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Schon kein Westen, aber auch noch kein Osten


Der britische Historiker Arnold Toynbee (1889-1975) bezeichnete Russland als „Teil der gesamten weltweiten nichtwestlichen Mehrheit der Menschheit“. Er betonte, dass die Russen Christen seien, aber nicht zum westlichen Christentum gehören würden, nachdem sie nicht in Rom, wie beispielsweise die Engländer, sondern in Konstantinopel die Taufe erfahren hätten. Allerdings haben die gemeinsamen christlichen Wurzeln nie die Vertreter der westlichen und der östlichen Richtungen dieses einen Glaubens daran gehindert, füreinander eine Antipathie zu empfinden. Mehr noch, wie Toynbee schrieb, „im Ergebnis des tatarischen Jochs hat die Rus Verluste erlitt. Letzten Endes nicht so sehr durch die Tataren als vielmehr durch die westlichen Nachbarn, die es sich nicht entgehen ließen, die Schwächung der Rus auszunutzen, um von ihr westliche russische Gebiet in Weißrussland und in der Ukraine abzuschneiden und der westchristlichen Welt anzugliedern. Erst 1945 gelang es Russland, sich jene riesigen Territorien zurückzuholen, die die westlichen Staaten im 13. und 14. Jahrhundert von ihm weggenommen hatten. Nach Meinung von Toynbee, des größten Spezialisten auf dem Gebiet der Theorie der Zivilisationsentwicklung und von Zivilisationskonflikten, „hatte sich in den letzten Jahrhunderten die Bedrohung für Russland seitens des Westens, die ab dem 13. Jahrhundert zu einer chronischen geworden war, nur mit der Entwicklung der technischen Revolution im Westen verstärkt“.

Ein vollkommenes Eintauchen in die Standards, Praktiken und Institute des Westens wird von den russischen Liberalen als eine endgültige Wohltat angesehen, von den russischen Konservativen – als eine grundlegende zivilisatorische Bedrohung für das eigentliche Bestehen Russlands.

Die wirtschaftliche Globalisierung, die Ende der 80er Jahre in der Welt begonnen hatte, sah eine Aufhebung der Zollbarrieren auf dem Weg der Bewegungen von Kapital, Waren und Arbeitskräften, eine Unterordnung unter die Normen und Regeln übernationaler internationaler Organisationen vor. Russland begann, sich in die Globalisierung über seine Glieder der globalen Wertschöpfungsketten einzutakten. Diese Glieder hatten sich hauptsächlich durch die russischen Rohstoffe aller Typen bei Missachtung der Glieder, die einen größeren Mehrwert schaffen, herausgebildet.

Die Umverteilung der Einnahmen aus dem Export von Rohstoffen über einen entsprechenden Haushaltsmechanismus erlaubte dem Staat Putins, die Machtkonzentration und -zentralisation zu verstärken. Der uneingeschränkte Zugang zu den für Russlands Maßstäbe praktisch unbegrenzten Ressourcen veranlasste die Offiziellen zu einer Revision aller liberalen Verfassungsnormen bezüglich der Demokratie, des Wettbewerbs und der Ablös- bzw. Absetzbarkeit der Herrschenden. In den Führungsriegen verstärkten sich die Tendenzen zu einer Exklusivität und nicht zu einem inklusiven Charakter.

Anders gesagt: Es begann, sich ein Konflikt mit dem Westen zum Thema der politischen Werte herauszubilden. Begonnen wurde, von einem eurasischen Wesen Russland zu sprechen. Recht bald stellte sich heraus, dass in den asiatischen Erfahrungen unseren Konservativen am meisten das asiatische Wesen nahe ist. Seine hauptsächlichen Wesenszüge bestehen in der Organisierung des gesellschaftlichen und Staatsaufbaus – eine Nichtabsetzbarkeit der Herrschenden, das Fehlen einer Gewaltenteilung, Gesetzlosigkeit, Autoritarismus, eine Monopolisierung, eine übermäßige Rolle des Staates in der Wirtschaft, das Fehlen von Kritik, einer Freiheit im Schöpfertum, in der Kultur und Selbstdarstellung der Künstler.

Das im Land Geschehene löste Besorgnis bei den liberal und demokratisch eingestellten russischen Bürgern und jungen Menschen aus, die die reaktionären Tendenzen in der Innenpolitik ausschließlich durch das Prisma der eigenen Interessen und Ambitionen, Anschauungen und Vorstellungen betrachteten.

Derweil hat sich Wladimir Putin im Kreml sitzend auf eine Analyse der geopolitischen Herausforderungen und realen äußeren Bedrohungen, die vor Russland stehen, konzentriert. Die Schlüsselthesen seines Auftritts in den frühen Morgenstunden des 24. Februars haben keine Zweifel an seiner Bewertung solcher Bedrohungen und Gefahren gelassen: „Aber für unser Land ist dies letztlich eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Volk. Und dies ist keine Übertreibung. Dem ist auch so. Dies ist eine reale Bedrohung nicht bloß für unsere Interessen, sondern für die eigentliche Existenz unseres Staates, seiner Souveränität. Dies ist auch eben jene rote Linie, von der mehrfach gesprochen wurde. Sie haben sie übertreten. Der gesamte Verlauf der Entwicklung der Ereignisse und die Analyse der eingehenden Informationen belegen, dass ein Zusammenprallen Russlands mit diesen Kräften unumgehbar ist. Dies ist nur eine Frage der Zeit. Sie bereiten sich vor, sie warten auf eine passende Stunde. Jetzt erheben sie auch noch Anspruch auf den Besitz von Kernwaffen! Wir werden nicht erlauben, dies zu tun!“.

Russland hat sich in den vergangenen sechs Monaten endgültig als Nicht-Westen etabliert. Es ist aber nicht zu einem Osten geworden. Und wird es nicht bald. Da das Wichtigste im asiatischen Wirtschaftsmodell die Nutzung der Liquidität der westlichen Verbrauchermärkte und der Leistung der globalen Wertschöpfungsketten ist. Weder das eine noch das andere wird für Russland in den nächsten Jahren der Fall sein. Gerade darin liegen die Hauptrisiken für den erfolgreichen Charakter des neuen Putin-Kurses auf eine Loslösung Russlands vom Westen.

Zumindest ist heute nicht zu sehen, durch was es Russland gelingen wird, relativ schnell die kritisch wichtigen Elemente des Wirtschafts- und militärischen Potenzials wiederherzustellen. In der langen und kräftezehrenden Konfrontation mit dem Westen ist dies der Schlüssel zum Begreifen der Perspektiven.