Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Selenskij erringt die Wählersympathien zurück


Im Frühjahr haben sich die Stimmungen der ukrainischen Wähler im Vergleich zu den Winter-Zahlen etwas verändert. Soziologen konstatieren in erster Linie eine Verstärkung der Positionen von Präsident Wladimir Selenskij und der regierenden Partei „Diener des Volkes“. Drei Jahre vor den turnusmäßigen Präsidentschaftswahlen streitet man sich in Kiew: Können die gegenwärtigen Herrschenden ihren Erfolg nach dem Vorbild von 2019 wiederholen?

Die meisten Ukrainer äußern wie auch früher Unmut über die Situation im Land. Laut Angaben einer jüngsten Umfrage, die durch das Rasumkow-Zentrum durchgeführt wurde, sind nur 23 Prozent der Bürger der Auffassung, dass sich die Ereignisse in der Ukraine in der richtigen Richtung entwickeln würden, 61 Prozent aber – in einer falschen Richtung. Experten betonten, dass im Winter diese Werte noch schlechter gewesen wären: 66 Prozent hat von einem falschen Kurs gesprochen. Und 18 Prozent hatten die Meinung vertreten, dass alles in Ordnung sei. Der Wirtschaftsexperte Alexander Gontscharow, den das Medium „Strana“ („Das Land“) zitiert, hat diese Stimmungen teilweise erklärt. Er schrieb, dass die westlichen Partner von den ukrainischen Offiziellen fordern würden, Reformen durchzuführen, die erlauben würden, die Korruption zu vernichten. Die Forderungen seien aber „an korrupte Bürokraten und die politische Elite gerichtet“, die nicht schlecht in der heutigen Ukraine leben würden. „Während wir über die neue Runde der Inflation und die Devisen-„Schaukeln“ (Änderungen der Devisenkurse – „NG“), Subventionen und das gewaltige Defizit des Rentenfonds Überlegungen anstellen, haben die 100 reichsten Ukrainer im vergangenen Jahr 2020 ihr Vermögen um 42 Prozent bis auf 44,5 Milliarden Dollar vergrößert. Und in der gleichen Zeit haben 18,7 Millionen oder mehr als die Hälfte der Ukrainer unter der Armutsgrenze gelebt“, erläuterte er. (Tatsächlich lag die Bevölkerungszahl mit Stand vom vergangenen Jahr bei 41,45 Millionen Menschen, so dass A. Gontscharow seine Leser täuscht – Anmerkung der Redaktion).

Als die Ukrainer im Jahr 2019 für den Kandidaten ohne irgendwelche politischen Erfahrungen votierten, hätten sie auf ein Wunder gehofft, sagen Experten. Jetzt schauen sowohl die Wähler als auch der von ihnen gewählte Präsident Selenskij realistischer auf die Situation. Der Politologe Wladimir Fesenko betonte in einem Blog auf der Internetseite „Ukrainskaja Prawda“, dass im Land das Bedürfnis nach einer Erneuerung der Macht weiterhin bestehe. „Viele unserer Mitbürger wollen nach wie vor ein „neues Gesicht“, aber ein bereits erfahreneres und kompetenteres… Sie wollen genau solch einen nicht aus der Elite, einen gegen das System auftretenden Kandidaten (der Selenskij im Jahr 2019 war – „NG“), aber hinsichtlich der politischen und Staatsführung erfahreneren“. Außerdem wolle nach Aussagen des Politologen die Gesellschaft einen gemäßigten und zentristischen Kandidaten sehen – nicht mit prorussischen, aber auch nicht mit ausgeprägten nationalistischen Anschauungen. Schließlich würden beide Extremen dem Land mit einer Spaltung und einem Konflikt drohen. Fesenko ist der Auffassung, dass die Ironie der Situation darin bestehen würde, dass Selenskij selbst in drei Jahren allen Anforderungen der meisten Wähler entsprechen werde. „Bis zum Jahr 2024 wird er Erfahrungen sammeln“. Während im Jahr 2019 bei der Stichwahl jene für ihn gestimmt hatten, die keinen Sieg von Petro Poroschenko gewollt hatten, so werden sie bei den kommenden Wahlen Selenskij als einen gestandenen Politiker unterstützen.

Im Winter, als die Ratings der Oppositionskräfte in die Höhe gingen, hatten viele Experten in Kiew noch von einem Ende der politischen Karriere der neuen Offiziellen gesprochen. Jetzt aber hat sich die Situation erneut verändert. Wenn Ende April dieses Jahres Präsidentschaftswahlen stattgefunden hätten, hätte Selenskij im ersten Wahlgang laut Angaben des Rasumkow-Zentrums 20 Prozent aller Stimmen erhalten (unter jenen, die bestimmt an den Wahlen teilgenommen hätten und sich hinsichtlich der Entscheidung festgelegt haben – 28 Prozent), der Chef der Partei „Europäische Solidarität“ Petro Poroschenko – 12,5 bzw. 18 Prozent, Jurij Boiko, einer der Anführer der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ – 11 bzw. 14,5 Prozent, „Batkiwstschina“-Chefin Julia Timoschenko – 8 bzw. 10,5 Prozent. Beim zweiten Urnengang hätte Selenskij sowohl Poroschenko (mit 60,5 Prozent gegen 39,5 Prozent) als auch Boiko (mit 71 Prozent gegen 29 Prozent) besiegt.

Diese gleiche Umfrage hat gezeigt, dass die sich auf den Präsidenten orientierende Partei „Diener des Volkes“ ihre Positionen im Vergleich zu den Winterwerten verbesserte. Wenn jetzt Parlamentswahlen stattfinden würden, würde die regierende Partei 19 Prozent aller Wähler bekommen (oder 28 Prozent jener, die bestimmt an den Wahlen teilnehmen würden und sich hinsichtlich der Entscheidung festgelegt haben), die Partei „Europäische Solidarität“ Poroschenkos – 12 bzw. 18 Prozent, die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ – 11 bzw. 15 Prozent und die Partei „Batkiwstschina“ – 8 bzw. 11 Prozent. In die Werchowna Rada könnte auch die Partei „Kraft und Ehre“ des Ex-Chefs des Sicherheitsdienstes der Ukraine Igor Smeschko (4 bzw. 6 Prozent) einziehen.

Die Daten seiner Mitte Frühling vorgenommenen Befragung veröffentlichte auch das Kiewer Internationale Institut für Soziologie. Laut diesen Ergebnissen würde die Partei „Diener des Volkes“, wenn jetzt Parlamentswahlen stattfinden würden, 14,5 Prozent der Stimmen aller oder 21,3 Prozent der Wähler, die sich bereits festgelegt haben, erhalten. „Europäische Solidarität“ – 12 bzw. 17,7 Prozent, „Oppositionsplattform – Für das Leben“ – 8,3 bzw. 12,2 Prozent, „Batkiwstschina“ – 7 bzw. 10,2 Prozent, „Kraft und Ehre“ – 5,2 bzw. 7,6 Prozent. Die anderen politischen Kräfte würden die 5-Prozent-Sperrklausel jetzt nicht überwinden.

Das Kiewer Internationale Institut für Soziologie lenkte im Report zu den Untersuchungsergebnissen die Aufmerksamkeit darauf, dass im Vergleich zum Februar die Unterstützung für die regierende Partei „Diener des Volkes“ um 5,8 Prozent (unter jenen, die abstimmen wollen und sich mit der Wahl entschieden haben) zugenommen habe. Die Werte für die Poroschenko-Partei haben sich nicht verändert. Und die Unterstützung für die Parteien „Oppositionsplattform – Für das Leben“ und „Batkiwstschina“ hat sich um 4,6 bzw. 3 Prozent verringert. Der stellvertretende Institutsdirektor Anton Gruschezkij vermutete bei der Kommentierung der Umfrageergebnisse, dass die Verstärkung der Positionen der Regierungspartei damit zusammenhänge, dass „Diener des Volkes“ eine aktive Position eingenommen hätte. Und das Präsidententeam insgesamt demonstriere Entschlossenheit. Es gehe dabei insbesondere um eine Reihe von Entscheidungen, die durch den Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung getroffen wurden, dessen Chef der Präsident der Ukraine ist. „Das Nachlassen der Unterstützung für die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ kann sowohl eine Folge des Verbots der Ausstrahlung einzelner TV-Kanäle (Beschluss des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung über Sanktionen gegen den Besitzer der Fernsehkanäle „112“, „NewsOne“ und „ZIK“ – „NG“), als auch eine Folge der jüngsten Eskalation der Situation an der Grenze zur Ukraine durch Russland sein“, betonte er. Der Experte räumte gleichfalls ein, dass viele Anhänger jener politischen Kräfte, die in der Ukraine für prorussische gehalten werden, im Verlauf der Befragungen begonnen hätten, ihre Anschauungen zu verheimlichen, sie aber bei den Wahlen demonstrieren würden.

Der Politologe Wladimir Fesenko betonte, dass nur ein unerheblicher Teil jener, die für Selenskij gestimmten hatten, auf die Seite der Oppositionsparteien gewechselt seien.