwendbarer Fall der Suspendierung der Gerichte als eine wichtige Instanz. Eine Organisation wird als schuldig anerkannt, nicht weil dies so eine legitime Prozedur bestimmte, sondern weil so einer der Beteiligten eines normalen Gerichtsprozesses entschieden hat. Es entsteht auch ein Ungleichgewicht in der eigentlichen Machtstruktur. Eines der Organe bekommt besondere Vollmachten – zu Lasten anderer.

Die „besondere Zeit“ stellt den Schutz vor Desinformationen über das Recht des Bürgers auf Informationen. Aber vom Wesen her wird im Land simpel der Gesellschaftsvertrag revidiert, werden Rechte und Freiheiten revidiert. Die Ergebnisse der Revision werden rasch gesetzgeberisch verankert. Dabei ist der Konflikt mit dem Westen allem nach zu urteilen ein langer. Bei relativ normalen Beziehungen wurde zumindest der Anschein eines Gleichgewichts der Institute gewahrt. Jetzt aber ist die Notwendigkeit hinsichtlich solch eines „demokratischen Schaufensters“ verschwunden. Und die russischen Herrschenden werden in ihren Entscheidungen bereits durch keinerlei internationale Normen eingeschränkt.