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Schwere Tragödie ereilte Russland


Der Abend des gestrigen Freitags wird für Russland noch lange in Erinnerung bleiben, als ein Tag, an dem das Land erneut von einem schweren Terrorakt heimgesucht wurde. Und er wird noch viele Fragen aufwerfen.

Bereits nach 19 Uhr Ortszeit, kurz vor dem Beginn eines Konzerts der Gruppe „Picknick“ drangen mehrere bewaffnete Männer in die Konzerthalle „Crocus City Hall“ am Stadtrand von Moskau ein. Wahllos wurden Security-Kräfte und Konzertbesucher im Foyer erschossen, Sprengsätze wurden offensichtlich gezündet. Und es brach ein Brand in der Konzerthalle aus, die im Oktober 2009 mit einem Gastspiel des Orchesters von James Last aus Deutschland eingeweiht worden war. Überrascht wurden auch die zahllosen Konzertbesucher im Großen Saal mit 6.200 Sitzplätzen, die anfangs gar nicht begriffen hatten, was sich da im Parterre abspielt. Videoaufnahmen im Internet zeigten, wie brutal und kaltblütig die Täter handelten. Bei Redaktionsschluss für den vorliegenden Beitrag lag die Anzahl der Toten bei 133 Menschen, wie das Untersuchungskomitee Russlands meldete. Nicht alle wurden erschossen, sondern starben u. a. aufgrund der massiven Rauchentwicklung beim ausgebrochenen Brand. Fotos zeigen, dass ein Teil der Deckenkonstruktion des Saals (er galt von der Akustik her als einer der besten in der russischen Hauptstadt) einbrach, so dass eventuell unter den Trümmern noch Opfern sein können. Die Krankenhäuser Moskaus und des umliegenden Gebietes nahmen über 100 Verletzte auf, von denen einige sich in einem extrem schweren Zustand befinden.

Rettungskräfte, Feuerwehrleute sowie Polizei und andere Sicherheitsorgane handelten schnell, waren nach nur kurzer Zeit am Ort des Geschehens, der unmittelbar an der Ringautobahn der russischen Hauptstadt liegt. Die Version von einem Terrorakt wurde als eine erste formuliert und bestätigte sich bald. Am Samstag wurden vier Ausführende des Verbrechens im russischen Fernsehen vorgeführt. Gemeldet wurde gleichfalls, dass insgesamt elf Personen in Haft genommen wurden – nicht nur die unmittelbaren Todesschützen, sondern auch deren Komplizen.

Russland zeigte sich bereits am Freitagabend schwer geschockt. Wach wurden Erinnerungen an den Terrorakt im Moskauer Musical-Theater „Nordost“ vom Oktober 2002 (mit offiziell 130 Toten) und an die Tragödie von Beslan, als im Jahr 2004 tschetschenische Terroristen zu Beginn des neuen Unterrichtsjahres die dortige Schule Nr. 1 besetzten. Damals waren 333 Menschen, darunter 186 Kinder ums Leben gekommen. Am Samstag wurden Blumen unweit der „Crocus City Hall“ niedergelegt, Apotheken der Kette „Stolitschki“ hatten in den Schaufenster LED-Bilder mit einer brennenden Kerze und den Worten „Wir trauern. 22.03.2024“. Und am Nachmittag erklärte Präsident Putin den 24. März zum nationalen Trauertag.

Natürlich kommen nach dieser beispiellosen Tragödie viele Fragen auf, für die es bisher nur wenige Antworten gibt. Das russische Staatsoberhaupt betonte beispielsweise in seiner Ansprache, dass alle Täter und Hintermänner ermittelt und ihre gerechte Strafe erhalten würden. Die Spuren des Verbrechens führen in die Ukraine, wurde aus den Worten des 71jährigen deutlich. Beobachter spekulieren daher, dass die kommenden russischen Schläge mehr als nur eine Vergeltung sein werden. Möglicherweise werden im Westen auch Politiker ihre Haltung zum Ukraine-Konflikt und zum Präsidenten Wladimir Selenskij sowie dessen Umfeld ändern, sollten die russischen Informationen über Kiew als Auftraggeber des Terroraktes vom Freitag so überzeugend sein, dass man sie nicht mehr von der Hand weisen kann.

Andere Fragen betreffen die Arbeit der Security-Mitarbeiter in der Konzerthalle. Generell hat sich in Russland ein wahres Heer von Wachbeamten herausgebildet, deren Tätigkeit selbst im Wirtschaftsministerium als eine wenig effektive angesehen wird. In diesem Zusammenhang war aus der Nationalgarde Russlands zu erfahren (sie ist vor allem für eine Lizensierung der Arbeit von Wachunternehmen zuständig), dass möglicherweise die staatliche Kontrolle dieser Tätigkeit revidiert wird. Hinter der Hand hieß es dabei, dass es im Moskauer Verwaltungsgebiet diesbezüglich manche Schwachstellen gebe. Videos vom Freitag zeigen im Übrigen, dass am Einlass offensichtlich nicht sehr viele Security-Kräfte im Einsatz gewesen waren. Und überdies ohne Spezialmittel.

Am 7. März hatte die US-Botschaft in Moskau vor möglichen Terrorakten in Russland rund um die Präsidentschaftswahlen gewarnt und die Landsleute aufgefordert, entweder das Land zu verlassen oder noch mehr Vorsicht walten zu lassen. Kritiker in Moskau, die diese Warnung zum Anlass für Nachfragen nach den Gründen nutzten, fragen sich heute, ob da nicht auch die schreckliche Tragödie am Stadtrand von Moskau gemeint war. Ob es einen Austausch von Informationen diesbezüglich zwischen Moskau und Washington gegeben hat, ist nicht zu erfahren, da solche Angaben nicht publik gemacht werden.

Last but not least bleibt noch eine wichtige Frage: Welche Konsequenzen hat der Terrorakt vom Freitag für das weitere Leben der Bürger Russlands? Müssen sie mit noch mehr Sicherheitskontrollen rechnen, werden Massenveranstaltungen als mögliche Anschlagsobjekte zu einer Seltenheit? Heute vermag keiner eine eindeutige Antwort darauf zu geben. Obgleich landesweit am Samstag und Sonntag alle Massenveranstaltungen abgesagt wurden, Museen und Theater bleiben geschlossen…

Russlands Staatsoberhaupt Wladimir Putin ließ sich Zeit, um auf den Terrorakt zu reagieren. Aber seine Ansprache an das Volk am Samstagnachmittag machte deutlich: Er selbst will unbeugsam bleiben, setzt auf die Geschlossenheit des Volkes (zumal er mit seinem Rekordwahlergebnis von 87,28 Prozent aller abgegebenen Stimmen ein mächtiges Vertrauensvotum erhielt) und weiß um die Unterstützung seitens der Bürger: Alle wollen eine Bestrafung der Täter. Die Redaktion „NG Deutschland“ veröffentlicht im Nachfolgenden eine Übersetzung der Ansprache des Kremlchefs:

„Sehr geehrte Bürger Russlands!

Ich wende mich an Sie im Zusammenhang mit dem blutigen, barbarischen Terrorakt, zu dessen Opfern Dutzende friedliche, völlig unschuldige Menschen wurden – unsere Landsleute, darunter Kinder, Minderjährige und Frauen. Um das Leben der Betroffenen, jener, die sich in einem schweren Zustand befinden, kämpfen gegenwärtig Ärzte. Ich bin sicher: Sie werden alles Mögliche und sogar Unmögliche für die Bewahrung des Lebens und der Gesundheit aller Verletzten tun. Besondere Dankesworte den Besatzungen der SMH und der Sanitätsflugzeuge, den Kämpfern der Spezialeinheiten, den Feuerwehrleuten und den Rettungskräften, die alles getan haben, um das Leben der Menschen zu bewahren, sie aus der Feuerlinie zu holen, aus dem Epizentrum des Brandes und der Rauchbildung und um noch größere Verluste zu vermeiden.

Ich kann die Hilfe der einfachen Bürger nicht unbeachtet lassen, die in den ersten Minuten nach der Tragödie keine gleichgültigen und unbeteiligten geblieben waren und neben den Ärzten und Mitarbeitern der Sonderdienste erste Hilfe gewährten, Verletzte in Krankenhäuser brachten.

Die erforderliche Hilfe werden wir allen Familien gewähren, in deren Leben ein schlimmes Unglück gekommen ist, sowie den Verwundeten und Betroffenen. Ich bekunde allen, die ihre Verwandten und Nächsten verloren haben, tiefes, aufrichtiges Beileid. Zusammen mit Ihnen trauert das ganze Land, unser ganzes Volk. Ich erkläre den 24. März zum gesamtnationalen Trauertag.

In Moskau und im Moskauer Gebiet, in allen Regionen des Landes sind zusätzliche antiterroristische und gegen Diversionsakte gerichtete Maßnahmen eingeführt worden. Das Wichtigste ist jetzt, denjenigen nicht zu erlauben, die hinter diesem Blutbad stehen, ein neues Verbrechen zu verüben.

Was die Untersuchung dieses Verbrechens und die Ergebnisse der operativen Fahndungsmaßnahmen angeht, kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt Folgendes sagen: Alle vier unmittelbaren Vollstrecker des Terroraktes, all jene, die geschossen und Menschen umbrachten, sind gefunden und festgenommen worden. Sie versuchten zu entkommen und bewegten sich in Richtung Ukraine, wo für sie laut vorläufigen Angaben von der ukrainischen Seite her ein Fenster für das Überschreiten der Staatsgrenze vorbereitet worden war. Insgesamt sind elf Personen festgenommen. Der Föderale Sicherheitsdienst Russlands und die anderen Rechtsschutzorgane arbeiten an der Ermittlung und dem Aufdecken der gesamten Basis von Komplizen der Terroristen, jener, die sie mit Transportmitteln versorgt, Rückzugswege vom Ort des Verbrechens geplant sowie Verstecke und geheime Orte mit Waffen und Munition vorbereitet hatten.

Ich wiederhole: Die Untersuchungs- und Rechtsschutzbehörden werden alles tun, um alle Details des Verbrechens festzustellen. Es ist aber schon offensichtlich, dass wir nicht einfach mit einem sorgfältig, einem zynisch geplanten Terrorakt konfrontiert wurden, sondern mit einem vorbereiteten und organisierten Massenmord an friedlichen, schutzlosen Menschen. Die Verbrecher waren kaltblütig und zielgerichtet gekommen, um gerade unsere Bürger, unsere Kinder zu töten, direkt zu erschießen. Wie einst die Nazis, die auf den okkupierten Territorien Massaker verübt hatten. Sie hatten sich ausgedacht, eine demonstrative Hinrichtung, eine blutige Einschüchterungsaktion durchzuführen.

Alle Ausführenden, Organisatoren und Auftraggeber dieses Verbrechens werden eine gerechte und unausweichliche Bestrafung erfahren. Wer immer sie auch gewesen sein mögen, wer immer sie auch geschickt hatte. Ich wiederhole: Wir werden jeden ermitteln und bestrafen, der hinter dem Rücken der Terroristen steht, der diese Missetat, diesen Schlag gegen Russland, gegen unser Volk vorbereitete.

Wir wissen, was die Bedrohung des Terrorismus ist. Wir rechnen hier mit einem Zusammenwirken mit allen Staaten, die aufrichtig unseren Schmerz teilen und tatsächlich bereit sind, real die Anstrengungen zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind, gegen den internationalen Terrorismus und gegen all seine Erscheinungen zu vereinen.

Die Terroristen, die Mörder, die Unmenschen, die keine Nationalität haben und haben können, erwartet ein nicht zu beneidendes Schicksal – Vergeltung und Vergessen. Sie haben keine Zukunft. Es ist jetzt unsere gemeinsame Pflicht, die unserer Kampfkameraden an der Front, aller Bürger des Landes, zusammen geeint zu sein. Ich glaube, dass dem auch so sein wird, denn keiner und nichts kann unsere Geschlossenheit und unseren Willen, unsere Entschlossenheit und den Mut, die Stärke des geeinten Volkes von Russland erschüttern. Keinem wird es gelingen, giftige Samen einer Zwietracht, Panik und Uneinigkeit in unsere multinationale Gesellschaft zu säen.

Russland hat mehrfach überaus schwere, mitunter unerträgliche Prüfungen durchlaufen. Es ist aber noch stärker geworden. So wird es auch jetzt sein.“